Nepal, Sommer 2019
Am späten Nachmittag kommt der Bus in Pokhara an. An einem Busstop abseits vom Stadtzentrum steige ich aus und richte mich nach der zuverlässigen Navigation meiner App. Die wohlgemeinten Taxi- und Unterkunftsangebote wehre ich sanft ab – ich habe bereits in Deutschland ein Hostel vorreserviert. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die zum ersten Mal in ihren Leben in einem fremden Land landen und auf gut Glück anfangen zu suchen, hier stößt die Abenteuerlust bei mir auf natürliche Grenzen. Ich bin ganz gerne gut vorbereitet.
Immer mal wieder hält ein Taxifahrer an und will wissen, ob er mich irgendwohin mitnehmen kann. Ich schüttle den Kopf. Klar, die potentielle Zeitersparnis wäre hier nicht von der Hand zu weisen, doch nachdem ich bereits um die sieben Stunden im ruckelnden Bus saß, bin ich froh, meine Beine ein wenig bewegen zu können. Die Busse von Chitwan nach Pokhara brauchen sechs- bis sieben Stunden; in etwa genauso lange brauchen sie von Kathmandu nach Chitwan. Die Entfernungen betragen jeweils achtzig bis hundert Kilometer.
Ein großer, grünblau schimmernder See zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich; der Phewa-See. Kleine Boote liegen vertäut und schaukeln auf den Wellen. In der Ferne sind grüne Berge zu sehen. Eine dichte Wolkendecke verdunkelt den Himmel.
Noch ein Grund, weshalb ich das Taxi ausschlage und den längeren Marsch auf mich nehme, ist die Gelegenheit, mir den neuen Ort näher anzusehen. Am besten erkundet man eine Gegend zu Fuß, wenn man denn genügend Zeit dazu hat. Dann fallen einem all die Details ins Auge, an welchen der Bus oder das Taxi vorbei gerauscht wäre. Und Zeit habe ich.
Pokhara ist eine touristische Stadt; zumindest der Teil zum See hin, die Lake Side. Die Stadt an sich ist größer und erstreckt sich weiter, als gedacht, doch die langgezogene Straße, die am Phewa-See vorbei führt, ist der Ort, an dem sich Cafes und Restaurants aneinander drängen und sich Ausflugsagenturen mit Ausrüstüngs- und Bekleidungsshops gegenseitig ihren Platz streitig machen. Aus den Ecken der Geschäfte dringen buddhistische Mantras und New Age Musik. Alles ist irgendwie… cooler, moderner, erinnert an den Stadtteil Thamel in Kathmandu, welches durchaus seinen Charme hat.
Pokhara ist keine schöne Stadt, dafür aber eine interessante. Wunderschön am Phewa-See gelegen, umgeben von Bergen bietet sie den Ausgangspunkt für vielerlei Aktivitäten. Wanderungen, Trekkingtouren, Leichtflugzeug oder Gleitschirm fliegen, Rafting oder vom Sarangkot-Berg eine Zip-Line hinunter sausen – vieles kann von hier aus unternommen werden. Ausgedehnte Wanderungen zum Annapurna Himal, an traditionellen nepalesischen Sherpa-Dörfern vorbei bieten sich an, doch auch Pokhara selbst hat viele Aktivitäten. Und es ist kühler – kühler als in Chitwan, wo die Luft stand und die Zikaden summten. Ja, Pokhara ist sehr touristisch und es kann kaum von irgend einer Art „Authentizität“ gesprochen werden, doch nach dem exotischen Chaos von Kathmandu und der stillen Ursprünglichkeit von Chitwan sind mir ein paar westliche Akzente gar nicht so unwillkommen, sei es der Shop mit den Kräuterseifen, die keiner braucht oder den Trekking-Klamotten, die sich kaum ein Local leisten kann. Die ersten Ermüdungserscheinungen und Zeichen von Überreizung treten wohl dadurch auf, dass man das von Zuhause Gekannte, das Gewohnte, Vertraute, mit offenen Armen empfängt; alles, was einen auch nur annähernd an seine Heimat erinnert.
Stylische Cafes und Streetart an den Wänden. Langsam erkunden meine Augen die Stadt, während ich mit meinem Rucksack einen Fuß vor den anderen setze. Es werden Halbedelsteine, Naturkosmetika, Schnick-Schnack und jede Menge Nippes verkauft. Überhaupt wirkt alles aufgeräumter. Pokhara hat was, hier kann man gut Zeit verbringen. Doch schön, wie es von den vielen Besuchern beschrieben wird – nein, schön ist auch Pokhara nicht.
Es gibt auch Apotheken, und wirken sortierter als die in Kathmandu. Ich meine; sie sehen für mein westliches Augen noch immer wüst aus, aber wenigstens stehen die Arzneien ordentlich in Regalen und sind nicht auf großen Haufen vor dem Verkäufer auf dem Tisch aufgeschüttet. Oder mitten im Raum. Die Apotheken sind auch nicht wie bei uns aufgebaut, sie sind mehr wie ein Kiosk mit einem Schalter. Doch ob man alles kriegt, was man benötigt, diese Frage ist schwierig zu beantworten. In Kathmandu gab es erfahrungsgemäß so einfache Dinge wie Mückenspray oder Schilddrüsentabletten nur schwer zu kaufen.
Ein Engländer spricht mich an. Wir smalltalken ein wenig, schließlich gibt er mir zum Abschied noch den Tipp, für die Fortbewegung in der Stadt die normalen Local Busses zu benutzen. Die grünen Busse, schärft er mir ein. Sie seien günstig und würden nur einen Bruchteil des Taxipreises kosten, just nur wenige Rupien. Ich merke mir den Tipp, doch es wird noch einige Zeit dauern, bis ich tatsächlich auf den Geschmack der öffentlichen Verkehrsmittel in Nepal komme.
Hier sind die Menschen sehr auf Touristen eingestellt, was sich einerseits darin äußert, dass ein Weißer keine staunenden Blicke mehr provoziert, man andererseits aber ab und zu von Kindern angebettelt wird. Es kommt jedoch eher selten vor. Grundsätzlich ist Nepal ein sehr angenehmes Reiseland, trotz der Armut und trotz des offensichtlich hohen touristischen Aufkommens im Land. Die Menschen haben noch nichts von ihrer Freundlichkeit verloren und versuchen weiterhin, offen und herzlich mit Touristen umzugehen. Es gibt keine Scharen an Bettlern oder keine großartig spürbare Kriminalität. Der Grund dafür liegt im Glauben begründet. Ein großer Teil der Nepalesen gehört dem buddhistischen Glauben an und dieser besagt, dass es nicht auf den Wohlstand im jetzigen Leben ankommt. Und dass aus einem Schlammtümpel eine reine, zarte Lotusblüte wächst.
Die zu laufende Strecke beginnt sich zu ziehen. Ich frage eine Polizisten nach dem Weg. „Noch ein paar Kilometer in diese Richtung.“ Er zeigt an der Kreuzung vorbei, weiter am See entlang. Das Zostel-Hostel liegt ein wenig außerhalb vom zentralen Punkt der Lakeside, da ich auf Ruhe und Abgeschiedenheit, Berge und schöne Reisfelder hoffte. Und auf einen Ausblick auf den Phewa-See. Doch inzwischen denke ich, ich hätte mich geirrt, wäre an meinem Punkt längst vorbei gegangen. Der zugedeckte Himmel beginnt, sich in leisen Tropfen auf die Erde zu ergießen. Kleinere Schauer entstehen, die sich zu einem größeren, langanhaltenden zusammentun. Ich rette mich in eines der vielen Restaurants.
Hier setze ich mich müde an ein Tisch und strecke entspannt die Vierer von mir. Der Ein-Euro-Kinderwagenschutz vor Regen, den ich in einem Kik erstanden habe, leistet mir nun gute Dienste; er schützt meinen Rucksack und seinen Inhalt vor dem Platzregen. Ich würde einfach hier warten, bis alles vorbei geht. Ich bestelle diesen leckeren Kaffee, den ich schon aus Chitwan kenne, und studiere die Speisekarte. Unauffällig studiere ich dabei auch die anderen Gäste, die sich aus zwei oder drei Männern zusammensetzen. Das Lokal ist so gut wie leer. Bunte Lichter, die Essenskarte und Ringelblumenkranz umrankte Fotografien an den Wänden geben dem Ganzen einen gewissen Charme zwischen Exotik und Kantine.
Der Regen wird draußen immer stärker.
Ich bestelle Naan, kleine Fladenbröte, die ich bereits an meinen ersten Tagen in Kathmandu kennen gelernt habe, und einen großen Pott Masala-Tee. Eigentlich ist Naan ein Essen, das ursprünglich aus Indien kommt, die gebackenen Fladenbrote sind aber inzwischen auch in Nepal sehr verbreitet. Sie können auf verschiedene Arten zubereitet und mit Gewürzen oder Knoblauch belegt werden. Gegessen werden sie mit frischem Gemüse und mit Curry. Meine Knoblauch-Naan kommen recht fettig daher, doch lecker sind sie. Es tut gut, ein wenig zu entspannen. Ich lasse die Blicke über das Ambiente und die bunten Lampen schweifen.
Die Toilette des Lokals hingegen ist ein Abenteuer. Du gehst auf Zehenspitzen rein, da die kleine Kabine vollends überflutet ist. Das Wasser steht mindestens einen Zentimeter hoch und alles, jedes Fleckchen Boden ist nass. Du krempelst deine Hosenbeine so hoch wie möglich und hoffst, dass nichts von dem Wasser unbekannter Herkunft in deine Schuhe schwappt. Dass du dich nicht hinsetzen willst, brauche ich nicht eigens zu erwähnen.
Wieder am Tisch, schaue ich skeptisch hinter dem grauen Regenvorhang nach draußen, auf die Menschen, die zusammengekauert vorbei eilen. Aus dem Regenschauer ist ein kräftiger Regenguss geworden. Ich versuche, die Zeit hier im Restaurant so weit wie möglich auszudehnen, doch schließlich muss ich einsehen, dass mir der Marsch durch den Regen nicht erspart bleiben wird. Der Wirt steht vor dem Restaurant und raucht, wartet auf weitere Gäste. Ich gehe wieder nach draußen.
Die Straße hat sich in einen flachen, reißenden Bach verwandelt, der braunes Wasser mit sich führt. Der Regen klatscht nass und laut auf die Dächer und ausgebreiteten Planen. Ich bleibe kurz fassungslos stehen, ehe ich weiter eile. An einigen Stellen gleicht die Straße zu überqueren einer Challenge. Wie bleiben Schuhe und Socken möglichst trocken? Sie bleiben es nicht. An den Pfützen vorbei geht nicht, denn die gesamte Fahrbahn ist nun eine einzige, schmutzigbraune Pfütze. Du läufst hier nicht über die Straße, du schwimmst über die Straße, wenn es regnet. Es gibt kaum eine Möglichkeit, sich trockenen Fußes fortzubewegen. Vielleicht deshalb haben es sich die Einheimischen längst angewöhnt, sich in schlichte Flip-Flops zu kleiden.
How to cross the street – in Nepal!
Die Händler decken notdürftig ihre Ware vor dem Regen ab. Sie kennen das tägliche Dilemma ja schon. Ich verlasse die hintersten Ausläufer der Stadt. Der Phewa-See, der weit ausgedehnt wieder hinter Häuserreihen auftaucht, ist in einen dichten, trüben Vorhang eingehüllt. Eine graue Wand aus Regen. Regenstrudel auf den Straßen.
Pokhara ist schön gelegen. Beinahe wäre es eine schöne Stadt, wenn man die Lage in Betracht zieht. Das Hostel Zostel, in dem ich für die folgenden drei Tage reserviert habe, liegt, wie gehofft, etwas abseits inmitten der Reisfelder, die momentan etwas zugeregnet aussehen. Statt es bei einem kurzen Platzregen zu belassen hat sich das Wetter entschlossen, nun die Reste des alljährlichen Monsun über der Stadt und über den Bergen auszuschütten. Und auch ich schüttle mich wie ein nasser Hund, als ich endlich im Zostel ankomme. Das Mädel von der Rezeption zeigt mir mein Zimmer und fragt, wie es mir in Nepal gefällt. Dann lässt sie mich allein, so dass ich die nassen Sachen ablegen kann. Ich schaue mich ein wenig im Zostel um, rausche aufgeregt von Ecke zur Ecke.
Saftig grüne Reisfelder, wie fotogeshoppt. Grüne Berghänge um mich herum. Ein Blick auf den Phewa-See. Wunderbar. Das Hostel hat eine Bar, die an einem kleinen, künstlichen Teich gebaut ist. Der Teich wird jeden Abend stimmungsvoll beleuchtet. Ich nehme mir vor, dort eines Abends mal zu versacken. Doch im Moment, da will ich meine Ruhe.
In meinem Zimmer machen ich mich erst einmal daran, die durchnässten Sachen aufzuhängen. Glücklicherweise verfügt das Zimmer über einen hölzernen Wäscheständer, der mir das Leben in den kommenden Tagen noch erleichtern wird. Und zum ersten Mal auf dieser Reise finde ich in meiner Unterkunft das Angebot für Wäscheservice vor.
Vor meinem Fenster, das Richtung Pokhara Lakeside hinausgeht, schuften die Menschen auf einer schlammigen Baustelle mitten im Regen. Die Baustelle ist voller Wasserpfützen und der Regen lässt einfach nicht nach. Der Anblick der Menschen da unten hat etwas Deprimierendes.
Tuk-Tuks, Roller, Motorräder, Autos, Busse – alles schlängelt sich die Straße entlang durch den strömenden Regen. Vermutlich sind die Menschen diese Niederschläge gewohnt, denn mich fasziniert immer wieder aufs Neue, wie unaufgeregt das Leben jedes Mal einfach weiter geht. Pitschnass ziehe ich indessen in der trockenen Lauschigkeit meines Zimmers meine nassen Schuhe aus. Auch wenn mir das Laufen im Regen durchaus auch Spaß gemacht hat, so bin ich froh, dass ich angekommen bin.
Dafür zaubert mir die Hostel-Toilette ein kleines Lächeln ins Gesicht, denn an der Tür der Kabine hängt ein kleines DinA4-Blatt mit der Überschrift:
„Learn nepali while you’re offload“
Darunter sind geläufige Sprachbegriffe aufgelistet, jeweils auf englisch und auf nepalesisch, die man als Reisender so brauchen kann, von „Guten Tag“ über „Was kostet“, „Wie weit ist es“, „Ich liebe dich“ bis hin zum „Ich will dich küssen“, lauter nützliche Dinge also. Ich muss schmunzeln.