Bremen, November 2013
Ein neuer, vorsichtiger Blick in Richtung des provisorischen Standes. Ist er das oder ist er das nicht? Was fehlt, ist die Batschkappe, doch das Gesicht ist markant und unverkennbar. Doch ja, das ist er, eindeutig, es ist das Gesicht, welches mir an jeder Ecke dieser Stadt begegnet.
Der Mann vom Plakat
Eindringlich mustere ich den provisorisch aufgebauten Stand, während ich am Marktplatz in Mannheim gegenüber auf meine Bahn warte. Die Mitglieder der Partei, die in den Jahren 2011-2013 sprunghaft an Popularität gewinnt, stehen inmitten der Aufmerksamkeit, beantworten Fragen und verteilen Prospekte. Und mitten unter ihnen – ein Gesicht, welches ich von unzähligen Plakaten, die in der gesamten Stadt verteilt sind, her kenne und welches mir ein unterschwelliges Schuldgefühl vermittelt, eine Ohrfeige gewissermaßen mit dem Vermerk, ich solle mich doch endlich einmal politisch engagieren. Du bist systemrelevant, steht auf jedem dieser Plakate und das lächelnde Gesicht über diesem Satz scheint sagen zu wollen: Geh wählen! …am liebsten mich.
Es ist das Gesicht des Landtagswahl-Kandidaten und stellvertretenden Landesvorsitzenden Stefan Täge. Der soeben damit begonnen hatte, zurück zu starren. Schnell drehe ich den Kopf weg und schaue mich nach der Straßenbahn um. Wann kommt die denn endlich? Ein neuer, vorsichtiger Blick in Richtung Infostand. Ist er das oder ist er das nicht? Was fehlt, ist die Datschkappe, doch das Gesicht ist markant und unverkennbar. Das ist der Mann vom Plakat.
… und so steige ich erleichtert in die nächste, ankommende Straßenbahn, seltsam froh, der Situation entkommen zu sein. Zaghaft werfe ich noch einen letzten Blick aus dem verschmutzten Fenster.
Drei Monate und einige Textnachrichten später sitze ich auf dem Beifahrersitz eines weißen VW Passat neben dem besagten stellvertretenden Landesvorsitzenden, der mir das, was da vor uns liegt, in folgenden, schlichten Worten erläutert: „Wenn du einen Haufen totaler Chaoten bei der Arbeit sehen willst, dann schau dir das hier unbedingt an…“ Er spricht von Bremen, von den anstehenden Piraten-Parteitagen 2013.
Wir sind auf dem Weg dorthin.
Als wir abends in Bremen ankommen, ist es bereits dunkel. Es regnet und der Wind fegt in kalten Böen über den Platz, auf dem sich die Veranstaltungshalle befindet. Stefan, der neben mir geht, trägt einen langen, schwarzen Mantel und erinnert mich damit an Unheilig; den Graf. Grüppchen an Leuten stehen frierend und zitternd vor der Halle und rauchen. In der Tür stehen zwei Männer, die allen Anschein nach den Einlass überwachen. Doch die Sache ist schnell geklärt.
„Täge, Stefan; können wir jetzt schon da rein? Ich werde meine Freundin nicht hier draußen frieren lassen.“ Ich spitze meine Ohren. Freundin…?
Die Parteitage sind erst ab morgen offiziell eröffnet und auch ab da für Besucher zugänglich. Was im Moment da drinnen geschieht, das sind die letzten Vorbereitungen: Ankommende Mitglieder werden begrüßt und verteilen sich ihrer Zuständigkeit nach im Gebäude. Wir gehen nach oben.
Der Graf alias Stefan nimmt sich sogleich seiner Gruppe an und bespricht den morgigen Verlauf. Er und sein Team sind für die Pressearbeit zuständig. Ich setze mich ein wenig abseits hin und versuche, nicht zu stören; alles, was hier vor sich geht, sind für mich Böhmische Dörfer und so vermeide ich es tunlichst, in irgend eine Weise im Weg herum zu stehen.
Von hier oben kann man den gesamten Saal überblicken, der im Halbdunkel verlassen vor mir liegt. Sitzreihen, ein Podium, Mikrofone, Kameras. Das wird morgen ein spannendes Spektakel werden und ich wundere mich darüber, dass Stefan in keinster Weise nervös zu sein scheint.
Für Mitglieder stellt die Partei in Bremen kostenlos Zimmer im nahe gelegenen Hotel zur Verfügung. Doch Stefan hat es sich in den Kopf gesetzt, woanders zu übernachten: In einem Hotel in Cuxhaven, nochmal eine Stunde nördlich von Bremen entfernt. Warum Cuxhaven, warum nicht hier? Ich kann die Entscheidung zunächst nicht nachvollziehen. „Ich will mich nicht mit den anderen Chaoten in kleinen Zimmern quetschen.“ Sagt er. „Das Hotel wird überfüllt sein, wie in einer Jugendherberge. Und sie werden bis spät in die Nacht feiern.“ So also steigen wir ins Auto und fahren los.
Im Hotel kommen wir spät abends an. Draußen ist es bereits dunkel, doch laut Stefans Aussage haben wir vom Balkon im 5 Stock einen sagenhaften Ausblick auf das Meer – das Hotel liegt genau an der Nordseeküste. Doch der Pirat ist erledigt, nicht einmal die kühle Nordseeluft vermag es, ihn lange wach zu halten – und so wird das Hotelzimmer schon bald erfüllt von tiefem, gleichmäßigen Schnarchen.
„Ein Haufen Chaoten“
Klack, klack, klack… Die schlanke Gestalt stolziert lässig an mir vorbei. Die hohen Absätze, die die langen, grazilen Beine tragen, hallen vernehmlich trotz der allgemeinen Geräuschkulisse auf dem harten, kalten Boden. Klack, klack, klack… Den eng anliegenden, schwarzen Minirock füllt ein knackiger Hintern, der mich neidvoll an die eigenen Speckröllchen denken lässt. Wie ferngesteuert schaue ich dem großen, heißen Mann hinterher.
Rraaatsch…
Dem großen, heißen Mann?
Ja, genau. Denn das alljährliche Treffen der Piraten-Partei ist weit mehr als „nur“ ein rein politisches Ereignis. Es ist die Bühne für Menschen, die frei und offen, von Gleichdenkenden umgeben, ihre Andersartigkeit auszuleben gedenken. Ich reibe mir die Augen und staune. Und freue mich.
Der Tag beginnt mit Regen. Schwere Wolken ziehen über Cuxhaven hinweg und die Welt ist verhüllt in einen Vorhang aus Regentropfen. Draußen gibt es nichts zu holen und so überredet mich Stefan, an dem jährlichen Ereignis teilzunehmen: Den Piraten-Parteitagen in Bremen.
„Wenn du einen Haufen Chaoten bei der Arbeit sehen willst, dann kannst du das nirgends besser als hier.“ Sagt er. Und nun muss ich an seine Worte denken, als ich etwas ratlos in der großen, noch nicht ganz gefüllten Halle stehe.
Die Piraten-Partei, die ihren Ursprung 2006 in Berlin hat und mit ihren teilweise revolutionären Ideen und Gedanken in den Jahren 2011-2013 einiges an Zulauf und Popularität gewinnt, ist ein bunt gemixter Haufen – der vorwiegend aus Studenten und jungen Leuten besteht. Nur neun Monate nach der Gründung wurden die Piraten zur zehntstärksten Partei des Landes. Sie provozieren mit ihren Aussagen, aber nicht nur das: Der Einsatz für Minderheiten, für eine offene und tolerante Gesellschaft, politische Transparenz und für eine Änderung des Urheberrechts, um den freien Austausch von Wissen, Musik und Kunst zu ermöglichen sind Ziele, die sie sich auf die (Piraten)Fahnen geschrieben haben – sie verkörpern 2014 eine neue, unkonventionelle Richtung und treffen den Puls der Zeit.
Ahnungslos setze ich mich in die erste Reihe, während sich der Saal immer weiter füllt. Stefan ist in der Weltgeschichte unterwegs – als Presselotse hat er alle Hände voll zu tun. Regelmäßig kommt er vorbei und wir wechseln ein paar Worte, bevor er wieder im Gewusel verschwindet. Im weiteren Verlauf des Tages sehen ich ihn entspannt und angelehnt auf der Bühne hinter den Wahlkandidaten stehen.
Ein Mann und eine Frau kommen zu der Bank, an dem ich sitze; wortlos legen sie mir ihre Rucksäcke vors Gesicht. Ich verziehe mich eine Reihe nach hinten. Es werden Wahlboxen aufgestellt und nach kurzer Zeit begreife ich – die beiden sind dazu auserkoren, die Wahlzettel abzulesen.
Es folgen Abstimmungen. Programmpunkte werden besprochen, Anträge gestellt. Und wieder abgestimmt. Kandidaten treten vor, glücklich und strahlend, wenn sie für die angestrebte Funktion gewählt worden sind – und vor lauter Nervosität bereit, sofort flüchtend von der Bühne zu springen. Und da kommt Stefan ins Spiel. Er hatte sich diesmal für kein Wahlamt aufstellen lassen, stattdessen nimmt er sich eines Kandidaten nach dem anderen an, was auch seine Anwesenheit auf der Bühne erklärt. Er sorgt dafür, dass der gewählte Kandidat stehen bleibt, den Fotografen zulächelt und optimaler Weise vielleicht noch ein paar Worte spricht.
Während ich das bunte Treiben um mich herum beobachte, bleibt mein Blick die ganze Zeit an dem Mädchen vor mir hängen. Dieser tolle, rote Kurzhaarschnitt – in diesem Moment vermisse ich mein kurzes Haar. Mein Schopf ist gerade dabei, sich wieder in Richtung schulterlang zu entwickeln.
Eine weitere Abstimmung – die Leute neben mir halten orangene Zettel in die Höhe. Antrag abgelehnt. Bei einer weiteren Abstimmung schalte ich ab und schaue in der Halle herum.
Zum Teil ist es so, als sei ich bei The Big Bang Theorie gelandet. So viele Nerds… Und da sind auch noch die Männer in Röckchen; der sexy Mann von vorhin läuft wieder einmal an mir vorbei. Diesmal sind die Absätze noch etwas höher, die Farbe des Minirocks hat von schwarz in rot gewechselt. Hier fühlen sich die Menschen ungezwungener, sagt Stefan.
„Sie wirken alle wie ein total durcheinander gewürfelter Haufen, doch es sind sehr viele kluge Köpfe dabei. Die meisten von ihnen haben studiert, viele haben einen Doktortitel.
Das war übrigens der Landesparteichef Christopher Lauer, der auf dem Platz vor dir saß.“ Klärt mich Stefan auf, als wir später, bereits auf dem Weg nach Hause, im Auto sitzen. „Er ist sehr…polemisch, viele halte ihn für umstritten. Einer der deutschlandweit bekanntesten Piraten.“ Ich staune – ein weiteres Mal.
Die Rücktrittswelle vieler Mitglieder, zu denen unter anderem bekannte, „tragende“ Persönlichkeiten wie Anke Domscheit-Berg und Anne Helm gehörten, hat die Partei schwer getroffen. Innerparteische Unstimmigkeiten führten letztendlich zu einem Verlust von Wählerstimmen. Die Schwierigkeiten, sich auf einen klaren Kurs zu verständigen, blieben auch der Öffentlichkeit nicht verborgen. Es ist, als seien die Piraten von ihrem eigenen, kometenhaften Erfolg überrascht worden. In den folgenden Wahlen erreichte die Partei nie mehr ihre ursprüngliche Stärke.
Liebe Kasia ! Gelesen und keinen Kommentar !
Das ist auch ein Kommentar 😉
Ich verstehe unter einem Kommentar meine Meinung wiederzugeben oder was ich darüber denke und das habe ich nicht ! Ich bezeichne das als Kommentar und OK ich dann das auch weglassen und schreiben „gelesen “ !
Ach so, okay. Für mich ist es ein Kommentar, wenn im System steht: „Kommentar von Manni: gelesen.“ 😉 😉