Europa, Polen

Die Heimreise – Unbekanntes Westpolen

Still wiederhole ich im Geiste vor mich hin: Wiesen. Regen. Beeindruckende Landschaft. Ein Bunker? Alte, verlassene Häuser. Zahn der Zeit. Ich weiß, dass Reiseeindrücke leiser werden und verblassen. Irgendwann helfen Bilder, sich zu erinnern. Und das Lebendige: wie es geklungen, wie es gerochen hat, das Rauschen verklingt. Wenn man es nicht rechtzeitig festhält.

Die Heimfahrt nach einem üppigen, gefräßigen und partyseligen Osterfest bei meiner Familie. Was bin ich froh, das Fahrzeug nicht führen zu müssen. Die Müdigkeit tanzt noch in meinen Venen und zusammengerollt auf dem Beifahrersitz versuche ich, zu schlafen. Hinter mir kitzelt das Blatt einer Palme mein Genick. Meine Mutter hatte mir Zimmerpflanzen versprochen; kistenweise packen wir meine neue, grüne Beute auf den Rücksitz des VW Touran. Unter dem missmutigen Blick von Stefan. Dieser gibt ab und zu ein unzufriedenes Knurren von sich, das sowohl von mir als auch von meiner Mutter frohgelaunt ignoriert wird. „Schau mal, das passt alles noch rein.“ *Knurr.* „Schau mal, hier hinter den Sitz. Oh, und da im Fußraum.“ Voller Elan wickelt Mama die Grünpflanzen in Folie. „Damit sich die Erde nicht verteilt.“ Sie ist unglaublich kreativ und entschlossen, wenn es darum geht, mich zu beschenken. Alles passt noch rein, das kleinste, freie Fleckchen wird genutzt.

Dann fährt er los, unser mobiler Garten. Hinüber über die Grenze, zurück nach Deutschland. Ob wir angehalten werden, frage ich nicht. Nein, solange die Pflanzen nicht nach Hanf aussehen, vermutlich nicht. Gegen Zimmerpalmen hatte noch niemand etwas. Wie kann man Zimmerpalmen nicht mögen?

*Knurr.*

Endergebnis

Das fabelhafte Wetter der letzten Tage – wir hatten zeitweise über 28-29 Grad – wechselt zu bewölktem Himmel und Nieselregen. Die Temperaturanzeige kracht um fünfzehn bis siebzehn Grad herunter. Ich bin froh, was Warmes an Kleidung dabei zu haben. Eingekuschelt in einen pelzigen Mantel betrachte ich die Landschaft. Da, ein Reh steht im Nebel auf dem Feld. Dort, ein weiteres. Die Rehe haben sich auf Polens landwirtschaftlichen Flächen kräftig vermehrt; als Rückzugsort nutzen sie die wenigen, grünen Ecken, auf denen Wildwuchs herrscht und das Dickicht niemanden eintreten lässt. Davon gibt es immer wieder welche und ich bin froh, dass trotz aller Kulturlandschaft Platz für das Verfallene, für Lost Places, für ein wenig Natur bleibt.

Hinter Breslau, in Richtung Grenze, fahren wir von der Autobahn herunter. Vielleicht sind dem einen oder anderen noch im Gedächtnis die Gespräche über Grenzkontrollen, die temporär eingeführt werden sollten. Da das auch die Hauptgrenzübergänge zu Polen betrifft, stapeln sich hier die Fahrzeuge. Schon weit vor der Grenze beginnt es, sich zu stauen. Auf der Hinfahrt hatten wir das Problem nicht, die Rückfahrt gestaltet sich langwieriger. Und das alles, um angebliche Flüchtlingsbewegungen über die östlichen Länder zu unterbinden. Danke, Deutschland, dass du mich warten lässt.

Genau hier zeigt sich die erste Diskrepanz zwischen mir und meinem Liebsten. Während ich mich in den Stau stellen und abwarten würde – erfahrungsgemäß dauert so ein Stau nie länger als das umständliche Umfahren über Feld und Wiesen – , macht mein Stefan genau das. Er umfährt den Stau. „Um in Bewegung zu bleiben.“ Also runter von der Autobahn; wir vertiefen uns in die westpolnische Landschaft. Willkommen in Niederschlesien, durch die Autoscheibe hindurch betrachtet.

Ich gebe zu, ich bin nicht unzufrieden. Zu Beginn zumindest. Doch ich weiß, dass diese kleine Exkursion dazu führen wird, dass sich unsere Ankunft um einige Zeit verschiebt. Indessen saugt Stefan die Landschaft in sich auf. Polen ist ja noch so wild und spannend und unentdeckt für euch, und gerade in Westpolen sind viele deutsche Spuren geblieben. Hier und dort Fachwerk, „eindeutig deutsche Bauweise“, sage ich mit Kennerblick. Ehemals prachtvolle Häuser mit Stuck und Verzierungen, aus denen die Zeit die meiste Schönheit herausgesaugt hat. Hier hat der Verfall System, denn abgerissen werden dürfen die Gebäude nicht (Denkmalschutz!), doch für die Restaurierung ist oft kein Geld übrig. So verwittern sie, wunderschöne Villen, und geben einen verblassten Eindruck der Zeit wieder. Sie tragen in sich noch die Schönheit dessen, was war, lassen die Fantasie spielen und sind stumme Zeugen der langsamen Zerstörung. Konservieren die Vergangenheit, lassen sie mit der Gegenwart verschmelzen.

Wir sind absolut hingerissen. Von den kleinen, von keinem beachteten Schmuckstücken dieser Gegend. Diese fabelhaften Kirchen, in den kleinsten Orten, die man sich vorstellen kann. Vier Häuser, fünf Bewohner, doch die Kirche, Leute, reißt alles raus. Manche der Kirchen haben orientalisch anmutende Kuppeln. Einige leuchtend gelbe Wände. Wieder andere sehen schon sehr deutsch aus – was man eben hier so kennt. An den Kirchen sind Friedhöfe zu sehen. Gar nicht so selten, diese alten Friedhöfe, die noch die Bedeutung „geweihter Erde“ kennen.

Große Höfe, die verlassen wirken. Mit „groß“ meine ich wirklich groß. Meistens gehören hier ein Herrschaftshaus und Behausungen für die Bediensteten dazu. Es war ein ganzes, gut funktionierendes System in diesen mit einer Mauer umgebenen Gemäuern. Ställe für Pferde, manchmal ein kleines Schloss. Irgendwo hinten vermutlich eine Parkanlage, ein Teich. Ein solches Gehöft durften wir letztes Jahr in der masurischen Gegend, ehemals Ostpreußen, betrachten. Wie damals, sind die Gehöfte auch heute verlassen. Ich kann nicht sagen, wem sie gehören, doch leben tut hier niemand mehr.

Große Kreuze am Wegesrand, mit Vorliebe an Weggabelungen. Ein bunter, gequälter Jesus. Stefan erinnert sich an eine interessante Gegebenheit: als wir vor rund zehn Jahren ebenfalls durch die polnische Pampa fuhren. Ein bescheidenes Dorf, ärmliche Höfe. Dafür ein Kreuz am Wegesrand, groß wie der Eifelturm. Okay, das war übertrieben. Aber trotzdem, ihr wisst schon. Und wusstet ihr, dass die weltweit größte Jesusstatue nicht in Brasilien, sondern in Świebodzin (dt. Schwiebus) in der Woiwodschaft Lebus im Westen Polens steht? 36 Meter ist dieses Ungetüm hoch. Ein Geschenk der kirchennahen PIS an die zunehmend säkulare Bevölkerung.

„Wie platt doch das Land ist.“ Sagt Stefan, der diese Tatsache überaus faszinierend findet. Tatsächlich ist der weitläufige Rundumblick etwas Besonderes für Menschen wie uns, die in Süddeutschland ständig von irgendwelchen aufragenden Hügeln umgeben sind. Tatsächlich entdecke ich nur eine Erhebung, und die scheint mir menschengemacht zu sein. „Schau mal.“ Sage ich zu Stefan, der sich über das stellenweise auftretende Kopfsteinpflaster quält, welches manche polnische Landstraßen zu verbinden vermag. Rums rums rums… Die Kopfsteingepflasterte Strecke endet schnell, wir haben Glück. Auf den Masuren durfte ich ganze zehn Kilometer über so etwas „rumsen“, mit 25-30 km/h. Dafür halten solche Wege ewig. Habe ich gehört.

In der Erderhebung, in der ich längst einen Wall aus dem Krieg vermute, ist plötzlich eine verschlossene Tür zu sehen. Ich wusste es, da ist etwas. Leider bleibt keine Zeit zum Erkunden und ringsum sind Häuser und kleinere Höfe – auf fremden Feldern herumzuklettern macht sich nicht so gut. Ich wende meine Aufmerksamkeit der Landschaft zu. Alte Bäume wiegen sich im Wind. Uralte, knorrige Weiden, in denen – nicht zu vergessen! – kleine Teufelchen hausen. Dramatisch dunkler, kräftig blauer Himmel, wie ihn nur ein Gewitter zaubern kann. Saftig grün fluoreszierende Weiden. Frisches, helles Laub. Pferde auf einer Wiese. Sonne und Regen, Licht und Schatten. Überall glänzt Wasser auf den Straßen, das Nass spiegelt die Sonne wie ein zu grell geratenes Leuchtfeuer. Die Landschaft hier scheint zu schlummern mit ihren Häusern, mit ihren Höfen, schläft den Schlaf der Vergessenen. Meine Großeltern wurden nach dem Krieg vertrieben. Sagte mir einst eine deutsche Freundin. Die Deutschen erzählen, wir hätten sie vertrieben. Glaube keinem davon. Niemand hat sie vertrieben. Wir haben es ihnen nur… weniger angenehm gemacht. Erzählte mir mein Opa. Es gibt ein paar abgedroschene Sprüche, die hierbei passen würden. Dass die Wahrheit im Krieg als erstes stirbt. Oder dass die Sieger die Geschichte schreiben. Und das alles nur, weil es ein paar wenige gibt, die über Welten zu herrschen bereit sind. Und den Hals nicht voll kriegen.

Nachdem ich mich entschlossen habe, endlich einmal ein paar Bilder zu machen, kommt nicht viel Spannendes mehr. Nur noch diese eine Landstraße voller Löcher im Asphalt, so groß, dass man ein Auto darin versenken könnte (und ja, auch das ist übertrieben…). Ganz, ganz langsam umfahren wir die mit Wasser gefüllten Krater, nicht wissend, wie tief sie wirklich sind. Geht es darin hinein in eine andere Dimension? Vielleicht. Wir wollen es nicht ausprobieren. Das Blöde ist; wir hätten eine Parallelstraße nehmen können, ausgebaut, asphaltiert und ohne Löcher. Doch solche Details sind auf der digitalen Karte nicht zu sehen, beides läuft unter „Landstraße“. Schon bald winkt uns das blaue „Bundesrepublik Deutschland“ Schild entgegen. Endlich in Deutschland. Zu sehen sind alte Anlagen der ehemaligen Bergbauindustrie. Wir landen in Potsdam, schönes Städchen mit restaurierten Steinvillen. Ein Ort zum Wiederkommen, um einen genauen Blick drauf zu werfen. Nicht heute. Es ist schon spät, bald wird es dunkel, es geht nur noch schnurstracks auf die Autobahn. Zuhause, wir kommen.

Potsdam

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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8 Kommentare

  1. Eine lange, vollbeladene Rückfahrt. Doch voller interessanter Einblicke. Wie heißt es doch so schön? Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Und so manches mehr.

    1. Und Zimmerpflanzen halten die Luft frisch 😉 Westpolen ist eine schöne, spannende Region. Bei Gelegenheit will ich mehr davon sehen, irgendwann.

  2. „there’s no Place like Home“ – sagte schon Dorothy im Musical „Wizard of OZ“. Schön wenn man den Luxus hat zu wählen. Polen ist sicher auch ein schönes Land – wie viele andere außer Deutschland auch. Viele Länder haben eben ihre Sonnenseiten aber auch ihre schäbigen Ecken. Wer das Glück hat auf der Sonnenseite leben zu können – es sei ihm gegönnt.
    Mal zu dem leidigen Thema „Drittes Reich“ und den Folgen:
    Aktuell ist ja mal wieder Ausländerfeindlichkeit modern. Und das gegen alle, die nicht fehlerfrei Deutsch sprechen (witzigerweise können das die Braunköpfe der AfD Anteilsmäßig am wenigsten in der deutschen Bevölkerung und ich sehe Migranten, die nach 3 Jahren in Deutschland die Grammatik besser beherrschen als ein „Geburtsdeutscher“ mit 50 Jahren Spracherfahrung -:))
    Ich mag alte Feindbilder nicht – die Welt hat sich verändert und wir leben alle auf dieser blauen Kugel, die durch das All donnert. Hass, Mißgunst und Fremdenfeindlichkeit wird uns nur von oben aufdiktiert, weil es den Leuten ins Konzept passt und sie an die Macht wollen. Von denen und von verbitterten Betonköpfen, die alles hassen außer Gleichgesinnten. Das ständige beschallen aus den Medien ist aber leider ein ständiger Kampf stark gegenüber seiner Einstellung zu sein, dass es eben nur miteinander geht und alle Menschen das gleiche Recht haben auf diesem Planeten und auch in diesem Land zu leben. Futterneid? Es gibt mehr als genug Geld – es ist nur falsch verteilt.
    Ein junger Chinese hat es in einem Video auf den Punkt gebracht: „Jahrzehnte lang wurden Arbeitsplätze von der westlichen Welt nach China verlagert. Nicht um die Bürger wohlhabender zu machen, sondern die Milliardäre und Aktienbesitzer. China hat davon profitiert – aber sie haben das Geld nicht den Milliardären gegeben sondern in Menschen, Infrastruktur und Bildung investiert.“
    Das wollte ich nur mal kurz einstreuen, weil ich diese Altlasten mal über den Tischrand stoßen will.
    Kommen wir mal zu den Pflanzen. Die sind jetzt mal wieder alle bei mir eingegangen – war klar, das Topfpflanzen in den Harakiri-Modus wechseln – kaum dass ich die aus dem Karton pfriemel: „Ach, der schon wieder? Nee, da sterb ich lieber gleich!“
    Ich werde jetzt Hydrokulturen bestellen. Wasser werde ich ja wohl nachfüllen können, ohne dass die ihre Tonkügelchen nach mir werfen!
    Bleib gesund!
    CU
    P.

    1. Hallo Peter,

      danke für deinen schönen, langen Kommentar, den ich nicht zwischen Tür und Angel beantworten wollte, deshalb habe ich mir etwas Zeit gelassen. Beim genaueren Nachdenken gibt es diese alten Feindbilder auch in Polen, doch sie werden gezielt von der Politik zwecks Machterhalt aufrecht erhalten. Ein Feindbild zu haben schafft in der Bevölkerung eine Art künstlichen Zusammenhalt und das Bedürfnis nach starker Hand und Führung. Das ist es, was ich aktuell auf der Welt sehe. Vielleicht wird es eine Gegenbewegung geben und vielleicht wird sie stark genug sein. Wenn du aber die Bevölkerung fragst, dann wollen die meisten einfach nur ruhig miteinander leben. Im Osten des Landes, in den ehemaligen Regionen der Westukraine, ist sogar eine gemeinsame Sprache entstanden, die polnische, russische und ukrainische Elemente enthält, und das nur, damit die Menschen zusammen leben können. Wenn du die Polen fragst, ist die junge Bevölkerung modern, offen und politisch gut informiert. Sie sehen Deutschland als das Land, das es heute ist. Die Feindbilder sitzen in den Köpfen der Älteren, aber auch das nicht überall.

      Zimmerpflanzen: ein leidiges Thema, wobei ich da inzwischen mehr Übung aufweisen kann. Was bei mir im Akt des Freitodes über den Jordan springt, das sind die Gartenpflanzen. Ich bin so: „Okay, Pflanze, so und so sieht es aus, das sind deine Bedingungen, nimm sie oder stirb.“ Und die Pflanze so: „Okay… war schön mit euch.“ Tja, was soll man machen… nur die Harten kommen in den Garten oder so 😉

  3. Ich finde es immer ein wenig dubios, wenn Deutsche über die Vertreibung aus Osteuropa jammern, ohne zu erwähnen, wer den Zweiten Weltkrieg begonnen hat.
    (Aber wahrscheinlich waren sie alle gegen den Krieg, gegen die Nazis sowieso, heimliche aber dafür umso aktivere Widerstandskämpfer und haben in ihrem Keller höchstpersönlich Juden, Partisanen, den zukünftigen Papst und die 3. US-Panzerdivision versteckt.) :/

    1. Die meisten wären im Nachhinein wohl gerne Helden gewesen 😉 Ich will da gar nicht urteilen, denn um ehrlich zu sein bin ich in einem freien Land geboren und kam nie in die Verlegenheit, ein Risiko eingehen zu müssen. Ja, das Jammern über die Vertreibung stößt mir auch manchmal sauer auf, aber da gehe ich in keine Diskussionen mehr rein. Grundsätzlich haben wir jetzt einen annehmbaren Status Quo, wie ich finde, und es hat sich so etwas wie Akzeptanz zwischen beiden Ländern entwickelt. Das ist gut, denn das brauchen wir.

      1. Und insbesondere polnisch-deutsche Beziehungen wie deine tragen zur Völkerverständigung bei. 😉
        Dafür sollte es eigentlich EU-Fördermittel geben!

        1. Schon beantragt 😉 Aber irgendwie lassen die sich Zeit mit der Antwort… hm…

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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