Bonaire, September 2016
„Ich dachte mir, dass wir heute mal in den Norden der Insel fahren.“ Stefan faltete die Karte aus. „Hier…“ Er tippte auf einen großen, blauen Fleck „…soll es einen großen See geben. Und hier… einen Aussichtspunkt, von dem aus man die Salinen sehen kann…“
Es lebe die Zeitverschiebung.
Nachdem ich heute morgen so gar keine Lust hatte, aufzustehen (Augen kurz auf, gerade noch den rosaroten Sonnenaufgang registriert, dann Augen wieder zu), schlief ich mal so richtig ausgiebig aus. Und dachte dann: Na, jetzt müsste es doch eigentlich zwölf Uhr mittags sein oder besser noch: halb eins, doch es war erst halb neun. So hatten wir immer noch einen ganzen Tag Zeit.
Als wir im Auto sitzen und losfahren wollen, rümpfe ich kurz die Nase:
„Warum riecht es hier drin so nach Esel? Riechst du das nicht?“
Da sich die Esel in unserer Straße tagsüber immer noch nicht blicken ließen, ihre „Liebesgrüße“ links vor unserem Tor dafür immer mehr wurden, hatten wir schon seit langem den Verdacht, dass sie des Nachts hier in Banden entlang kamen und die Stadt unsicher machten, um am nächsten Morgen wieder spurlos… na ja, nicht spurlos, aber eben zu verschwinden.
Stefan zieht die Luft ein.
„Bist du in irgend etwas reingetreten?“
„Nein. Du?“ Er verneint. Wir fahren los. Stefan lacht und sagt: „Auf einmal kommt hinten auf dem Rücksitz so ein großer, schwarzer Eselskopf nach oben… I-HA! Will auch mit!“ Die Tiger-Szene in Hangover kommt mir in den Sinn.
An der Tankstelle stehen wir erstmal ein paar Minuten tatenlos herum. Dann steige ich aus und gehe an den Schalter.
Die Tankstellen auf Bonaire funktionieren gegen Vorkasse: Man zahlt so viel ein, für wieviel man tanken möchte; erst dann wird der entsprechende Beitrag getankt. Man kann nicht „übertanken“, denn die Zapfsäule schaltet sich vorher automatisch ab. Tankt man weniger, wird einem der Differenzbetrag wieder ausbezahlt.
Wir fahren aus der Stadt heraus in Richtung Norden. Die Kakteen werden zu richtigen Kakteenwäldern und die Straße immer holpriger und immer enger. Gesteinsbrocken liegen verstreut in der Gegend. Eine abenteuerliche Strecke, dachte ich mir; wenn hier mal Gegenverkehr kommen sollte, dann haben wir verloren.
Und es kommt uns tatsächlich ab und zu ein anderes Auto entgegen – es ist dann jedesmal ein Erschrecken auf beiden Seiten. Meistens jedoch rennen uns immer wieder kleine Eidechsen über die Straße – wir haben es inzwischen aufgegeben, ihnen ausweichen zu wollen. Irgendwann rufe ich jedoch:
„Brems!“
Ein großer Leguan rennt über die Straße und fällt beinahe ins Unterholz hinein. Langsam fahren wir weiter.
Der Weg schlingt sich immer höher. Manche Bäume unterscheiden sich von anderen: sie sind rostbraun und weisen eine seltsame, wie geflochtene Form auf.
Den Aussichtspunkt bildet eine Aussichtsplattform, die ein großes, gelbes steinernes Kreuz ziert. Ein Reisebus voller holländischer Touristen ist schon vor Ort. Man kann weit über die trockene, mit Felsen und Dornenbüschen und Kakteen übersäte Landschaft bis hin zur Küste blicken. Doch das Wetter ist an diesem Morgen trüb und der Himmel, wie gestern auch, größtenteils mit Schleierwolken verhangen. Die Salinen kann ich leider nicht sehen.
„Ich laufe kurz ne Runde!“ Rufe ich Stefan zu. Er grinst und nickt. Dies ist für ihn ein Zeichen: Kasia will alleine auf Entdeckungstour.
Ich laufe den Weg, den wir gekommen sind, ein Stückweit zurück. Ich will so einen verschlungen Baum fotografieren, außerdem hoffe ich auf einen weiteren Leguan, der mir zufällig vor die Linse springt.
Hier gibt es Mücken.
Eigentlich sind es ja keine richtigen Mücken, denn sie stechen nicht – aber lästig sind die Biester allemal. Sie sind winzig-klein, summen und landen einem im Gesicht, auf den Augenlidern, in den Nasenlöchern, in den Ohren… wahrscheinlich würden sie einem sogar ins Gehirn hineinkrabbeln, wenn sich ihnen die Möglichkeit böte.
Im Gebüsch selbst raschelt und knarrt es überall; Eidechsen flitzen hin und her – große, kleine, braune, grüne und auch solche, die hell-bläulich schimmern.
Euch will ich nicht, ich will einen Leguan! Doch zugegeben, ich bin fasziniert, was hier so alles keucht und fleucht… Als ich an einem der weiß blühenden Bäume stehe und die Fotos von den Blüten mache, entdecke ich noch etwas anderes: Hier gibt es Kolibris!
Ich schaue genau hin und doch weiß ich im ersten Moment, dass es einer ist. Er ist grün: mit gebogenem, kleinen Schnabel und kleinen Flügelchen schwirrt er von Blüte zur Blüte. Wesentlich Angst hat er vor mir nicht, und doch lässt er nicht näher als drei Meter an sich herankommen. Die meiste Zeit sitzt er einfach auf einem Ast ganz weit oben über mir und beobachtet mich. Manchmal schwirrt er umher, doch er verlässt den Baum nicht, an dem ich ihn entdeckt habe.
Ich folge dem Vogel, steige von Stein zu Stein, um nicht zu viele Geräusche zu verursachen, lasse mich von Mücken besiedeln – das alles, um ein brauchbares Foto zu bekommen. Jetzt wünschte ich, mein Objektiv hätte mehr Zoom. Mit Stefans Kamera hätte ich den Vogel mit Leichtigkeit gekriegt – sogar in Farbe.
Irgendwann laufe ich wieder zurück zum Pick-up. Der Kolibri war sehr geduldig, doch eine wirklich gute Aufnahme ließ sich leider nicht machen – die Technik. Und ich konnte dem Tier auch schlecht sagen, komm… setze dich kurz mal auf meine Hand…
Später versucht Stefan, eine Aufnahme zu bekommen. Doch der Vogel lässt sich nur kurz sichten und verschwindet.
Wir fahren den verschlungenen Pfad wieder herunter. Der dichte Kakteenwald bleibt hinter uns zurück und macht Platz der bereits vertrauten, trockenen Felsenlandschaft. In dem aufragenden, porösen Gestein sehen wir in der Ferne Höhlen – tiefe, schwarze, unregelmäßige Löcher, die an wilde Tiere und Höhlenmenschen denken lassen.
„Schatz, ich will versuchen, da hin zu kommen.“ Sage ich, nachdem wir angehalten hatten. Stefan sieht sich skeptisch das Gestrüpp vor uns an. „Mit diesen Schuhen?“ Doch da bin ich bereits schon aus dem Auto gesprungen. „Ich liebe dich!“
Anfangs laufe ich über eine weiche Kiesfläche, doch irgendwann komme ich an einen felsigen, zerklüfteten Boden an. Die Felsen sind porös und ausgespült, voller Löcher und kleiner Höhlensysteme. Trotz all der Aushöhlungen ist die Fläche jedoch erstaunlich hart und trittfest und scharfkantig. Wieder einmal fühlte ich mich an Mondgestein erinnert.
Immer sicherer hüpfte ich von Stein zu Stein, den Blick stetig zur Boden gerichtet, damit ich mir nicht das Genick breche. Ein quietschgelber Wellensittich fliegt an mir vorbei und lässt sich auf einer Kaktee nieder. Ich bekomme ihn nicht aufs Foto, ich brauche mehr Zoom! Mannooo!
Im Gestrüpp um mich herum knarrt und raschelt es. Ich schaue mich um. Irgend etwas größeres ist da anscheinend unterwegs. Ich halte nach wilden Eseln Ausschau, das hätte mir noch gefehlt, wenn ich hier einem begegnen würde! Auch blicke ich zurück in Stefans Richtung, doch der Pick-up ist bereits aus meinem Sichtfeld verschwunden. Also beschließe ich, die wilden Tiere wilde Tiere sein zu lassen und pirsche weiter vor.
Plötzlich bricht etwa sechs Meter von mir entfernt ein ziemlich großer Leguan aus dem Unterholz und flüchtet – ziemlich unnötig denn höchstwahrscheinlich habe ich mich dabei mehr erschrocken als die Echse.
Die riesigen Kakteen werden immer dichter, je weiter ich laufe. Ich fühle mich wie in einem Urwald. Nicht weit von mir entfernt bricht ein größeres Stück Kaktee ab und fällt zur Boden. Na, das sollte mal besser nicht passieren, wenn ich drunter stehe, ein Stück Kaktee auf dem Kopf macht sich bestimmt nicht so toll!
Doch irgendwann wachsen die Pflanzen so dicht, dass ein Durchkommen nicht mehr möglich ist. Auf Kuschelkurs mit der Botanik will ich hier nicht gehen, also trete ich den Rückzug an.
Zurück am Auto erzähle ich Stefan von dem Leguan. „Sooo groß war der!“ Na ja, er war wirklich groß…