Sommer 2019 in Nepal…
…am Abend. Ich sitze hier, in meinem schattigen Zimmer, inmitten des Vogelgetzwitschers. Die Chalets des Homestays grenzen an die ausgedehnten Reisfelder und die grünen Ausläufer des Dschungels. Es ist so heiß, dass das Wasser in dicken, schweren Tropfen von meinem Gesicht perlt. Der Ventilator an der Decke und die Stromzufuhr, die jedoch mehrmals am Tag unterbrochen wird, erweisen sich als Segen.
Vor meinem Fenster plantschen Enten in einer Wasserpfütze. Blühende Bäume draußen im Garten, die ich durch die Streben des Holzgitters draußen am Fenster sehen kann. Der heutige Dschungelwalk hat uns einiges abverlangt.
Doch spulen wir die Zeitkassette zurück, zurück zum frühen Morgen.
Am frühem Morgen…
Es klopft an meiner Tür.
„Ma-am! Ma-am, das Frühstück ist fertig!“ Nicht, dass ich nicht schon längst wach wäre. Tatsächlich werde ich ob des hartnäckigen Klopfens beim Duschen unterbrochen. Der Guide, der vor der verschlossenen Tür steht, möchte auf Nummer sicher gehen, dass wir ja pünktlich losfahren, denn die heutigen Aktivitäten sind einem Zeitplan unterworfen. Keinem allzu strengem, doch für einen Trip in den tropischen Dschungel sind die frühen Morgenstunden die willkommene Zeit, wenn noch die Tiger aktiv sind und durchs Gebüsch schleichen und sich Gaviale und Alligatoren am sandigem Ufer des Rapti Rivers sonnen.
Ich fühle die Müdigkeit in mir hochkriechen. Fast bin ich versucht, das Frühstück ausfallen zu lassen, doch ich bin fast sicher, dass ich damit nicht durchkommen würde. Es würden noch zig höfliche Anfragen folgen, wo ich doch so kurz nach dem Aufstehen einfach nur meine Ruhe möchte. Ich glaube, der Schlaf in der vergangenen Nacht war eindeutig zu kurz.
Am Frühstückstisch begegnet mir wieder der Vater mit seinen lustlosen Teenagern. Überall am Tisch wimmelt es nur so von winzig kleinen Ameisen, kaum mit dem bloßen Auge zu erkennen, doch ihre Bisse brennen wie Feuer und ihre kleinen Kiefer klammern sich wie Bürotacker in die Haut, wenn sie dich doch einmal erwischen. Denn eigentlich wollen sie nur mein Rührei. Und egal, wie oft ich mit der Hand über den Tisch wische, sie sind nach kurzer Zeit wieder da.
Der Vater der beiden Jungs versucht, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich komme meiner sozialen Verpflichtung nach und beantworte brav all seine Fragen. Es ist noch immer früh am morgen.
Pünktlich um acht starten wir los. Draußen wartet ein Jeep auf uns, der uns zu einem versteckten Ableger des Rapti Rivers bringt. Die Jeepfahrt ist der erste, abenteuerliche Part des Tages. Wir werden auf die Ladefläche des Gefährts verfrachtet, wo wir uns jeweils ein Plätzchen suchen. Auf einem Schemel, auf dem abgelegten Reifen oder angelehnt an die metallene Wand. So jagen wir fröhlich die holprige Straße dahin.
Kanufahrt auf dem Rapti River
Büffel waten im flachen Wasser. Alte Männer mit großen Lasten auf ihrem Rücken kreuzen den holprigen Feldweg. Die Lasten sind mit einem Striemen an ihrer Stirn befestigt. Dieses Bild ist häufig in Nepal zu sehen. Alte Frauen, junge Frauen – sie sitzen vor ihren Häusern, sehen uns hinterher und lächeln. Ich winke. Sie winken zurück. Kinder rennen die Straße entlang. Hunde rennen die Straße entlang. Und wir hüpfen fröhlich im Takt der Fahrt hinten auf der Ladefläche des Jeeps herum. Auf die Möglichkeit, vorne in der Kabine beim Fahrer zu sitzen, verzichte ich, denn was gibt es Schöneres als während der Fahrt draußen zu sein, den Wind im Haar und Sonne im Nacken.
Ich binde mir mein großes Tuch um Kopf und Nacken, welches ich aus Jordanien mitgebracht habe, und hoffe, es hält die meisten Strahlen ab. Kurze Zeit später erreichen wir die schattige Bootsanlegestelle. Von weitem sehe ich Reitelefanten mit ihrem hohem Sattel, die Touristen in die Tiefen des Dschungels bringen.
Von hier aus geht es mit dem Kanu weiter, ein Stück den Strom hinauf, tiefer in den Dschungel des Nationalparks. Im langen, großen Kanu ist es eng, doch es ist stabil und bietet Platz für mehrere Personen. Umständlich nehmen die Besucher ihre Plätze hintereinander ein. Ich wickle mir mein großes Tuch wie einen Turban auf dem Kopf, denn bereits jetzt brennt die Sonne unbarmherzig nieder. Wir sind nun eine etwas größere Gruppe von Touristen, es sind indische, aber vor allem chinesische Besucher dabei.
Sanft zieht das Kanu über der Oberfläche des trübbraunen Flusses. Das Wasser ist schlammig und es ist unmöglich, in die Tiefe zu sehen und irrsinniger Weise stellt sich bei mir die Vorstellung ein, wie ein Krokodil in einem Hechtsprung in die Luft direkt in unserem Boot landet. „Niemals die Hände ins Wasser lassen.“ Warnt uns mehrmals der Guide, während der Bootsführer mit bloßen Füßen das Gefährt ins Wasser schiebt und dann selber einsteigt.
Bei den Kanus handelt es sich um lange, hölzerne Nussschalen. Normalerweise sind sie leer, doch diesmal wurden für die Besucher der Reihe nach kleine, hölzerne Hocker aufgestellt. Das Kanu wird von nur einem, am hinteren Ende stehenden Mann mit einem langen Stock navigiert. Der Mann stemmt sich mit dem Stock vom schlammigen Grund ab und gibt so die Richtung vor. Der Fluss des trüben Wassers ist sehr langsam, es sind keine schnellen Strömungen zu befürchten. So kann diese Art der Steuerung funktionieren.
Einige Frauen haben ihre Regenschirme dabei, um die ich sie jetzt beneide. Sie schützen zuverlässig vor der brennenden Sonne. Es ist schwül und heiß und lautlos zieht unser Kanu dahin.
„Gibt Acht, hier gibt es sehr viele Krokodile.“ Warnt uns unser Guide. „Sie sind direkt unter der Wasseroberfläche, ihr könnt sie nicht sehen. Aber sie sind da und sie sehen euch. Streckt niemals die Hände aus dem Boot“ Arm dran, wer törichter Weise seine Fingerspitzen unbedacht über das Wasser gleiten lässt. Vielleicht umkreisen sie schon das Boot. Instinktiv ziehe ich meine Gliedmaßen näher an mich heran und schaue in das kühle Nass. Trüb, braun, sumpfig- ich kann darunter nichts entdecken, selbst wenn ich wollte. Aber die Krokodile sehen uns.
Hinter mir spekuliert jemand darüber, ob Krokodile eigentlich Boote angreifen.
Man hört kaum Gespräche, stattdessen wird mit Spannung das Wasser und die niedrigen Uferböschungen nach sich sonnenden Krokodilen abgesucht. Und sie sind da, liegen faul im Sand und sehen irreführend friedlich und gemütlich aus. Hin und wieder treibt eines der Tiere im Wasser an uns vorbei und, hätte man uns nicht darauf aufmerksam gemacht, hätten wir es auch für einen Baumstamm halten können.
Auch die seltenen Gaviale, die es nur in diesem Teil der Welt zu sehen gibt, bekommen wir zu Gesicht. Ein Gavial ist eine Art Krokodil mit einer sehr spitzen Schnauze. Die einzigen noch lebenden Vertreter ihrer Spezies sind die Gangesgaviale, und sie sind genau hier zu finden, an der Grenze von Nepal zu Indien. Ihre schmalen Schnauzen mit den vielen Zähnen sind perfekt an den Fischfang im sandigen Wasser angepasst.
Plötzlich kommt Aufregung ins Boot. Ein großes Krokodil zieht unbeteiligt in einiger Entfernung an unserem Boot vorbei. Die Kids in meinem Rücken erzählen sich Gruselgeschichten aus Filmen, die sie mal gesehen haben. Und obwohl der Blick des Krokodils so etwas aussagen will wie: ihr interessiert mich nicht im Geringsten, so weiß ich, dass wir genaustes beobachtet werden. Kameras werden gezückt. Und auch der schneeweiße Reiher an anderem Ufer muss sich vorsehen. Solch eine friedliche, gefahrengespickte Szenerie.
Rund vierzig Minuten dauert die Tour über dem Fluss. Langsam ziehen die Schilfgräser an uns vorbei. Kleine, blaue Eistaucher sind zu sehen – wie flinke blaue Blitze schießen sie ins Wasser und wieder heraus. Wir fahren mitten durch den Dschungel. Ab und an kommt uns ein anderes Kanu mit einem einheimischen Fahrer entgegen. Die Männer draußen auf den Feldern führen ihre Büffel ins Wasser zum Baden. Das dörfliche Leben plätschert hier nur so vor sich hin. Und heiß ist es, sehr heiß.
Die Elefantenzuchtstation
Wir halten an der Elefantenzuchtstation, der wir einen Besuch abstatten. Hier finden täglich Praktiken statt, die jedem Tierschützer wohl das nackte Grauen in die Augen treiben würden. Es werden unter anderem Elefantenritte in den Chitwan Nationalpark angeboten. Von weitem sehe ich die großen Tiere mit einem noch größeren Sitz besattelt, mit dem sie Safaritouristen in die Tiefen des Dschungels reiten. Wir betreten das kleine Aufenthaltsgebäude, wo Schautafeln alle Phasen der Elefantenzucht und -ausbildung erläutern. Erst einmal heißt es warten, zusammen mit weiteren Touristen, die vermutlich andere Aktivitäten gebucht haben. Ich nutze die Zeit, um meine Wasserflasche aufzufüllen, Hände und Gesicht zu waschen und mir einige der an den Wänden platzierten Infotafeln durchzulesen.
Eines muss man den Menschen hier lassen; es wird nichts verschwiegen und nichts beschönigt. Die Beschreibung der Elefantenausbildung liest sich nicht schön und nicht angenehm; wer auf einem Dickhäuter in den Dschungel reitet, kann später nicht behaupten, er sei nicht im Bilde gewesen, was mit den Tieren passiert.
Der Zwist zwischen Elefant und Mensch reicht in dieser Gegend weit zurück. Die Problematik mit den Elefanten ist folgende:
Für uns sind sie wunderschön, klug und schützenswert, doch für die Menschen vor Ort waren sie lange Zeit so etwas wie Ungetüme, die ihre Felder verwüsteten, ihre Ernte zertrampelten und die Bananen wegfrassen. Sie wurden von den Bauern verjagt oder getötet. Mit der Zeit hat der clevere Farmer jedoch gelernt, den Elefanten für die Feldarbeit zu nutzen.
Heute gibt es nur noch wenige hundert wilde Elefanten in Nepal, die nicht als Arbeitstiere genutzt werden. Sie sind sozusagen am aussterben.
Doch durch die offensichtliche Faszination der Touristen für die Tiere ergab sich schnell eine neue Art der Nutzbarkeit. Schnell begann man damit, die Elefanten im touristischen Segment, für Elefantenritte einzusetzen. Damit das möglich ist, müssen die Tiere folgsam und geduldig sein, denn immerhin handelt es sich um wilde, nicht domestizierte Tiere. Sie müssen gehorsam beherrschbar werden, damit sie nicht ausrasten und niemanden verletzen. Und dafür ist eine langjährige Ausbildung nötig, die mit viel Leid für die Tiere verbunden ist.
Die Elefanten, die ich in der Station sehe, werden an Ketten gehalten. Schon wenige Tage nach ihrer Geburt werden die Elefantenkälber von ihren Müttern weggenommen. Das Kalb wird ganz dicht an einen in die Erde gerahmten Pfahl gebunden, so dass es so gut wie keine Bewegungsfreiheit mehr hat. Laut den Aufnahmen, die die Infotafeln ergänzen, befindet sich der Kopf des Elefanten zunächst direkt am Pfahl. Im Verlauf der folgenden Tage wird die Schnur nach und nach gelockert, jeden Tag ein bisschen mehr. Gleichzeitig lernt das Kalb, Befehlen zu folgen und auf die Kommandos seines Trainers zu hören. Auch Nahrungs- und Wasserentzug wird als verstärkende Maßnahme eingesetzt.
Natürlich können sich Menschen für das Elefantenreiten entscheiden. Doch es muss ihnen klar sein, was im Vorfeld alles nötig ist, um ein solches Tier dazu zu bringen, einen Menschen auf seinen Rücken zu lassen. Mit gutem Zureden ist es nicht getan, auch nicht bei den Kälbern. So naiv sind wir doch nicht.
Und: wer sind wir schon, um zu urteilen. Die Menschen hier haben ganz andere Sorgen in ihrem Alltag, die sie bewältigen müssen und die Arbeit mit Elefanten ist etwas, das in diesem Teil Nepals schon seit langem Tradition hat. Da steht das Tierwohl hintenan. Die Tiere werden nicht gezielt gequält, ganz im Gegenteil werden die Elefanten, wenn sie erstmal ausgebildet sind, sorgsam behandelt, gut gefüttert und jeden Tag gebadet. Schließlich sind sie eine gute und lukrative Einkommensquelle ihrer Trainer und ich hatte auch den Eindruck, als ich bei verschiedenen Gelegenheiten beim Elefantenbaden zusah, dass eine Verbindung besteht zwischen dem Trainer und seinem Tier. Der Einsatz der Tiere bewahrt sie davor, gejagt und getötet zu werden, doch gleichzeitig bedeutet er auch Leiden für die Tiere. Zumindest in der Phase ihrer Ausbildung.
Nach der Wartezeit machen wir uns auf den Weg. Bei der Gelegenheit nutzen wir die Möglichkeit, die großen Tiere in ihrer Unterbringung zu betrachten. Ich sehe kleine Elefantenbabys, die in ihrem Gehege frei und zwischen den Großen umher laufen. Doch die älteren, etwas größeren Kälber sind bereits angekettet. Die großen, alten Tiere stehen scheinbar gleichmütig im Schatten. Doch das junge, angekettete Kalb läuft unruhig hin und her, kann seinem Bewegungsdrang nicht nachgehen und fühlt sich augenscheinlich sehr unwohl. Es läuft auf und ab, so weit die Kette es zulässt.
Die Elefantenkühe sind lediglich mit einem Strick angebunden. Was ist schon so ein Strick für einen Elefanten? Doch der Elefant hat von klein auf gelernt, dass der Strick Macht über ihn hat.
Ein nur wenige Tage altes Elefantenbaby kommt neugierig an den Zaun heran und verursacht damit heftige Begeisterungsstürme unserer vobeikommenden Touristengruppe. Die jauchzenden Menschen füttern es mit Grasbüscheln, die sie in den ausgestreckten Händen halten. Die asiatischen Touristen flippen beinahe aus vor Vergnügen. Im ersten Moment bleibe ich hinten und möchte ihnen am liebsten zurufen: seid ihr alle blind? Doch dann bin ich neugierig und komme näher, um das Kalb zu berühren. Es ist das erste Mal, dass ich ein Elefantenbaby aus nächster Nähe sehe. Der Kopf ist fleckig und die kleinen, stoppeligen Haare, die man bei Jungtieren sieht, fühlen sich ganz drahtig an. Auch die Haut des Jungtieres ist trocken und borstig. „Möchtest du das Baby füttern?“ Fragt mich der Guide. Ich schüttle den Kopf. Was bringt es, dem Kalb jetzt trockenes Gras ins Maul zu stecken, wenn es schon in wenigen Tagen ein schickes Fußkettchen verpasst bekommt? Wir gehen weiter.
Die Elefantenstation ist nur ein Zwischenstopp auf dem Weg in den Dschungel.