Europa, Finnland

Helsinki – Silvester mit Jane

Helsinki, Januar 2017

Das kleine finnische Gesicht schaut erwartungsvoll zu mir hoch. Sie hat ihren Satz zu ende gesprochen und wartet jetzt auf eine Antwort. Und ich spüre, wie ich rot werde…

Helsinki, Samstag Abend 19 Uhr Ortszeit; das Taxi hält vor dem Hotel Scandic. Meinem Hotel. Der Taxifahrer klärt mich auf, wie ich am schnellsten in die Innenstadt komme. Wenn ich das denn möchte.

Möchte ich im Moment aber nicht. Oben auf dem Zimmer fallen mir fast selbständig die Augen zu; ich lege mich ins Bett und verkrieche mich unter der warmen Decke. Verkrieche mich vor der Welt. Um zu schlafen, um ja nicht nachzudenken. Doch das ist ein Fehler, denn das Gedanken-Karussell in meinem Kopf dreht sich nun verstärkt. Bilder, Stimmen, Erinnerungen. Ich kann nicht abschalten.

Irgendwann stehe ich auf und ziehe mich wieder an. Ich kann ja eh nicht schlafen. Ich werde rausgehen und schauen, von wo aus man hier das Feuerwerk sehen kann. Außerdem wollte ich mir noch die blau angeleuchteten Bäume aus der Nähe anschauen.

Das Hotel ist hell erleuchtet. Ich trete auf die Straße. Sehr viele Menschen sind im Park am See unterwegs. Dieser ist direkt vor mir, ich brauche nur die Straße zu überqueren. Ich fotografiere die Illuminationen, den See, die sich spiegelnden Lichter. Mische mich unter Menschen. Trete wieder zur Seite, um noch ein Foto zu machen.
Das Ufer des Sees ist erfüllt mit Nebel. Es ist kein echter Nebel; die blauen Illuminationen produzieren ihn fortwährend. Sie selbst sehen aus wie Schiffe mit weißen Segeln. Schiffe im Nebel auf hoher See. Menschen bleiben stehen, lassen sich davor fotografieren. Der ganze Park leuchtet blau.

Auch wenn sie in alle Richtungen gehen, bewegt sich der Menschenstrom größtenteils auf das Stadtzentrum zu. Sie folgen der Musik. Ich folge ihnen.
Ab und an bleibe ich stehen; zum Beispiel, als ich diesen Künstler an seinen Blechtrommeln sehe. Zwei Mädchen neben ihm lassen Wunderkerzen abbrennen. Es sieht aus wie ein magischer Augenblick aus einer Weihnachtswerbung.

Doch dann kommt jemand von der Aufsicht, nimmt ihr die Kerze weg und zertritt das kleine Flämmchen im Matsch. Anscheinend ist das hier nicht erlaubt. Ich laufe weiter. Folge wieder der Musik.

Ich komme zu einem großen Platz. An mehreren Stellen sind große Leinwände aufgebaut, auf denen eine Silvester-Show ausgestrahlt wird. Konzerte werden live übertragen. Ich stelle fest, dass die Finnen einen sehr düsteren Geschmack haben, was die Musik betrifft. Es ist vermutlich der Dunkelheit geschuldet. Ich höre zuerst die Musik und glaube fast an einen Auftritt von HIM. Dann erst trete ich vor die Leinwand. Der Künstler, den ich erblicke, sieht aus wie ein Vorzeige-Italiener aus einer Liebesschnülze; schwarze, gegelte Haare, ein weißer Anzug, ein Amore-Gesicht. Und er gibt die düstersten, rockigsten Klänge von sich, so dass man sich, schließe man die Augen, dort eher eine Metall-Band vorstellen könnte.

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Ich gehe weiter, suche ein Plätzchen; zum Hinsetzen vielleicht? Eine Treppe führt nach oben. Wohin nach oben? Menschen laufen rauf und runter. Das finde ich heraus, wenn ich die Treppe hochsteige. Also los.
Oben stehe ich dann vor einem nicht allzu hohen Gitterzaun, neben einigen anderen Menschen.Von hier oben kann man den gesamten Platz und die Bühnen überblicken. Alle stehen sie da und warten. Ich stelle mich dazu, lehne mich ans Gitter. Überlege, wie ich am besten eine Zigarre rauchen kann, ohne den Leuten ins Gesicht zu pusten.
Jemand drängelt sich neben mich. Ich schaue mich um; eine kleine Frau lächelt entschuldigend, während sie versucht, an den Menschen vorbei etwas von der Bühne zu sehen. Ich lasse sie neben mich und mache mich kleiner.

Irgendwann hält sie mir etwas hin. Magst du auch? Ich sehe zunächst nur eingewickeltes Papier und überlege, ob das was zum Rauchen sein könnte; das Päckchen sieht im Dunkeln aus wie die Packung Papers, die Stefan immer kauft. Doch dann sehe ich sie essen. Es sind Waffeln, die sie mir da anbietet. Dankbar greife ich zu. Wie ungewohnt für mich, dass Menschen mit einem Fremden, der neben ihnen steht, ihr Essen teilen; in Deutschland wäre das wohl so nicht passiert. Ich überlege kurz, ob ich ihr im Gegenzug eine meiner Zigarillos hinhalten soll, verwerfe den Gedanken jedoch wieder. Eventuell raucht sie nicht jeder ganz so gerne wie ich.

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Weihnachtsbeleuchtung auf Helsinkis Straßen

Die kleine Frau streckt sich zu mir hoch und fragt mich etwas auf finnisch. Sie hat ihren Satz zu Ende gesprochen, wartet jetzt auf eine Antwort von mir. Und mein Gesicht wird warm.
„Ähm… entschuldige, aber sprichst du zufällig Englisch? Denn ich spreche leider kein Finnisch…“
„Ah…“ Sie überlegt kurz, nickt dann, lächelt verlegen. Ihre kurzen, dunklen Haare schauen unter einer weißen Mütze hervor. „Findet das Feuerwerk hier statt?“ Fragt sie mich dann. Ich glaube schon, sage ich, die Menschenmassen betrachtend.

Woher ich komme, was ich hier machen würde. Aus Deutschland? Woher aus Deutschland? Sie hätte Freunde in Deutschland.
„Bist du hier alleine oder triffst du noch jemanden?“ Frage ich sie, obgleich ich sehen kann, dass sie immer wieder mit jemanden telefoniert. Nein, sie ist zwar alleine hierher gekommen, trifft hier aber gleich eine Freundin.

„Das ist mein Sohn.“ Sie zeigt mir ein Foto von einem schlafenden Baby.“ Er ist jetzt zu Hause bei meinem Mann. Ich habe noch nie ein Feuerwerk gesehen, noch nie in meinem Leben. Das ist das allererste Mal.“ Sie erklärt mir, dass sie eigentlich nicht aus Helsinki kommt. „Weit weg von außerhalb.“ Und da sie noch nie ein Feuerwerk gesehen hatte, musste sie herkommen. „Ich musste einfach.“ Sie lacht. „Ich heiße Jane.“ Jane kommt aus Vietnam, lebt seit über einem Jahr hier.

Ach, aus Vietnam kommst du? Rufe ich und wundere mich. Von wegen kleines finnisches Gesicht… In Vietnam konnte sie damals nicht ausgehen wann sie möchte, da hatte sie eine andere Familie und es gab jemanden, der wollte, dass sie immer zu Hause bliebe, erklärt sie mir. Und jedes Jahr an Silvester sei sie zu Hause geblieben; so kam es, dass sie noch nie Feuerwerk gesehen hatte.
„Was gefällt dir an der Stadt besonders gut?“ Will Jane von mir wissen.

Was mir besonders gut gefällt?

Puh…

Ich erkläre ihr, dass ich erst seit 19 Uhr heute Abend im Hotel angekommen bin und noch nicht wirklich etwas von der Stadt gesehen habe.

Wieso gerade Helsinki, fragt Jane.

Wieso gerade Helsinki?
Es ist etwas Besonderes, etwas Neues, es ist kein typisches Reiseziel, vor allem jetzt im Winter nicht. Man muss einen Grund haben, um hierher zu kommen. Nicht jeder kommt hierher. Menschen fliegen nach Spanien oder Italien, besuchen warme Länder… wer würde auf die Idee kommen, in winterlichen, kalten Zeiten in ein noch kälteres Land zu reisen? Ich versuche, ihr das alles zu erklären. Es werden spärliche zwei Sätze draus.

„Und was gefällt dir?“ Frage ich.

Jane lebt seit circa einem Jahr hier. An der Stadt gefallen ihr vor allem die Menschen, sagt sie. „Wenn du ihnen anfangs begegnest, wirken sie kühl und zurückhaltend, doch sobald du sie besser kennengelernt hast, sind sie sehr lieb, warm und herzlich. Ja, am meisten gefallen mir die Menschen.“ Und am wenigsten mag sie das Wetter in Finnland. Auf meinen Einwand hin, es sei gar nicht so kalt hier und in Deutschland wäre es momentan um einiges kälter, sagt sie:
„Nein, die Kälte geht. Es ist die ständige Dunkelheit. Sie macht depressiv.“ Das Zwielicht, welches ich als erstes wahrnahm, als ich aus dem Flieger stieg.

Irgendwann telefoniert sie immer öfter. Auch die Menschenmassen unter uns werden immer dichter. Sie fließen zusammen, verschmelzen, schwappen über. Es ist faszinierend, das von oben zu beobachten. Menschenströme bewegen sich in die eine oder andere Richtung, doch die Tendenz ist eindeutig: Die Menge mehrt sich. Es ist halb zwölf.

Ab und zu flackert schon ein vereinzeltes Feuerwerk auf.

Jane telefoniert jetzt abwechselnd und winkt nach hinten in die Menge. Ihre Freundin muss schon ganz in der Nähe sein.
Dann, nach einiger Zeit, finden sich die zwei Frauen; ihre Freundin, noch kleiner als sie selbst, stellt sich neben uns. Wir geben uns die Hand. „Kasia.“ Sie sagt mir ihren Namen, doch ich verstehe ihn nicht richtig und will nicht nochmal fragen. Dann gebe ich die Hand der Frau, mit der ich mich schon die ganze Zeit unterhalte. Zunächst zögert sie, dann ergreift sie sie. „Ich heiße Jane.“ Du hast so warme Hände und meine sind so kalt, erklärt sie.

Um fünf vor zwölf ist kein Künstler mehr auf der großen Leinwand zu sehen, nur die Musik spielt noch. Kurz vor zwölf wird die Musik immer lauter, drängender. Und um Mitternacht schießen die Raketen hoch. Die Show ist toll, mit Musik untermalt.
„Wow!“ Ruft Jane immer wieder. Und auch ich bin glücklich. Ab und zu strahlen wir uns an oder sie zeigt mir eine neue, noch schönere Explosion. Ich halte mein Handy hoch. In den Gesichtern der Menschen um mich herum ist Begeisterung zu sehen. Und ich erlebe gerade Silvester in Helsinki.

Nach fünf Minuten ist das Spektakel vorbei, es kommt wieder Bewegung in die Menge. Die Menschen nehmen ihren Kurs in alle Richtungen wieder auf. Wir drehen uns mit strahlenden Augen zueinander um. „Happy New Year!“ Ruft Jane. Wir drücken uns.
Danach will ich gehen.

„Es werden heute Abend viele Menschen unterwegs sein und es wird voll werden. Sei vorsichtig, wenn du in dein Hotel läufst.“ Sagt Jane zu mir.

Ich laufe die Treppe hinunter und finde mich inmitten der Menschenmassen wieder, die ich gerade noch von oben betrachtet hatte. Es läuft weiter Musik, Menschen stehen da mit Sektflaschen und Gläsern in der Hand, auf den Straßen ist eine einzige Party im Gange. Ich überlege, ob ich dabei bleiben soll. Mich reizt die Musik und der Gedanke ans Feiern, aber ich friere (ja, jetzt doch noch…) und ich befürchte auch die angeheiterte Stimmung, mache mir Sorgen, dass sie kippen könnte. Viele der Gäste sind jetzt schon betrunken.
Die Russin von heute Abend kommt mir ihren hohen Hacken kaum voran. Sie scheint auch schon hackedicht zu sein. Ich lasse sie vor dem Hotel hinter mir.

In der Lobby vor dem Scandic Hotel hat sich vor den Aufzügen eine lange Schlange gebildet, so als ob gerade halb Helsinki in das Scandic zurückgekommen sei und auf ihre Zimmer wollte. Auch die Sessel für die Wartenden sind voll besetzt.

Auf dem Zimmer fallen mir die Augen zu. So viele Eindrücke. Und noch schöner als das Feuerwerk war die Begegnung mit der herzlichen Jane. Sie war so süß und so lieb, sie erzählte mir von ihrem Sohn und teilte ihre Waffeln mit mir. Ich bin ihr noch nie zuvor begegnet, habe sie dort wie durch einen glücklichen Zufall getroffen, doch sie hat mir etwas so Besonderes gegeben; ich bin alleine hergekommen und war dann nicht mehr alleine, es war plötzlich eine Nähe da, ich erlebte diesen Augenblick, freute mich mit ihr und sie mit mir. Ich werde diesen Silvester in Helsinki nie wieder vergessen.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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4 Kommentare

  1. Das wäre einen Tick zu einsam für mich. Aber ich würde gerne die Samen in Lappland besuchen und mehr über ihre Kultur erfahren.

    Liebe Grüße
    Renate

    1. Manchmal braucht man die Einsamkeit… 🙂

      Liebe Grüße
      Kasia

  2. Liebe Kasia,
    du bist allein zum Silvester nach Helsinki gefahren? So ähnlich wie es dir mit Jane erging, ging es mir mal auf einer Computermesse in Wiesbaden. Ich wurde dienstlich dorthin geschickt, habe dann die für uns wichtigen Stände abgeklappert. Danach fand ich die Messe grottenlangweilig, bis eine kleine Chinesin neben mir stand. Ihr ging es wie mir, wir haben uns lange auf Englisch unterhalten. Das war richtig nett und keiner war allein.
    Liebe Grüße
    Renate

    1. Manchmal sind die Begegnungen das schönste, was einem bei so einem Event (oder Reise) passieren kann.
      Ja, es war eine Zeit der beruflichen Veränderungen und ich habe einfach mal ein wenig Abstand von allem gebraucht, und viel Ruhe. Und Finnland versprach mir genau das. Ich würde gerne noch einmal hin, diesmal nach Lappland oder so. Mir schwebt ein einsamer See vor und eine Blockholzhütte, darin eine Kräutersauna und ganz viel Zeit nur für mich 🙂

      Liebe Grüße
      Kasia

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