Europa, Island

Island – Halbinsel Snæfellsnes

25.12.2019

Bei unserem Hotel gibt es Pools. Nicht wie ihr denkt, blau und lang. Es handelt sich um heiße, dampfende Quellen, relativ klein und eng, so dass jeweils nur viel Leute Platz darin finden können. Die Pools waren lange Zeit ein Geheimtipp, bis jemand aus dem Hotel den Touristen davon erzählte. Seitdem formieren sich jeden Sommer Schlangen vor den Heißwasserquellen. Die Isländer finden das lustig. Denn ein Heißwasserbad ist etwas, das man genießen sollte. Doch die Leute hüpfen kurz rein, machen ihre Bilder, setzen ihre Häkchen auf die Liste und weiter geht’s. Wenn ich die Wahl hätte, ich würde mich wohl fürs Genießen entschieden. Und wenn ich die Wahl hätte zwischen einem „einsamen“ Foto von mir in einem Pool und einem Foto der ganzen Instagramies, wie sie für ein „einsames“ Foto schlange stehen…

Die Landschaft ist verschneit, umso verschneiter, je weiter wir uns in Richtung Westküste bewegen. Das Wetter ist heute schlecht, es regnet. Die Temperaturen schwanken irgendwo zwischen null und zwei Grad, und vor lauter Nebel kann man die Berge um uns herum kaum sehen. Vor den Fenstern ist es dunkel. Dass es schon zehn vor elf ist, interessiert die isländischen Wettergeister nicht. Wir fahren mit Licht.

Und dann wird es heller, und wir fahren durch eine schöne, verschneite Landschaft. Die Berge sind bedeckt, nur ihre mächtigen Fundamente ragen aus dem Nebel, die Spitzen sind in den Wolken verborgen. Aus dem Radio dudelt Musik, sie schläfert mich ein. Wir machen Halt an den verschneiten Bergen. Ein tiefgefrorener, blassblauer See erstreckt sich vor uns und unter uns knirscht Schnee auf dem schwarzen, harten Lava. Die Schneelandschaft ist fantastisch. So dass ich kaum verstehe, wie Menschen in ihr Telefon tippen und keinen Blick dafür haben können. Sie (eine Mitreisende) hatte keinen Blick für die Landschaft, als sie im Bus saß, doch nun, da wir ausgestiegen sind, macht sie die schönsten Panoramabilder und Videos für ihre Follower. Ich weiß nicht, was für eine Welt das heute ist, ist weiß nicht, ob ich sie mag. Ich glaube, mehr Schein als Sein war schon immer die Währung der Zeit. Nicht nur unserer – jeglicher Zeit.

Der Bus hält auf einem kleinen Parkplatz. Bereits der Blick aus dem Fenster offenbart unser nächstes, besonderes Ziel. Ein graziler, wohlgeformter, oben spitz zulaufender Berg zeigt sich unseren Augen. Immerzu wechselt die Perspektive, und von jeder Seite sieht das Objekt der Neugier fotogen und anders aus. So ändert er seine Form, bis unser Bus zum Stehen kommt. Dann ist die endgültige Ansicht erreicht. Wir hüpfen hinaus, um die Landschaft aus der Nähe zu genießen. Inzwischen ruft jener Berg nach mir und bringt warme Erinnerungen in mir hervor. Irgendwie kommst du mir bekannt vor, aber warum?

Warum wohl. Wir sind an einem der berühmtesten Wahrzeichen Islands angekommen und zugleich an einem seiner bekanntesten Drehorte. Hier wurde unter anderem die epische Serie Games of Thrones gedreht und, wäre ich Fan, dann hätte ich den Kirkjufell vermutlich sofort erkannt. Da ich aber kein Fan bin und sich meine Games of Thrones Bilanz lediglich auf „habe ich mal gesehen“ und „weiß, was das ist“ beschränkt, so hatte ich lediglich im ersten Moment ein schwaches Déjà-vu Erlebnis – doch mehr auch nicht. Berg ist Berg. Auch wenn dieser hier als der schönste im ganzen Land gilt.

Der Kirkjufell Berg ist 463 Meter hoch. Nicht besonders hoch also, doch das Besteigen soll nicht ganz ohne sein. Pfade, die nach oben führen, werden als steil, steinig und rutschig beschrieben. Natürlich ist ein solches Unterfangen nur in den warmen Sommermonaten zu empfehlen. Heute trippeln wir lediglich vom bereits vereisten Parkplatz über einen schmalen, vereisten Pfad hinunter zum Wasserfall.

Ich wundere mich jedes Mal über die glatten Sohlen meiner Mitreisenden. Es ist glatt. Spiegelglatt. Mit normalen Schuhen würde ich mich gar nicht vor den Bus trauen. Die Spikes waren die beste Investition – jedes Mal sehe ich große Augen, wenn ich sie aus dem Rucksack hole. Die anderen Klienten staksen unbeholfen auf den Eisflächen herum, während ich souverän drüber spaziere. Na ja, fast souverän – zu glatt darf es auch nicht werden. Auch mit den Spikes hat sich weiter unten schon jemand aufs Eis gelegt, sie sind keine Garantie.

Ein jeder beeilt sich nun, um zum Wasserfall zu kommen und von dort aus die perfekte Aufnahme von Wasserfall und Berg zu machen. Selbst an den touristischen Hotspots verschwinden die Leute in der Landschaft, das monochrome Bild verschluckt jede Bewegung nahezu vollständig. Es fehlt nicht viel bis hin zu völliger Einsamkeit. Mit der Gischt im Gesicht sehe ich mir die zarten Farben des aufkommenden Tages an. Es ist wunderschön. Der perfekte Himmel ist nicht blau, wird mir klar. Definitiv nicht. Island nimmt dich, packt dich, haut dich um. Jeden Tag aufs Neue. Was für ein bezauberndes Land.

Der dreifaltige Wasserfall – die fließende Dreifaltigkeit – ergießt sich in den Fluss Kirkjufellsá, der dann weiter gen Ozean fließt. Wobei – heute ergießt sich nicht mehr, denn der Wasserfall ist, wie viele andere auf Island, zu einem Gebilde aus weißen Eiszapfen erstarrt. Nur an manchen Stellen rieselt das noch nicht vom Frost eingefangene Wasser nach unten. Es soll Zeiten gegeben haben, da waren die landschaftlichen Sehenswürdigkeiten auf Island frei zugänglich. Touristen kannte man vom Hörensagen und mit menschlicher Unzurechnungsfähigkeit war nur selten zu rechnen.

Heute ist der Kirkjufellsfoss Wasserfall, wie auch alle anderen, potenziell gefährlichen Stellen, mit einer Absperrung gesichert. Nicht ohne Grund, vermute ich, denn auch jetzt stelle ich mit Entsetzen fest, dass es welche gibt, die diese Absperrungen gekonnt ignorieren. Ob ein perfektes Bild es wert ist, um auf einem relativ abschüssigen, schnee- und eisglattem Abhang zu balancieren, ich weiß es nicht. Alles rund um den weißen Eisvorhang ist ein rutschiges Vergnügen. Es ist, als würde man einen Katastrophenfilm betrachten – man kann nicht wegschauen, auch wenn es einen gruselt. Während er fleißig Bildchen von ihr macht, auf das es Likes regnen möge, sehe ich sie beide bereits mit gebrochenen Gliedmaßen am tiefsten Punkt des erstarrten Vorhangs liegen. Noch ist alles gut, aber man ahnt schon an der stimmungsschwangeren, dramatischen Musik, dass gleich etwas passieren wird. Die Musik schwillt in meinem Kopf an, doch das Pärchen bekommt ihre Bilder und überlebt das Ganze. Und auch wenn sie sich beim Hinaufklettern beinahe umbringen, hat es sich für die beiden vermutlich gelohnt.

Eine dunkle Wolke zieht auf. Nein, es ist nicht wirklich eine Wolke – vielmehr ein dichter, schwarzer Nebel, der die Gebirgsketten einlullt und immer näher kommt. Keiner achtet darauf. Ich glaube, ich gehe zum Bus.

Da hat die Insel mit ihren ausbrechenden Vulkanen etwas Phantastisches geformt. Der Kirkjufell bildet selbst eine kleine Halbinsel, zu deren Füßen das Dorf Grundarfjörður liegt. Mit seiner schwarzweißen Maserung wirkt er wie nicht von dieser Welt. Ein Spiel aus Eis und Lava, auf allen Seiten von eiszeitlichem Gletschereis zu seiner jetzigen Form geschliffen. Bemerkenswert ist, dass hier auf Island, noch mehr als woanders, das Gesetz der Wandlung gilt. „Sicher ist nur die Veränderung.“ Oder so ähnlich. Mir ist bewusst, dass es sich bei dem, was ich hier sehe, um eine geologische Momentaufnahme handelt. Noch ein paar Eruptionen, noch ein wenig vulkanisches Feuerwerk, schon kann die größte Vulkaninsel der Welt ein vollkommen neues Antlitz erhalten.

Die Insel spuckt ihr Innerstes nach außen, stülpt die Erdkruste um. So wurden auf der Spitze des Berges bereits Fossilien gefunden. Die Lavaschichten, die den Kirkjufell nach und nach bildeten, stammen nicht „aus einem Guß“, sondern unterschiedlichen geologischen Zeitaltern. Zu ihrem Fuße ist sie Millionen Jahre alt.

Aufgrund der erhöhten seismischen Aktivitäten rechten man aktuell (Stand Dez. 2019) jederzeit mit einem Vulkanausbruch, berichtet uns der Guide, als der Bus weiter über isländische Straßen schaukelt. Wobei „jederzeit“ heute, in einem Jahr oder in einhundert Jahren bedeuten kann, das wisse man nicht so genau. Wir durchfahren einen Teil der Insel, in dem sich gleich fünf Vulkane aufeinander reihen; das Vulkansystem Lýsuskarð. Aktuell können wir uns glücklich schätzen, sicher zu sein – für den Moment.

Und wieder hält ein Kobold Wache auf einem der Felsen.

Island kann eine besondere Rolle bei der voranschreitenden Klimaerwärmung spielen. Viele denken da an zunehmende Hitze, heiße Sommer, Temperaturanstieg und Wetterphänomene. Letzteres haben sicher nicht alle auf dem Schirm: Islands Gletscher sind imstande, mit ihrem schmelzenden Gletscherwasser den Golfstrom zu unterbrechen. Der Golfstrom ist der Grund, weshalb Island im Vergleich zu anderen nördlich gelegenen Ländern ein verhältnismäßig mildes Klima hat – wenn man von den laukalten Sommern und den starken Winden einmal absieht. Doch wenn der Golfstrom unterbrochen wird, wird sich der Rest der Erde aufgrund von Klimawandel erwärmen, doch Island wird in Eis erstarren. Es wird zu einem der kältesten Orte der Welt.

Da hätte ich mich mit meinen Gletscherhöhlen nicht so sehr beeilen brauchen.

Mystisch und erhaben sieht sie aus, die verschneite, gebirgige Umgebung. Wir haben genügend Zeit, um sie zu betrachten. Immer mal wieder steigen wir an strategisch günstigen Stellen aus dem Bus und immer wieder bin ich dabei, mir die Augen zu reiben. Ich bin auch jedes Mal froh um meine Spikes, die ich mir im Internet für ein Appel und ein Ei bestellt habe; sie leisten mir gute Dienste, denn der Boden ist oftmals vereist. Insbesondere in der Nähe von Wasserstellen, Wasserfällen usw., Plätzen also, die besonders reizvoll sind für den Betrachter.

So wie eine steile, lavaschwarze Küste, die wir gerade anfahren. Ich hatte mir bei einem der Tankstellenstopps eine hiesige Spezialität besorgt: Trockenfisch, der in Streifen in einer Tüte serviert wird. Der Snack ist zäh und schmeckt salzig nach Meer und Wind. Sogar meine lieben chinesischen Mitreisenden probieren neugierig, als ich die Tüte rundum reiche.

Überhaupt: meine Mitreisenden. Von Anbeginn der Tour, die im Grunde aus verschiedenen Kleintouren zusammengestellt wurde, bin ich mit asiatischen Touristen unterwegs. Dies ist die zweite Gruppe, die zu neunzig Prozent aus Chinesen besteht. Ich hatte bis Dato noch nie mit Chinesen zu tun, nicht bewusst zumindest, und der erste Eindruck ist durchaus angenehm. All das, was man hört (Vordrängeln, Drängeln in der Schlange… okay, viel mehr habe ich nicht gehört…), bewahrheitet sich nicht. Meine Mitreisenden sind neugierig, offen, etwas unbedarft (Sneaker auf Eis? Bitte…). Und noch etwas fällt mir auf, was ich wunderbar finde: sie sind unglaublich begeisterungsfähig. Alles nehmen sie in sich auf, (fast) alles finden sie toll.

Als wir am nächsten Tag an einem Restaurant zum Mittagessen anhalten, halte ich nach der langen Tour und der Einsamkeit der isländischen Weite den engen, mit Menschen gefüllten Raum nicht länger aus als nötig und schon kurz, nachdem mein Teller leer ist, gehe ich wieder nach draußen. Während ich auf die anderen warte, vertreibe ich mir die Zeit mit etwas, das ich schon lange nicht mehr getan habe: ich beginne, den Schnee um mich herum zu bearbeiten. Was dabei rauskommt, ist ein etwas klein geratener Schneemann. Große Ambitionen hatte ich beim Bauen desselbigen allerdings nicht. Halbwegs zufrieden betrachte ich mein Werk, doch als die Chinesen aus dem Lokal kommen, sind sie völlig aus dem Häuschen. Sie fotografieren den Schneemann. Sie fotografieren sich gegenseitig mit dem Schneemann. Sie legen sich der Reihe nach auf den Boden und machen Selfies mit dem Schneemann. Ich muss innerlich schmunzeln, während ich die nächste Mitreisende mit meinem weißen Schneemännchen ablichte. Es braucht so wenig, um Leuten eine Freude zu machen.

Schneemann

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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8 Kommentare

  1. Da mir Games of Thrones so fremd ist wie nur sonstwas, kam mir der berühmte Berg auch nicht bekannt vor. Er sieht aber gut aus, durch den Himmel und das Licht auch noch klasse in Szene gesetzt. Der Kauf der Spikes war offenbar mehr als nur ein kluger Schachzug! Und mit deinem schicken Schneemann hast du ja ein richtig gutes Werk getan 😁. Manchmal braucht es echt nur wenig, um anderen eine Freude zu machen.

    1. Games of Thrones kenne ich flüchtig, anscheinend war der Berg Landeplatz für irgendwelche Drachen. Die Spikes waren der Kauf des Jahrhunderts 🙂

  2. Der Klimawandel macht sich allerorten bemerkbar. Hoffen wir mal, dass das schlimmste verhindert wird!

    1. Das hoffe ich auch. Nein, das ist nicht ganz richtig, denn momentan schwanke ich zwischen Hoffnung und Resignation 😉

      1. Mit Trump und Merz werden wir vier Jahre Klimaschutz verlieren!

        1. Momentan bin ich froh, wenn uns keiner in die Luft jagt… wie sehr doch die Ansprüche sinken, nicht wahr?

  3. Sinnlosreisen sagt:

    Schlange stehen für ein einsames Foto – wie grotesk ist das denn? Vielleicht gibt es bald eine KI, die das erledigt, dann können die Selfie-Fans zuhause bleiben…

    1. Na ja, du kannst ja bereits Kleidung kaufen, die nicht existiert, um sie für Bilder anzuziehen, die dann in den sozialen Netzwerken zeigen, wie hot und on top du dich kleidest… 😉

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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