Europa, Island

Eisige Schönheit – Der zerklüftete Charme der Westküste

Einsam ist es auf Islands winterlichen Wegen. Wie wir so vor uns her fahren, mit unserem Reisebus beinahe die ganze, schmale Fahrbahn einnehmend, begegnen wir kaum einer Menschenseele. Der Osten Islands scheint für Ausflüge aller Art beliebter zu sein als die Westküste. Kein Wunder, liegen im Osten viele landschaftliche Attraktionen nahe beieinander. Der Westen hingegen wartet „einfach“ nur mit seiner abweisenden, kalten Stille. Links der Fahrbahn, dort, wo Felswände in die Höhe streben – erstarrtes Wasser, eingefangen mitten in der Bewegung. Das trockene Gras trägt die fahle Farbe vom Wüstensand. Passieren wir die weitläufigen, mit grünem Moos und Flechten bedeckten Flächen der Lavafelder, so verwandeln sich spitze Steine in Wächter, die kauernd ihre Umgebung im Auge behalten.

Das Farbspiel am Himmel spielt sich hinter den Wolkenschichten ab. Nur manchmal ist ein heller, gelber Schimmer zu erahnen. Dort versucht sich die Sonne ihren Weg zu bahnen. Doch es gelingt ihr nicht, und so legt die Erde ihre frostigen Ketten nicht ab. Es ist nicht allzu kalt, die Insel hat ein mildes Klima. Die Temperaturen halten sich um den Nullpunkt, doch das reicht freilich, um die Eisschichten konstant gefroren zu halten. Und da wäre noch der Wind. Bei jedem Stopp ziehe ich mir die Mütze tief über die Ohren. Der Wind versucht, durch meine dicken Kleidungsschichten zu dringen. Schwarze Felsen, schwarze Strände. Ein Bisschen ist Island wie Lanzarote, ging mir schon durch den Kopf. Nur ohne das Wohlfühlklima. Island will nicht, dass du dich wohl fühlst. Island zeigt dir, dass Schönheit ihren Preis hat. Doch selbst verschneit und mit schlechtem Wetter ist es ein Erlebnis. Als ob gerade das Kalte und Raue den Charakter der Insel noch betont.

Ein orangener Sonnenaufgang taucht zwischen den Bergen auf. Jemand sagt, dass es aussieht, als würde der Herr in Glanz und Gloria vom Himmel kommen. Es ist ja Weihnachten, also warum nicht. Alles ist nass, und trotzdem stehen alle draußen, sobald der Bus hält. Weil sie nicht genug bekommen können. Dann beginnt es zu schneien. Faszinierend, was für Bilder die Leute machen. Eine Frau setzt sich im Schneidersitz auf die Fahrbahn und lässt sich ablichten. Die Straße ist klatschnass. Andere stehen da und posieren, lassen sich vom vorbeifahrenden Bus nicht im Geringsten stören. Die Leute gehören nicht zu uns, wir fahren weiter.

Über Weihnachten verdoppelt sich die Anzahl der Menschen auf dem Land, erzählt uns der Guide. Es sind Isländer, die von den Küstenstädten zurück zu ihren Familien strömen. Viele arbeiten in den größeren Orten, doch ihre Familien haben sie auf der ganzen Insel verstreut. Man sagt, dass die Leute hier im Westen die tapfersten sind, sagt er. Denn das Wetter ist hier am schlechtesten. Ich habe bei der Witterung bereits eine ganze Familie mit Kinderwagen spazieren gehen gesehen.

 

Djúpalónssandur

An einer Steilküste halten wir an. Der Strand knirscht vernehmlich unter unseren Schuhen, während die Brandung gegen die Ufer tost. Es ist mehr Kies als Sand. Ein hölzerner Steg führt zum Wasser, und unter uns erstreckt sich eine halbrunde Bucht. Links und rechts bewachen dunkle Felsen den pechschwarzen Strand. Sie sehen aus wie Drachen. Oder versteinerte Trolle. Der einzige, helle Fleck in der Szenerie ist die nicht vorhandene Sonne, ein Akteur hinter dem Vorhang. Und natürlich der Schnee, der einen krassen Kontrast zu dieser dunklen Umgebung bildet.

Djúpalónssandur liegt zwischen den Orten Einarslón und Dritvík. Dritvik war früher ein lebhaftes Fischerdorf mit rund vierhundert Anwohnern. Über sechzig Schiffe täglich kamen und fuhren hier ab. Spektakulär ist die Bucht und spektakulär ist auch ihre Entstehungsgeschichte. Die bizarren Felsformationen sind aus nichts als Lava gebildet, die ihrerzeit heiß ins Meer geflossen ist. Das Meer seinerseits fraß sich in die Lava hinein und erschuf diese unfassbar anmutenden Strukturen. Die Menschen glaubten früher, dass es hier spukt (glauben sie es noch immer?). Ursprung dieser Geschichten war das Schiffsunglück der Trawler Epine GY 7, eines britischen Fischereischiffes aus Grimsby, das hier im Jahr 1948 an den Felsen zerschellte. Von neunzehn Crewmitgliedern überlebten nur fünf. Der Kapitän soll, an die Schiffsbrücke geklammert, gerufen haben: „Egal, was mit mir passiert, rettet die Mannschaft!“ Die Wrackteile des Schiffes liegen noch immer am Strand verstreut, sie sind unter Schutz gestellt.

 

Die Vulkanschlote Lóndrangar

Wenn die Reizüberflutung ausbleibt, ist der Betrachter imstande, die sanfteren Farben als solche wahrzunehmen. Das helle Gras ist bunt. Das Moos leuchtet beinahe phosphorgrün auf den Felsen. Das Wasser des Ozeans ist dunkelblau. Dort hinten, zwischen den steil aufragenden Felsen leuchtet es in einem dunklen, kräftigen Türkis. Es handelt sich um eine Süßwasserlagune, wie ich später erfahre. Dieser Felsnadeln da siehen aus wie Leuchttürme, dicke Felsbrocken, scharfkantiges Gestein. Diese Felsen sind 61 und 75 Meter hoch, vulkanischen Ursprungs (wie eigentlich alles hier auf der Insel), sie sind Reste eines Vulkankraters, dessen Teile im Laufe der Zeit durch Erosion abgetragen wurden. Was übrig ist, ist reiner Basalt. Die Felsen dienen Vögeln als Nestplatz und wurden sogar schon bestiegen. Doch es kreisen Legenden, dass dieses Land den Elfen gehört und die Vulkanschlote zu ihren besonders beliebten Aufenthaltsorten gehören. Deshalb wird hier, wenn man den Sagen glauben mag, das Gras nie gemäht.

Diese einsame Bucht hat eine perfekte, halbrunde Form. Das ist wie ein irrer Traum von einer verlorenen Welt. Und ich habe sie gefunden. Na, so verloren ist sie nicht, doch wenn man die wuseligen Menschen um mich herum ausblendet…

Schnappatmung. Ich bekomme Schnappatmung. Ich stehe hier oben und schaue in einen tiefen, schwarzen Abgrund. Das Meer schlägt wie wild gegen das Gestein, es pulverisiert das Ufer. Schwarzer Fels, darunter graues Wasser, das stellenweise eine türkisfarbene Färbung annimmt. Betrachte das alles und will hier niemals mehr weg. Das Spiel der Wellen, die ans Ufer schlagen. Der Wind, der mein Gesicht einfrieren lässt, so dass jedes Gefühl aus der Haut entweicht. Der Wind, der in die Augen weht. Die Kälte spielt keine Rolle. Der Wind spielt keine Rolle. Ich bin wie verzaubert. Ein sanftes, goldenes Farbspiel küsst die Wellen. Helles Silber, zartes Orange. Da hat sich das Licht gerade eben ein wenig näher an seinen Wolkenvorhang gewagt. Doch es ist weit davon entfernt, diesen Tag zu einem sonnigen werden zu lassen. Das wird wohl der Charme dieses Ortes sein.

Einige steigen hinunter zum Strand. Hätte ich das auch getan, dann hätte ich wohl die vier Kraftsteine gesehen, die im Sand aufgestapelt sind und den Seeleuten früher als Kraftprüfung dienten, ehe ein neues Crewmitglied anheuern darf. Die vier Steine sind nach Gewicht gestapelt: Fullsterkur (Full Strong, ganzer Kerl also) 155 kg, Hálfsterkur (Half Strong) 100 kg, Hálfdrættingur (Half Drag) 49 kg und Amlóði (frei Schnauze: Schwächling) 23 kg. In die See fahren durfte nur, wer mindestens Half Drag anzugeben schaffte.

Der Schnee ist plötzlich da. Als wir uns losreißen und diesen Ort verlassen, taucht ein unerwarteter Temperaturabstieg die Straße in pudriges Weiß. Nur kurz währt die Bescherung, dann verwandelt er sich wieder in Regen. Hier in Island braucht man wirklich gute Winterreifen.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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4 Kommentare

  1. Island wäre echt mein Zufluchtsort. Tolle Natur und nicht so überlaufen wie woanders, wo im Minutentakt Busse mit Touris angedüst kommen.
    Kleiner Fun Fact: Wusstest Du, dass dort die komplette Regierung aus Frauen besteht? Also nicht deswegen würde ich da hin um mich aufs Altenteil zurück zu ziehen, sondern: kaum Menschen, viel Natur, keine Hitze im Sommer – ich muss schon sagen, da sehe ich mehr Punkte dorthin auszuwandern als hier zu bleiben.
    Die Sprache ist aber echt der Endgegner..
    Bleib gesund!
    CU
    P.

    1. Dein Zufluchtsort ist im Sommer aber schon überrannt, wenn die Touristenbusse die Insel umrunden und ihre Fracht an markanten Stellen ausspucken 🙂 Ansonsten, wunderschöne Landschaft und, ziehst du dich ins Landesinnere zurück, ersparst du dir selbst die Interaktionen mit den Einheimischen. Da spielt der Endgegner dann auch keine Rolle mehr…

      1. wer weiss? Im hohen Alter fängt man ja an Selbstgespräche zu führen – blöd, wenn man sein eigenes Gesabbel nicht versteht, weil man die Sprache nicht kann.. 😉

        1. Also ich habe schon immer Selbstgespräche geführt 😉 Mehrsprachig macht es natürlich mehr Spaß, da hast du Recht

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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