Die Stadt wirkt wie ausgestorben. Eingeschlafen vielleicht, und noch nicht wieder aufgewacht. Doch das ist eventuell der Uhrzeit geschuldet und der Jahreszeit; leer liegt sie da in der warmen Mittagssonne, an einem Dienstag Ende März.
Es ist noch keine Saison für Touristen und schon gar nicht die passende Jahreszeit, denn im Hochsommer, wenn die Bäume grün sind, tummeln sich hier unzählige Besucher an der Hauptroute, die durch das Obere Mittelrheintal führt. Wie oft bin ich hier vorbei gefahren und von meinem Motorrad aus sehnsüchtig rüber geschaut. Ich hatte mir vorgenommen, den Besuch dieses kleinen, malerischen Städchens nachzuholen: Bacharach am Rhein.
Heute passt es ganz gut. Nicht mit dem Motorrad, aber mit dem Auto, denn meine Hornet entmotte ich erst Anfang April.
Unterwegs in Bacharach begegnen mir nur ganz wenige Leute: ein Mann, der amüsiert meine Fotografiererei betrachtet, ein Pärchen auf einer Bank, zwei Obdachlose, ein Biker. Zwei Rentner, die sich ihren Ruhestand dadurch vertreiben, das aufzuholen, wofür sie bislang keine Zeit gehabt hatten, und nun die Sehenswürdigkeiten rundherum erkunden.
Die Werner-Kapelle von Bacharach ist hier gleich um die Ecke, aber sachte – ich wende meine Schritte erst in die andere Richtung. Bacharach ist nur einer der vielen sehenswerten Orte hier in der Gegend; die Stadtmauer ist fast komplett erhalten und ein Durchgang in der Mauer, der tatsächlich eine offizielle Straße ist, führt mich ans Rheinufer. „Romantik war und ist der Stich da, ganz ins Herz,“ – lese ich auf einer angebrachten Tafel.
Auch die vielbefahrene Hauptstraße, die sich am Rhein vorbei schlängelt, ist so gut wie leer. An jedem Ortseingang stehen Tafeln mit eingezeichneten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Doch mich interessiert die Kapelle.
Die gotische Kapelle von Bacharach entsprang einer Legende. Der Legende nach wurde ein Knabe während eines jüdischen Opferfestes auf brutale Weise ermordet. Als man den übel zugerichteten Leichnam des Jungen fand, waren die Schuldigen schnell gefunden: die Juden. Das Ergebnis dieser Hetzjagd war einer der brutalsten Judenpogrome des Mittelalters; der Hass hatte sich wie ein Feuer auf die umliegenden Ortschaften ausgebreitet. Der aufgebrachte Mob tötete über vierzig Menschen.
Der Tod von Werner konnte nie aufgeklärt werden, doch man weiß heute mit Sicherheit, dass die damalige Version so nie stattgefunden haben konnte. Nach seinem Tod wurde mit dem Bau der Kapelle begonnen, die eigentlich Kuniberts-Kapelle heißen sollte, doch schon ziemlich bald wurde sie von allen als die Werner-Kapelle bezeichnet. Die heute auf einem Hügel stehende Ruine ist mit ihren hohen Spitzbögen ein wunderschönes Überbleibsel der Hochgotik und ein Mahnmal der damaligen Pogrome.
Über eine Treppe gelange ich nach oben. Meine anfängliche Befürchtung, die Kapelle sei eventuell überlaufen, löst sich schon bald im Nichts auf, denn sowohl die Stadt als auch die noch grauen Weinhügel rundherum befinden sich scheinbar noch im Winterschlaf. Die steile, steinerne Treppe wird mir Muskelkater am nächsten Tag bescheren, doch noch ist davon nichts zu merken. Die Werner-Kapelle, erbaut im Jahre 1287, hat etwas unglaublich anmutiges an sich. Dieser Eindruck wird von der Tatsache, dass es sich nur noch um eine Ruine handelt, sogar noch verstärkt, denn durch das leere Skelett hindurch ist nur noch der Himmel und die kalte Sonne zu sehen.
Von hier oben schaue ich auf den Rhein und auf die Dächer von Bacharach herunter, sehe der Menschen Hinterhöfe. Die Kapelle lässt sinnbildlich die Hinterhöfe der menschlichen Natur betrachten, wo durch Misstrauen und Hass zum Teil hanebüchene Geschichten erfunden, verbreitet und letztlich auch geglaubt werden. Und es denke bloß niemand, es handele sich um eine Geschichte aus dem Mittelalter. Es passiert heute noch, immer wieder, jeden Tag. Und wir haben so oft, oh, so oft gesehen, wozu es führen kann. In Deutschland. In den USA. Das Thema Hass und Hetze ist aktueller denn je.
Ich laufe die steinerne Treppe wieder herunter und will zum Auto gehen, doch die alte, moosbewachsene Holzbank bietet mich förmlich darum, sich noch kurz hinzusetzen. Über mir die St Peter Kirche, unter mir die leere Straße. Die Sonne auf meinem Gesicht. Doch ich bin nicht hier, ich bin in den Gedanken schon beim nächsten Augenblick. Es fällt schwer, sich zu entspannen, wenn man weiß, dass man noch etwas zu erledigen hat. Einmal einatmen, ausatmen. Gedanken loslassen. Ein Vogel zwitschert unermüdlich, ein summendes Insekt fliegt vorbei. Ich schaue zu den mit Schiefer belegten Dächern, zu der altmodischen, hängenden gelben Straßenlaterne. Ein Auto fährt im Schritttempo die Straße entlang. Da ist er, der Augenblick.
So, das wars, ich stehe wieder auf. Mein Kopf ist wie ein Mosaik, das sich ständig verändert, wie eines dieser Traumfänger für Babys, die sich immer drehen, in vielen bunten Farben. Immer drängt mich etwas vorwärts. Vielleicht bin ich es vom vielen Autofahren gewöhnt, dass sich, obwohl ich still sitze, die Welt um mich herum ständig bewegt. Die Welt muss fließen, biegsam sein, elastisch – der Stillstand ist nicht gut, denke ich, als ich mein Auto erreiche.
Dann jage ich über die kurvige Serpentinenstraße. Die Schieferplatten am Rande des Waldes glänzen in der Sonne wie Silber. Ich bin zufrieden, sogar etwas müde. Der Hunger nach Neuem ist für einen Moment gestillt.