Ungeachtet aller Schönheit und allen Träumen von der Einsamkeit der isländischen Wildnis sind wir keine reisenden Abenteurer, die unentdeckte Welten erforschen. Wir sind Touristen, die eine Pauschalreise gebucht haben. Und auf einer solchen haben wir Programm. Der nächste punkt ist der Abstieg in die vielleicht älteste – in jedem Falle eine der ältesten – Lavahöhlen der Insel.
Der Guide bleibt auch diesmal außenvor. Der Bus spuckt uns aus an einem Ort, der aus nicht mehr als einem Leuchtturm (Leuchtturm von Malarrif), mit niedrigen Gattern abgetrenntem Land und einer unscheinbaren Hütte besteht. Vor dieser Hütte stehen wir nun Schlange. Hier werden wir unsere Ausrüstung bekommen, die aus einer Taschenlampe und einem Helm besteht. Interessiert betrachte ich mein Survival Kit. Auf dem Boden der Hütte leuchtet mich ein Weihnachtsrenntier an.
Irgendwie erwarte ich, dass die Hütte der Ausgangspunkt unserer Reise in die Unterwelt ist, dass es dort irgendwo eine verborgene Falltür gibt, durch die wir alle hinab in die schwarze Nacht steigen. Ist sie auch – irgendwie. Wir klappern stirnlampig aus der Hütte und gehen erstmal ein Stück. Draußen begegnet uns eine seltsame Statue. Es ist Bárður Snæfellsás, der Legende nach halb Mensch und halb Troll und Beschützer dieser Gegend. Nach ihm wurde die Halbinsel benannt.
Der Eingang zur Höhle befindet sich ganz in der Nähe. Nur ein dünnes Geländer weist auf einen Eingang hin. Ansonsten ist die Spalte unter der Erdkruste so unscheinbar, dass man schon bescheid wissen muss, um sie von außen zu finden. Direkt dahinter wird es dunkel. Eine kurze Treppe wurde in die Lava gehauen, dann führt ein abschüssiger Weg weiter.
Der neue Höhlenguide auf Zeit macht seine Sache gut. Er eröffnet uns eine Welt, die nicht nur aus kaltem Gestein, aber auch zugleich aus Mythen und Legenden besteht. Wir sehen den Speisesaal der Riesen, sehen versteinerte Kobolde und Könige. Und es geht immer tiefer abwärts. Doch auch die harten Fakten sind äußerst interessant. Die Vatnshellir ist eine Lavaröhre, die sich bei einem der vielen Ausbrüche vor rund achttausend Jahren gebildet hat. Der alte Vulkankrater des Purkhólar Vulkans befindet sich in gerade einmal fünfhundert Metern Entfernung. Die heiße Lava suchte sich ihren Weg durch ein ehemaliges Flussbett und bahnte sich einen Durchgang in Richtung Meer. Und während ihre Oberfläche nach und nach erkaltete, floss es und brodelte unten weiter. Schließlich floss die Lava ab und unter der Oberfläche bildete sich ein Tunnel. Die Höhle ist zweihundert Meter lang und dreißig Meter tief und seit 2011 für Besucher erschlossen. Unsere Tour wird etwas weniger als eine Stunde dauern. Der Helm sitzt? Dann kommt mit.
Wir passieren Gänge, Treppen, Wendeltreppen. Der Boden ist uneben, die Stufen nass. Stalagmiten ragen aus dem Boden empor. Die Wände glänzen, Wasser tropft auf uns herab. Zunächst vermute ich, es handelt sich bei dem matten Schimmer um Mineralien, doch es ist nur Nässe. Schnell umhüllt uns Dunkelheit; nur der Schein der Laternen, die wir lose in unseren Händen halten, geistert von Wand zu Wand. Eine große Höhle öffnet sich. Hier ist die Partyhöhle des Trolls, in der er immerzu wilde Feiern abhielt. Jeder „Raum“ hat eine mystische Geschichte und der Guide wird nicht müde, sie uns zu erzählen.
Dann geht es noch eine Ebene hinunter, tiefer und tiefer. Der tiefste Punkt der Höhle liegt ca. 17 Meter unter der Oberfläche. Die Metalltreppe schwingt sich bis auf zwölf Meter Tiefe. Sie wurde nachträglich eingebaut, denn obwohl die Vatnshellir Höhle als Teil des Nationalparks so ursprünglich bleiben sollte wie sie ist, begannen die Touristen mit der Zeit, sich auf eigene Faust in die Tiefe abzuseilen. Das brachte Gefahr für Leib und Leben mit sich, also war die Treppe ein notwendiges Übel, für das man sich entschied.
Da sind wir nun, am tiefsten Punkt der Erde der Höhle, und ab hier folgen wir ausschließlich den Anweisungen des jungen Guides. Wir tun, wie uns geheißen: stellen uns trittsicher hin, auf dass wir nicht das Gleichgewicht verlieren. „Jetzt macht jeder sein Licht aus, so dass es komplett dunkel ist. Gar nichts sagen, einfach lauschen in vollkommener Stille.“ Nach und nach erlöschen die Irrlichter der Taschenlampen und ich hoffe, dass es die große Gruppe hinbekommt mit dem still sein. Sie bekommen es hin. Plötzlich… verstummen alle. Kein Mucks ist zu hören. Nur die Musik des Wassers, das von den Wänden tropft. Vor meinen Augen – vollständige Schwärze, die sich langsam in braune und rote, schwimmende Flecken verwandelt. Ist die Dunkelheit zu dunkel, erschafft das Gehirn Bilder vor dem geöffneten Auge. „Und so…“ Sagt der Guide, als wir uns wieder bewegen, als die vielen Lichter wieder über die Wände huschen, „so war es seit Jahrtausenden. Bevor die Menschen kamen und diese Höhle erschlossen, gab es nur die Dunkelheit und das stetige Tropfen des Wassers, das sich an den Wänden nach unten schlängelte.“ Und damit beenden wir die Tour. Der Zauber ist verflogen, wir erklimmen die Wendeltreppe mit ihren vielen Stufen nach oben, in Richtung Tageslicht.
Wieder im Bus. Über der gemalten Landschaft senkt sich so etwas wie Abenddämmerung. Auch diese wird ewig dauern. Während in südlichen Gefilden die Sonne einfach nur hinter den Horizont plumpst, ist es hier ein langgezogenes Drama. Die Vorstellung hat begonnen, doch das merken wir nur an verändertem Licht. Der Himmel ist – welch Neuigkeit – wolkenbehangen. Ausgesetzt werden wir am Ortseingang Arnarstapi, wo sich das Denkmal des Inselpatronen Bárður Snæfellsás befindet. Ich gehe den vereisten Weg, den Blick auf die Häuser geheftet. Wir haben Zeit zur freien Verfügung und die meisten strömen in Richtung des Denkmals. Ich in die entgegengesetzte. Das wird eine mittelgroße Spazierrunde.
Das letzte, was ich euch erzählen wollte, ist die Geschichte der Elfen. Der Elfenglaube ist sehr tief hier auf der Insel verwurzelt, durchaus auch bei modern denkenden Menschen. Und unser Guide scheint das auch zu tun, denn er erzählte uns eine Geschichte. Batu – so heißt unser Guide – sagte, dass fast jeder auf Island an Elfen glaubt. Es gibt viele Legenden über Elfen, Trolle, Halbtrolle… Wie die Legende über Bárður, dessen Denkmal wir heute besuchten. Die Bárður Saga ist sehr alt, sie wurde um das 14 Jahrhundert verfasst.
Die Bárður Saga

So horcht, ihr Leute, denn folgendes wird berichtet. Der mächtige, da zur Hälfte von Trollen und zur Hälfte von Riesen stammende Bárður war einer der ersten Siedler auf der Halbinsel Snæfellsás, die von ihm ihren Namen erhielt. So wie Bárður verließen viele Norwegen, da es Zwist mit dem dortigen König, Harald Schönhaar, gegeben haben soll. Auf Island fanden sie eine neue Welt. Bárður ließ sich nieder und erbaute Häuser und einen Hof. Dieser Hof, Laugarbrekka in der Gemeinde Hellnar, existiert noch heute.
Wie viele Wikinger der damaligen Zeit, so war auch Bárður leicht wütend zu machen und zur Raserei fähig. Er hatte eine Tochter, Helga, die für gewöhnlich mit seinem Neffen spielte. Als eines Tages Helga nicht nach Hause kam, wurde Bárður so wütend, dass er den Neffen tötete (mit Töten waren die Protagonisten jener Zeit schnell bei der Hand). Helga tauchte später wieder auf und der noch immer wütende Vater, da er sie dann doch nicht töten konnte, verwandelte sie in Stein.
Ein anderer Strang der Saga besagt, dass die inzwischen erwachsene Helga fortging, auf einer Eisscholle nach Grönland gelangte und dort eine Affäre mit dem verheiratetem Miðfjarðar-Skeggi begann. Dieser brachte sie schließlich nach Island zurück, wo sie von da an ein ungebundenes Leben führte.
Die Elfen
Es gab mal einen Bauern, einen geizigen und unangenehmen Zeitgenossen. So verpachtete er zum Beispiel anderen Bauern Land, die ihre Tiere dort ausweiden wollten, zu einem – seiner Meinung nach – günstigem Preis.
Eines Abends klopfte eine Frau an des Bauers Tür. Nun ist es auf Island Brauch – anscheinend ist es noch heute so Brauch, zumindest auf dem Land – dass du jederzeit zur späten Stunde an eine Tür klopfen und nach einem Platz zum Übernachten fragen kannst. Es wird dich niemand abweisen, jeder wird dir einen Schlafplatz und eine Kleinigkeit zu Essen anbieten. Jedenfalls klopfte es abends an des Bauers Türe. Draußen stürmte und regnete es in Strömen Eine Frau stand draußen vor der Tür. Der Bauer fragte: „Wer bist du? Was willst du?“ Die Frau fragte nach einem Platz für die Nacht und der Bauer sagte nur: „Ich kann dir nicht helfen.“ Und machte die Tür wieder zu. Die Frau ging fort. Am nächsten Morgen war das Wetter wieder strahlend schön. Der Bauer ging hinaus, um nach seinen Kühen zu schauen und sah, dass viele der Tiere verendet waren. Er kam näher, um sich die Sache genauer anzusehen und stellte fest, dass nur seine Tiere verendet waren. Die Kühe seiner Nachbarn, denen er das Land verpachtet hatte, waren am Leben und erfreuten sich bester Gesundheit. Die Moral aus der Geschichte: verweigere niemandem deine Hilfe, weise niemanden an deiner Türschwelle ab. Es könnte eine Elfe sein… Laut den Überlieferungen sind Elfen in den meisten Fällen gute Wesen. Nur manchmal können sie böse sein. Vor allem, wenn sie sich schlecht behandelt fühlen.
Eine weitere Erzählung jüngeren Datums – hierbei handelt es sich um keine Saga – betrifft unseres Guides Bekannten, der ebenfalls auf Island als Guide arbeitet. Wie überall auf der Welt, so kennen sich auch hier die Guides untereinander. Der Bekannte (wenn ich die Geschichte so erzähle: der Freund eines Freundes, eines Freundes… lach…) hatte kürzlich eine Gruppe deutscher Journalisten als Gäste. Das Journalistenteam hatte zum Thema Elfen recherchiert. Das Thema der Recherche war der in Island noch stark vorhandene Glaube der Menschen an die Existenz von Elfen. Der Guide brachte das Team mit vielen Menschen zusammen, von denen er wusste, dass ihr Glaube noch stark verwurzelt war. Die Journalisten sprachen unter anderem mit seinem eigenen Bekanntenkreis. Die befragten Menschen sagten durch die Bank weg, dass sie an Elfen glaubten. Sie fanden keinen einzigen, der die Existenz von Elfen anzweifelte.
Die Journalisten aus Deutschland sagten dann zum Guide: „Hör mal, für eine differenzierte Reportage brauchen wir auch jemanden, der nicht an Legenden über Elfen glaubt. Kannst du uns mit so jemandem bekannt machen?“ Der Guide dachte nach und brachte die Journalisten an eine Baustelle. Dort befragten sie drei der Arbeiter. Die Befragten sagten allesamt, dass sie an einen solchen Unsinn wie Elfen selbstverständlich nicht glauben würden. Auf die Frage hin, ob sie ihre Baupläne schon einmal aufgrund von Elfenaktivitäten ändern musste, sagten sie dann, ja, das käme sogar recht häufig vor. Wenn Elfen nicht wollen, dass irgendwo etwas gebaut wird, dann passieren seltsame Dinge.
Also, sagt Batu, unser Guide. Ob wir nun an Elfen glauben oder nicht, spielt keine Rolle, denn das sei den Elfen egal. Man müsse sie trotzdem in alle Aktivitäten, in alles, was auf der Insel geschehen oder nicht geschehen soll, mit einbeziehen.
Auf dem Weg zum Hotel werden wir nochmal am Bárður Denkmal rausgelassen. Das Denkmal ist riesig und von grober Form, was wohl die übermenschlichen Kräfte eines halben Riesen darstellen sollte. Ich nutze die Zeit, um in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, in die aufkommende Dunkelheit und die Kälte hinein. Auf dem vereisten Boden stelle ich meine Füße vorsichtig einer vor den anderen. Weit weg von meinen Mitreisenden lasse ich die Schönheit Islands auf mich wirken. Es ist Blaue Stunde. Die Lichter des nahe gelegenen Ortes, der lediglich aus einigen wenigen Häusern besteht, spiegeln sich im Eis. Dahinter zeichnen sich undeutlich die blauen Berge ab. Ich gehe vorwärts, auch wenn mir der Wind ins Gesicht schneidet. Mein Kopf ist voller schöner Gedanken über Freiheit, Zauber und das Leben nicht an sich vorbei ziehen lassen. Zudem bin ich froh, für einen Augenblick die allgegenwärtigen Menschen irgendwo hinter mir gelassen zu haben. Meine Wangen werden taub vom Wind und von der Kälte. Ich ziehe die Mütze tiefer über meine Ohren.

Im Hotel habe ich dann Zeit für mich. Der Schlüsselanhänger meines Zimmers ist ein Schaf in einem Island Pullover aus Schafswolle. Ausgiebig betrachte ich den großen, blauen Fleck auf meinem Oberschenkel, den ich mir bei einem Sturz am allerersten Tag hier auf der Insel zugezogen habe und der inzwischen groß und schwarz geworden ist. Der Bluterguss hatte seine endgültige Form angenommen. Er sieht aus wie die Umrisse von Island.
Diese langgezogene Dämmerung hat natürlich was für Fotografen und aufmerksame Betrachter. Sehr schön! Deine Fotos spiegeln das wider. Die Sache mit den allgegenwärtigen und offenbar einflussreiche Elfen hingegen befremdet mich ein wenig 😅. Aber klar, es ist halt ein interessanter kultureller Unterschied.
Na ja, als Tourist wirst du den Elfen kaum in die Quere kommen und sie dir ebenso wenig 😉 Das Land wäre für dich und Stefan ein fotografisches Paradies, davon bin ich überzeugt.
Ich hoffe bei Eurer Abreise wurde Euer Gepäck nach Elfen und Trollen gecheckt. Einen Riesen im Koffer hättet Ihr wohl bemerkt.
Ich hatte bei der Abreise weniger Platz im Rucksack als vorher, das war schon komisch…
Lol 😂
Das sind Geschichten von Elfen und Trollen, die wir auf unserer Reise durch Island auch gehört und gelesen haben. Die Lavahöhle hört sich spannend an und deine Fotos von Island sind fantastisch
LG Andrea
Vielen Dank, liebe Andrea. Ich finde solche Geschichten immer sehr schön, weil sie die Kultur eines Volkes gut widerspiegeln. Elfen und Trolle, die in der Wildnis lauerten, waren gleichbedeutend mit den Gefahren, denen sich ein unachtsamer Mensch ausgesetzt sah. Die brodelnde Erde mussten sich die Menschen irgendwie erklären und was dabei entstand, war eine fantastische Fabelwelt. Lg