Europa, Finnland

Helsinki – Wintersonne

Helsinki, Januar 2017

Die Dämmerung, die mich gestern bei meiner Ankunft begrüßte, hält auch heute morgen an. Es ist zehn Uhr, Zwielicht, überall brennen Lichter. Das ist anscheinend der Dauerzustand hier. Dass die Finnen nicht den ganzen Tag gähnend in ihren Betten verbringen, ist mir ein Rätsel. Aber so langsam erklärt sich ihr düsterer Musikgeschmack. Das Zwielicht, welches wirkt, als sei es sechs oder sieben Uhr in der Früh und es würde erst grauen, ist hier Dauerzustand und das hellste, was der finnische Winter aufzubieten hat. Ich hatte mich ja auf die tiefstehende Wintersonne gefreut, doch heute ist es bewölkt. Ja dann…

Um halb elf gehe ich runter in den Frühstücksraum. Es ist auch höchste Eisenbahn, denn Frühstück gibt es nur bis elf. Hm, das Essen ist fantastisch! Angeboten werden finnische und schwedische Spezialitäten. Und natürlich die internationale Küche wie Rührei, Speck usw. Die Pastete ist ja sagenhaft! Und schau mal, der Räucherfisch…

Aber Kasia, du wolltest doch vegan… Klappe, Gewissen! Wer hat dich denn gefragt? Aber die Tiere…

…hatten ein gutes Leben und sind hier alle mit Booten und Speeren auf natürliche Weise gejagt und erlegt worden, außerdem ist die Pastete schon auf meinem Teller.

Von selbst draufgehüpft? Jaaa…

Aber glaubst du wirklich, dass man hier immer noch mit Speeren und Booten… Pssst! Verdammt…

(Dies war nur ein kleiner Ausschnitt der folgenden, langen Unterhaltung zwischen meinem Gewissen und mir…)

Hier im Hotel wimmelt es nur so von Deutschen und Russen. An fast jeder Ecke überrascht mich die deutsche Sprache. Es ist, wie ein Blogger einmal geschrieben hatte: Auch wenn du dich in tiefstem Dschungel befindest, umgeben von palmblattbedeckten Hütten und Eingeborenen, über dir kleine Äffchen in den Ästen der Bäume, selbst da wird jemand am Nachbartisch die Bild am Sonntag lesen. Und deutsch sprechen. Gut, das hier ist nicht der tiefste Dschungel. Aber doch weit genug weg von daheim…

Ich fülle meinen Teller (ähm… meine drei Teller *hüstel…*) und setze mich zu einer süßen Finnin an den Tisch. Irgendwann kommt ihr Freund und setzt sich dazu. Rotblondes Haar, hell, ich tippe auf Schwede oder Norweger.

„Soll ich dir noch etwas holen, Schatz?“
„Nein, danke, ich schaue dann selbst.“ Ich erstarre und fange an zu lachen.
„Ein gutes Neues Jahr!“ Rufe ich den beiden zu.

Hier ist, wie ich schon schrieb, immer Dämmerung. Was bringt die Menschen dazu, im Winter hierher zu kommen? Ich meine, ganz normale Menschen, nicht so verrückte wie mich. Auf dem Zimmer mache ich nochmal ein Nickerchen.

Es wäre zu viel, wenn ich sagte: Die Sonne weckt mich auf. Also… der ungewöhnlich helle Himmel weckt mich auf. Ich sehe aus dem Fenster; die Wolken hatten sich größtenteils verzogen. Doch richtiggehend heraus treibt mich das Zimmermädchen, das die Betten machen will.

Fünf Minuten zum Zentrum, sagte der Taxifahrer. Zwanzig Minuten zum Zentrum, sagte der Portier. Vielleicht hängt es davon ab, wie schnell man läuft… geht mir durch den Kopf, als ich die Straße entlang marschiere. Doch sowohl das eine wie auch das andere würde mich nicht stören. Ich hatte vor, bis ganz an den Rand der Stadt; bis an die Hafenpromenade und die kleinen, vorgelagerten Inseln zu laufen.

Doch vorerst drücke ich mir die Nase an den Schaufenstern der ersten Souvenirläden platt. Sie verkaufen warme „Finnische Hausschuhe“ und kleine, Holz-geschnitzte Elche mit einer Kapsel gefüllt mit goldenem Bernstein. Bernstein als Ketten, Bernstein als Ohrringe, Bernstein als Tischlampe für den Nachttisch. Und kleine, lustige Robben für die Füße. „Wikinger-Robben“, versteht sich.

Also, ich habe zwar keinen direkten Vergleich zu Stockholm, aber ich mag die hiesige Architektur. Ich fotografiere die aparten, schnörkellosen Häuser. Die Hausfassaden selbst erinnern mich ein bisschen an Paris; genauso unspektakulär und charmant. Die Weihnachtsbeleuchtung ist noch an und ein kleiner Weihnachtsmarkt hatte sich noch erhalten. Immerhin haben drei Häuschen geöffnet und verkaufen plüschige, pelzige Mützen und Weihnachtssüßigkeiten.

Süßigkeiten! Diese Zuckerstangen und die überdimensionalen Lutscher sehen aus wie direkt den Elfen vom Nordpol weggeklaut. Süßes in allen Formen und Farben. Ich frage die blonde Verkäuferin, ob ich ein Bild von ihrem Stand machen könne. Sie nickt mit vor Kälte geröteten Bäckchen. So viele Farben… Ich kaufe zwei solche Dinger. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, sie Stefan mitzubringen, doch dann entscheide ich mich anders. Die würden daheim eh wieder in der Glasvitrine landen. Ha, die esse ich selber. Und wie ich die essen werde!

Brav komme ich an den Tresen und lasse mir den Süßkram einpacken. Nicht ohne vorher gefragt zu haben, ob sie englisch spricht.
„Kiittää!“ Sage ich nach dem Bezahlen mit fragenden Augen, völlig unsicher, ob das jetzt richtig ausgesprochen war. Sie lacht und freut sich. Ich lache auch und bin glücklich. So etwas macht glücklich. Und Süßigkeiten. Die auch.

Irgendwann lasse ich die Innenstadt hinter mir und komme an der Uferpromenade an. Ja, genau, hier wollte ich hin. Ich trete ans Wasser. Still und ruhig liegt es vor mir, die Bojen spiegeln sich darin, der immerwährende Sonnenuntergang spiegelt sich darin. Die kleinen, finnischen Häuschen auf den Inseln spiegeln sich darin. Und sofort lasse ich los. Als wenn die Uhr in mir plötzlich nur noch gaaanz langsam tickt. Sofort blende ich die Geräusche der Straße und der Fußgänger hinter mir aus. Die Bojen wippen ganz leicht, der Anleger wippt ganz leicht. Die totale Entschleunigung.

Ich sitze auf einer Bank mit dem Blick zum Wasser und dem orangenen Himmel. Ich bleibe solange sitzen, bis mich die Kälte weiter treibt. Dann schließe ich mich wieder dem Strom der Spaziergänger an.

Mir ist rätselhaft, wie Menschen hier leben können. Die Sonne ist um diese Jahreszeit nie wirklich da, es ist vielmehr wie ein Sonnenauf- bzw. Sonnenuntergang, der den ganzen Tag über anhält. Es fühlt sich an, als versuche man die ganze Zeit, aufzuwachen. Es wundert mich, dass Menschen hier nicht den ganzen Tag in ihren Betten verbringen, aber ziemlich viele sind draußen. Helsinki geht spazieren. An der Uferpromenade.

Nun ist es drei und der orangene Streifen am Himmel wird noch ein bisschen orangener. Die Sonne, die nicht da war, beginnt, unterzugehen. Alles spielt sich hinter dem Horizont ab.

Über ein System aus langen Holzbrücken kann man auf die vorgelagerten Felsinseln gelangen. Sie beherbergen ein paar finnische Häuschen und ein Restaurant. Ich lasse mich mit dem Strom der Besucher mitziehen, obwohl ich bereits den Gedanken an eine Rückkehr ins Hotel hege. An den warm erleuchteten Fenstern des Restaurants bleibe ich stehen. Ob ich auf einen Kaffee hinein gehen sollte? Ich befrage mich kurz selbst. Doch irgend etwas zieht mich weiter, mit den anderen Besuchern am Lokal vorbei, zu der zweiten, kleineren Holzbrücke, zu der zweiten vorgelagerten Insel. Die Felsen sind glatt, sehr glatt, an manchen Stellen rutschig. Menschen fotografieren das Meer. Es ist ein schöner Anblick.

Ein alter Mann setzt gebeugt einen Schritt vor den anderen, tastet sich vorsichtig mit seinem Gehstock von Fels zu Fels. Selbst ich muss aufpassen, um nicht auszurutschen. Ich beobachte ihn eine Weile. Dann sehe ich ihn unschlüssig vor einer Senke stehen. Ich laufe hin. In englisch und Zeichensprache biete ich ihm Hilfe an. Er lächelt, als er begreift, und winkt ab. Geht schon. Sicher?? Okay…

Ich wende mich wieder dem Sonnenuntergang zu. Dem, der niemals endet. Na ja, irgendwann endet er schon. Doch es ist nicht wie hier, dass die Sonne schnell in den Horizont hinein plumpst. Nein, hier lässt sie sich unendlich viel Zeit, wie eine Diva, wandert und erlischt, der Vorgang zieht sich über Stunden. Ich laufe mit anderen zusammen bis an den äußersten Felsen. Ein Fotograf hat sein Stativ aufgebaut, steht nun davor, nur als dunkler Schatten am blauen Himmel zu sehen. Ich bewundere ihn für seine Verachtung der Kälte, denn mich treibt sie immer wieder weiter.

Vor mir erstreckt sich die Skyline der Stadt Helsinki mit ihren Lichtern und ihren Türmen, die sich im stillen Wasser spiegelt. Die Blaue Stunde ist angebrochen. Der ganze Tag ist hier genauer genommen eine Blaue Stunde. Ich beschließe, es dem Fotografen gleich zu tun und auch mit meinem Stativ hierher zu kommen.

Ich klettere auf die letzte der kleinen Felsinseln hoch. Der Schein am Himmel ist am Erloschen. Ganz langsam. Ein langsamer, dramatischer Tod. Es ist kurz nach Neumond; die Venus ist so klar zu sehen, dass ich sie auf Bildern festhalten kann. Ich reibe meine kalten Hände. Ja, wunderbar. Immer wieder fotografiere ich den Himmel, das Wasser. Der alte Mann von eben ist doch nicht alleine da. Arm in Arm läuft er mit seiner Frau den Steg entlang. Ich lächle und gehe wieder zur Holzbrücke. Gibt es denn bei all der Jagd nach Glück und nach Selbstverwirklichung etwas Schöneres, etwas Wichtigeres als zusammen alt zu werden? Nein, nichts sollte wichtiger sein als der Mensch an deiner Seite.

Jetzt ist es dunkel, die Weihnachtsbeleuchtung in der Stadt entfaltet ihre volle Pracht. Riesige Kronleuchter aus Lichterketten schmücken die Straßen in warmen, feierlichen Schein. Eben noch beschäftigt mit den Einstellungen meiner Kamera folge ich nun der Musik, die von irgendwoher an meine Ohren und in mein Bewusstsein dringt. Ich biege um die Ecke, die Musik wird lauter. Ich sehe eine Gruppe Menschen mit dem Rücken zu mir stehen. Da muss etwas los sein! Ich stelle mich dazu.

Vier oder fünf Jungs spielen, buchstäblich mit Pauken und Trompeten, moderne bekannte Stücke nach. Die Menge klatscht, immer wieder wirft jemand Münzen in den schwarzen Koffer. Und die Jungs gehen auf. Ich beginne, aufzunehmen. Fabelhaft! Rocky als klassisches Orchesterstück! Theoretisch weiß ich, dass meine Hände gerade einfrieren, doch wen interessiert das! Mich am wenigsten. Begeistert versuche ich, mit der Kamera nicht zu wackeln und widerstehe dem Drang, mit zur Musik zu hüpfen. Drei Lieder schaue ich mir an, dann hört die Gruppe auf zu spielen. Die versammelten Menschen setzen sich langsam wieder in Bewegung. Auch ich setze mich langsam in Bewegung.

Ich komme wieder an dem kleinen Weihnachtsmarkt von heute Mittag an. Laufe am Glühweinstand vorbei. Glühwein steht da auf deutsch in großen Buchstaben geschrieben. Und: Glogi. Ich spüre meine kalten Glieder. Oh ja, so einen Glühwein, den könnte ich jetzt trinken! Ich gehe an die Theke und sage: „Glogi bitte.“ „Einen?“ Fragt die Frau. Ich nicke. Sie spricht weiter auf finnisch. Beendet den Satz, wartet. Schaut mich an. Irgendwie kommt mir diese Szene bekannt vor. „Excuse me…“ Sage ich. „Do you speak englisch? I know just one or two words in finnish…“ Sie lacht, freut sich. Sechs Euro kostet der Glühwein. Sechs Euro? Ja bin ich denn verrückt geworden? Aber er ist wirklich lecker und die gebrannten Mandeln (fünf Euro für 100g) macht der Mann gerade vor den Augen seiner Gäste selbst; er rührt in einer großen, dampfenden Schüssel.

Ich halte mein Glas umklammert, froh über die Wärme. Inzwischen ist es ein oder zwei Grad kühler geworden. Oder liegt es daran, dass ich den ganzen Tag unterwegs bin? Jedoch sind die Temperaturen immer noch weit entfernt von empfindlich kalt, das muss man doch schon sagen.

Meine Tasse umklammert quetsche ich mich zwischen weiteren Glühwein-Konsumenten hindurch zu den frei gewordenen Plätzen im Inneren der Hütte, die mit Fellen ausgeschlagen sind. Ich überlege, was es sein könnte, das sich da so warm an meinen Rücken schmiegt. Wölfe vielleicht? Füchse? Ob die gelitten haben?

Natürlich haben die gelitten, man hat sie mit Knüppeln erschlagen, du naives Kind, was denkst du denn?

Hm, aber wärmen tun die schon gut…

(Kleine Anmerkung am Rande: die Wölfe und die Knüppel entsprangen meiner bunten Fantasie – vermutlich handelte es sich hierbei um Renntierfelle. Renntiere werden üblicherweise geschossen.)

Ich sitze da und lasse meine Augen schweifen. Der Mann an der Mandelschüssel rührt weiterhin fleißig seine Mandeln und schäkert mit den Gästen. Eine kleine Japanerin (behaupte ich jetzt einfach mal so 🙂 ) steht vor dem Verkaufstresen an der Spitze einer immer länger werdenden Schlange Wartender und fragt in aller Ruhe die Verkäuferin über die Mandeln aus. „Sind die auch wirklich original?“ „Yes, das sind sie.“
Ich lasse meinen Blick über die Wand der Hütte gleiten. Wintersport in Italien, lese ich auf einem Plakat, das einen aufgemalten Skispringer zeigt. Auf deutsch. Ob das hier alles Deutsche sind? Na das wäre ja was. Da fliege ich in andere Sphären, um möglichst authentische finnische Erfahrungen zu machen und wo ausgerechnet finde ich Zuflucht?

Ich trinke meinen Glühwein leer und gehe weiter. Ich war versucht, ihn so langsam wie möglich zu trinken (schließlich war er teuer, nicht?), aber das funktioniert bei Glühwein nicht – er kühlt in den kleinen Becherchen unglaublich schnell ab.

Irgendwann bin ich wieder am See vor dem Hotel. Das steife Gras knirscht unter meinen Füßen. Es ist weiß und schimmert eisig im Licht der Laternen. Die starre, gläserne Oberfläche des Wassers sagt mir, dass auch der See zugefroren sein muss. Die blauen Licht-Illuminationen produzieren ihren Nebel und verbreiten eine winterliche Stimmung. Im nach oben gerichteten Lichtkegel der Laternen sehe ich kleine, schwebende Teilchen – Fliegen? Nach einer Weile des Starrens weiß ich: Es ist der langersehnte, fallende Schnee.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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