Europa, Polen

Ostern 2024 zu Hause

Das Osterfest in Polen ist traditionell nicht das wichtigste Fest des Römisch-Katholischen Jahres. Das wichtigste Fest – zumindest für die Menschen – ist Weihnachten, wenn sich Familienmitglieder treffen und weite Reisen auf sich nehmen, um zu Hause zu sein. Wenn die polnische Diaspora aus aller Welt strömt und Geschenke aus neuen Welten mit im Gepäck führt.

Was ich mitführe, ist Bier. Einen ganzen Einkaufswagen voller Münchner Braukunst und belgischer Spezialitäten (es lebe die Vielfalt deutscher Supermärkte). Noch vor der Abfahrt schicke ich meinem Onkel ein Foto des bis zum Rand mit Flaschen gefüllten Einkaufskorbs. „Ob das wohl reicht?“ Schreibe ich dazu. Die Antwort von Onkel erfolgt prompt: „Bist du irre?“ Doch ich bin sicher, dass jede einzelne Flasche einen dankbaren Abnehmer finden wird.

Ob das wohl reicht? *kopfkratz*

Doch Ostern ist freilich ein ebenso guter Grund, um zusammen zu sein und Familientraditionen aufleben zu lassen. Am Karfreitag wird in Polen gearbeitet. Was anscheinend ganz normal ist. „Armes Land“, schreibe ich meinem Onkel. Ja, ließe sich nur mit Hilfsmitteln ertragen, antwortet er mit einem großen Smiley und schickt ein Foto des selbstgemachten Honigwodka hinterher. Karfreitag ist für uns Anreisetag.

Uns? Ja, richtig gelesen. Zum ersten Mal seit rund acht Jahren (meine ersten Berichte zu Polen findet ihr hier) habe ich Stefan weichgeklopft; er begleitet mich diesmal in die heimatlichen Lande. Viel zu wählen hatte er nicht. Denn der Gute hat sein Bequemlichkeitsglück überstrapaziert, und das wusste er auch. Der Protest auf mein entschiedenes „du kommst diesmal mit“ hält sich also in Grenzen. „Du bist drüben wie eine deutsche Volkssage.“ Kläre ich ihn auf. „Man redet viel darüber und erzählt sich davon, aber niemand weiß wirklich, ob es existiert.“

Die germanische Sage

Dass sich mein Liebster Schöneres vorstellen könnte als über Ostern die heimatlichen Gefilde zu verlassen, lasse ich argumentativ nicht gelten. „Du warst zu lange nicht dort.“ Predige ich. Stell dir einfach vor, Lindemann würde drüben auf dich warten, werfe ich in Gedanken hinterher.

Na, und fast ist es wahr. Es wartet zwar nicht Till, aber mein Onkel. Der kann zwar nicht singen, versucht es aber ganz fleißig – vor allem, wenn Honigwodka fließt. Eine Singeinheit am Abend ist bei uns Tradition, meist handelt es sich um die Barka (irgendwann mal erzähle ich mehr dazu; jede Familie braucht so ihre Insider).

Gerade überlege ich, ob ich euch den Samstag überspringe. Denn da passiert nichts Bewegendes. Oder je nachdem, für wen. Kleines Glück, nenne ich die Augenblicke mit der Familie, wenn es nichts Spektakuläres gibt. Das Wetter gibt alles; fröhlicher Sonnenschein wärmt den Garten. Stefan schläft auf seiner Liege ein, während ihn die Klänge der von meiner Mutter auf der Terrasse verteilten Windspiele („Die bimmeln so schön!“) ins Land der Träume wiegen.

Indessen sitze ich mit meiner Mutter in der Küche und schäle Gemüse. Der Haushund Koki hat mich bereits als einen Teil seines Rudels akzeptiert und versucht nun unentwegt, seinen Kopf unter meine Hände zu schieben, um Streicheleinheiten abzugreifen. Hin und wieder gibt es ein Leckerli, das „zufällig“ auf den Fußboden fällt. Das Vieh lässt sich kaufen, und zwar mit gekochter Kartoffel.

Nach Beendigung der Essenszubereitung – ein polnischer Gemüsesalat und zwei Kuchen stehen fertig auf der Ablage – werden die Kleiderschränke geleert. Stoßweise legt meine Mutter neue, ungetragene Kleidung aufs Bett. „Hier, das könnte dir passen.“ Der halbe Schrank ist abzugeben, denn kleine, böse Monster haben des Nachts Mamas Kleidung kleiner genäht. Die nun mir ist. Nach einer Modenschau vor dem wieder erwachten Stefan packe ich meine beiden vollen Taschen zum Auto. Stefans erschrockenen Blick („Noch mehr Klamotten. Wo willst du damit hin?“) ignorieren meine Mutter und ich gekonnt. Dann braucht es eben mehr Kleiderschränke, ist doch klar.

Ostersonntag. Onkel ist früh wach und brutzelt Essen in der Küche. Es gibt den traditionellen Fleischtopf mit Ei. Große Mengen Fleisch und Wurst werden in grobe Würfel geschnitten und im Topf gegart (so hat es die Oma immer gemacht, beharrt mein Onkel), anschließend leicht angebraten. Dazu kommen gekochte Eier und grob geraspelter Meerrettich. Geriebene rote Beete mit Meerrettich ergänzen das Gericht, und ein Gläschen Honigwodka vervollkommt es. Und ja, bei diesem Fleischtopf handelt es sich um Frühstück. Mein Stefan macht all das brav mit. Und dabei weiß ich; er mag keinen Wodka am Morgen. Eigentlich mag er überhaupt keinen Wodka.

Überhaupt ist klassische, polnische Küche ungesund. Zu alles und jedem gibt es zerlassene Butter, Sahne und eine Prise Zucker dazu. Kein Salat kommt ohne Sahne oder Mayonnaise aus. Und erst das Fleisch. Ihr müsst wissen, ich habe in diesem Jahr zwischen Februar und März/April mit einer veganen Ernährungsweise herumexperimentiert. Es lief sogar ganz gut. Doch nach einem Besuch in der Heimat, beim Anblick einer leckeren Wurstplatte (nichts für ungut, aber Polen hat die besten Fleischprodukte ever…) und einem bösen Blick von einem Onkel ist man kein Veganer mehr, will man nicht selbst zerteilt auf dem Tisch neben dem Wurstteller landen (an dieser Stelle kann ich euch wärmstens einen passenden Beitrag von Dr. Nerd empfehlen, satirisch, böse und ausgesprochen gut).

Nach jedem Heimatbesuch sieche ich im Fleischkoma vor mich hin. Da ich inzwischen kein Fleisch mehr esse, erleichtert die Sache nicht eben. Doch was tut man nicht für die Familie. Und für das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein und Traditionen fortzuführen, die von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Und je weiter weg man von zu Hause lebt, je weiter in der Welt verstreut die Menschen sind, umso wichtiger ist für sie etwas, woran sie sich festhalten können.

Später, als auch Kaffee und Kuchen vertilgt und ausgetrunken ist, machen wir uns auf zu einem Spaziergang. Der Friedhof von Zukow, wo meine Großeltern ruhen, will besucht werden. Auch darauf legt Onkel Wert. Und auch das ist so eine Tradition bei uns; auf fast allen Gräbern liegen frische (Plastik)Blumen, brennen neue Kerzen und liegen Osterdekorationen drapiert. Stefan hat sich ausgeklinkt; für ihn haben wir eine Liege im Garten besorgt. So wartet er lesend und dösend auf unsere Wiederkehr und ist gar nicht so unglücklich darüber.

Gar nicht so unglücklich

Wer nicht warten kann, ist Koki. Sehnsüchtig späht er aus traurigen Hundeaugen nach meiner Mutter, springt hoch am Zaun und versucht, sich einen Weg durch das morsche Holz zu bahnen. Koki will nicht verlassen werden; der junge Welpe versteht „nur mal für eine Stunde weggehen“ noch nicht so richtig, und an der Leine laufen klappt nicht – in seinem Überschwang hat der Hund Mama kurzerhand in den Matsch befördert. Koki soll also mit Stefan daheim bleiben, doch Koki will nicht. Drei Mal büxt der Rüde aus, bis meine Mutter schließlich ihr Vorhaben, uns zu begleiten, aufgibt und bei ihm bleibt. Da waren’s nur noch drei: Jacob, Onkel und ich.

Vor dem Zwischenfall im Matsch

Der Weg zum Friedhof ist gesäumt mit blühenden Obstbäumen, blühenden Sträuchern und alten, knorrigen Weiden, in deren Stämmen kleine Teufel wohnen – wenn man polnischen Sagen glauben mag. Es ist ein warmer, windiger Tag. „Wie auf Aruba“, würde Stefan jetzt sagen. Aruba, die Insel unter den Winden.

Faszinierend, wie flach das zentrale Polen ist. Keine Hügel, keine einzige Erhebung; das Land ist platt, wie mit einer Walze bearbeitet. Vor allem auf dem Land gleitet der Blick weit, weit über die Felder. Normalerweise herrscht hier Stille; seit einigen Jahren aber hört man das Rauschen der neu gebauten Autobahn. Mein Onkel merkt an, dass er hier nicht wohnen wollte. „Warum nicht?“ Frage ich. Er macht eine weitläufige, die Felder umfassende Handbewegung. „Ist es etwa leise?“ Fragt er rhetorisch. Hm. Für mich ist es leise. Im Vergleich zu der Geräuschkulisse, die in so vielen deutschen Orten herrscht. Doch ich sage nichts. Hier, in der polnischen Pampa, hat sich gerade etwas von „Himmlischer Ruhe“ zu „Irdischen Halbruhe“ verändert, und das muss man respektieren. Dieses kaum hörbare Rauschen im Hintergrund des Bewusstseins ist für die Menschen gleichbedeutend mit Krach.

Plattes Land

Auf dem Friedhof selbst erzählen wir uns Geschichten. Von Oma und Opa. Von ihrem Leben, und wie es kam, dass Opa die Oma um so viele Jahre überlebte. Wir kommen zu dem Schluss: das Wichtigste sind wir. Die, die übrig sind. Dass wir uns nicht aus den Augen verlieren, egal, wohin auf dieser Welt es uns verschlägt.

Zu Hause wartet ein überglücklicher Hund auf uns.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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13 Kommentare

  1. Ja, Bier können wir hier in Deutschland. Na gut, die belgische Plörre will ich dann auch mal gnädig durchgehen lassen 😅. Hauptsache, ihr seid nicht verdurstet oder habt eine Wodka-Vergiftung erlitten. Dem armen Stefan hast du ja ganz schön eingeschenkt. So insgesamt, nicht nur den Alkohol. Wie kommt er denn eigentlich sprachlich klar mit deiner Familie? Sprechen alle englisch?

    1. Also, belgisches Bier finde ich ganz lecker 🙂 Was trinkst du denn gerne für welches?
      Stefan hat sich ganz gut eingefügt, muss ich sagen. Ja, einiges war eine Umstellung. Meine Mutter und mein Onkel sprechen beide deutsch, da sie eine Zeit lang in Deutschland gelebt haben. Mit den Kids ging es auf englisch. Insgesamt haben sie sich ganz gut verstanden.

      1. Ach, beim Bier bin ich eher klassisch unterwegs. Becks oder Karlsberg, letzteres aus patriotischen, saarländisch motivierten Gründen 😁.

        1. 🙂 Die Motive verstehe ich

  2. Das gute alte deutsche Leffe Blond. Lecker. Grins

    1. Das gute, „deutsche“ Leffe hat unser Fest gerettet 🙂

  3. Wie heißt Euer österlicher Fleischtopf mit Ei? Würde das Rezept gerne googeln (oder mir von Dir zumailen lassen…).

    1. Der Fleischtopf mit Ei hat leider keinen wirklichen Namen. Bei uns wird er als Smazonka bezeichnet, was grob als Pfannengericht durchgeht. Das Rezept schicke ich gerne via Email durch.

  4. Die polnische Küche lernte auch ich etwas kennen, weil meine Eltern sowie auch Schwiegereltern ursprünglich aus Schlesien stammen, liebe Kasia und beim ersten Bild dachte ich deshalb erstmal an Zurek im Brottopf, was jedoch nicht mit dem Rezept hier übereinstimmt.
    Ich mag die polnische Küche, hab auch manches davon übernommen und zum Glück gibt es bei ins in der Nähe einen polnischen Supermarkt, in dem ich immer wieder mal gerne einkaufe.😊
    Liebe Grüße, Hanne

    1. Liebe Hanne, das Bild zeigt tatsächlich Zurek in Brottopf, und die Rezepte für dieses Gericht variieren je nach Region. Die harte Brotkruste wird extra für diese Art Suppe hergestellt.
      Es ist immer schön, wenn man durch Familienmitglieder Zugang zu einer anderen Kultur erhält. Die polnischen Supermärkte frequentiere ich vorwiegend kurz vor Weihnachten, da es dort Zutaten gibt, die ich nirgend sonst finden kann.

      Liebe Grüße

  5. Mmhhh, belgisches Bier, lecker!
    Meiner Meinung nach (obwohl ich aus Bayern bin) das beste und vielseitigste Bier der Welt.

    Und wie flach Polen ist, habe ich auch – weniger fasziniert, mehr erschrocken – festgestellt, als ich letztes Jahr mit dem Zug von Wroclaw nach Bialystok gefahren bin.
    Zugegeben, das mag schon praktisch für die Landwirtschaft oder für den Bau von Eisenbahnlinien sein. Aber irgendwie deprimiert mich so flaches Land immer.

    1. Bei so viel offener Fläche pfeift einem der Wind kräftig um die Ohren und die Sommer fühlen sich kälter an. Außerdem gibt es nichts zum Anschauen. Wie sehr ich die ersten Hügel, die ich in deutschem Odenwald gesichtet habe, feierte 😉

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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