Afrika, Senegal

Das Fischerdorf Guet Ndar

Als unsere Füße im Sand einsinken und uns die kleinen Kinder des Dorfes neugierig und frech hinterher laufen, lachen, sich hinter den Rücken der älteren Freunde verstecken – da weiß ich, dass es gut war. Es war gut, hierher zu kommen. Während es Abend wird, erkunden wir auf Mamadous Anraten hin das Fischerdorf von St. Louis. Wir wollen die Lebensrealitäten der Fischer – oder zumindest einen kleinen Ausschnitt davon – aus der Nähe kennenlernen. Es hat nichts mit Voyeurismus, viel eher mit dem bewusst werden zu tun. Und vieles von dem, was ich sehe, werde ich erst viel später begreifen.

Wir wissen zunächst nicht, ob wir nach Guet Ndar gehen sollen. Dazu tragen allerlei Unannehmlichkeiten, mit welchen wir uns an der Hotelbar auseinandersetzen mussten, bei. Es ist der Nachmittag nach dem Besuch des UNESCO Reservats, und im Grunde wollen wir das Geschehene einfach nur hinter uns lassen. Das Gefühl, nicht willkommen zu sein, verstärkt sich, die einzelnen Eindrücke verdichten sich zu einem Netz.

Doch Mamadou hat für uns Pläne für diesen Abend, und ich bin hin und her gerissen. „Schau.“ Sage ich zu Stefan. „Wenn wir hier auf dem Zimmer bleiben, dann werden wir nur herumsitzen und grübeln.“ Ich überrede Stefan und kurze Zeit später verlassen wir zu Fuß das Hotel de La Poste.

Das Postkoloniale St. Louis, welches selbst auf einer Insel liegt, ist über zwei weitere Brücken mit einer weiteren Insel verbunden. Hier handelt es sich um eine lange Sandzunge, auf der sich die Häuser und Unterkünfte der Menschen befinden, die hier von der Fischerei leben. Die Fischerei Senegals ist weit über seine Grenzen hinaus bekannt, doch sie ist auch längst an ihre Grenzen gestoßen. Überfischung und dezimierte Fischbestände zwingen die Fischer dazu, oftmals die ganze Nacht auf dem Meer zu bleiben. Die Ausbeute ist dennoch gering, zudem verschwindet die Halbinsel aufgrund der Erderwärmung und steigender Pegel nach und nach im Meer. Als Antwort darauf verlassen die Fischer immer öfter ihre eigenen Fischgründe, um beispielswiese vor der Küste Mauretaniens zu operieren. Hier geraten sie mit den örtlichen, mauretanischen Fischern aneinander, denn die Fischereivorschriften in Mauretanien sind strenger als in Senegal. Und sie werden gewissenhafter umgesetzt. Das betrifft sowohl die Fangquoten als auch die einzusetzenden Netze. Wer tiefer in das Thema eintauchen möchte, dem empfehle ich diesen Artikel von mundusmaris.org, der die Hintergründe der Fischerei in Guet Ndar behandelt.

Diese zweite Insel, die lange Sandzunge, gehört zur Lagune der Barbarie. Sie ist mit Häusern und Siedlungen bedeckt, eine Stadt in einer Stadt ist hier entstanden mit allem, was die Menschen zum Bestreiten ihres Alltags brauchen. Wir überqueren eine der zwei Brücken. Ein zerrissenes Maschendrahtnetz links und rechts am Geländer soll wohl verhindern, dass man ins Wasser fällt… ach was, ich weiß es nicht. Es gibt so vieles hier in Senegal, das ich nicht erklären kann. Bunte, am Ufer festgemachte Pirogen ruhen im Wasser, am ihren Einsatz wartend. Es ist viel los am Abend, die Brücke ist voller Menschen. Händler mit Waren, Frauen, Kinder. Verkäufer bieten am Rand in kleinen Tüten geröstete Erdnüsse und andere Snacks an. Dies ist das pure Leben und die mir unbekannten Naschereien finde ich äußerst interessant. Ich werde mir später eine Tüte solcher Erdnüsse kaufen. Sie sind ungeröstet und ungesalzen, haben einen leicht säuerlichen Geschmack. So habe ich Erdnüsse noch nicht gegessen.

Kaum haben wir die Brücke überquert, beginnen bereits die Fischerhütten am Ufer des Senegal. Menschen ruhen im Schatten oder wuseln draußen herum, Dutzende wache Augen beobachten unsere Schritte. Bunte, gemusterte Wäsche hängt an der Leine zum Trocknen, ein Teil der Stoffe ruht im Sand. Es kümmert keinen. Hier teilt sich alles den engsten Raum und kämpft um ausreichend Platz, Familien, Fischerboote, Tiere. Nicht nur zum Leben fehlt die Fläche, auch das Ausnehmen und Verarbeiten des Fangs geschieht unter schwierigen hygienischen Verhältnissen.

Das ganze Leben spielt sich draußen ab. Die Menschen essen, waschen sich draußen, die Kinder spielen. Wäsche hängt an der Leine reihum und wird von den meist freilaufenden Ziegen angeknabbert. Die erwachsenen betrachten uns zurückhaltend bis misstrauisch, doch in den Kindern haben wir sofort Freunde gefunden.

Kinder grüßen, rufen „Bonjour“, lachen, viele wollen uns berühren. Mamadou versucht, sie im Zaun zu halten, doch wir lachen auch. Ist okay, sage ich. Manche der Kinder fragen nach Geld. Drei Mädchen stupsen uns der Reihe nach an und rennend dann lachend weg. Ein kleines Mädchen, vielleicht zwei- oder drei Jahre alt, die kleinste in der Gruppe, ist zugleich die frechste. Das Früchtchen stiftet die anderen an und, ehe wir uns versehen, verschwindet sie hinter dem Rücken der größeren Kinder. Dort guckt sie gespielt scheu und unschuldig aus der Wäsche, doch ihre Augen leuchten vor Schalk. Die Kleinsten kommen angerannt und geben uns die Hand oder umklammern mir gleich die Beine. Aus unerfindlichen Gründen bin ich wohl ihr Liebling geworden.

Eine senegalesische Familie hat im Schnitt zwei bis fünf Kinder. Es gibt hier keine andere Altersabsicherung; die Jungen unterstützen die Alten. Und schafft es eines der Kinder, später im Erwachsenenalter nach Europa überzusiedeln, so wird regelmäßig Geld nach Hause geschickt. Die Summen an Geld, das von der Diaspora erwirtschaftet und nach Senegal überwiesen wird, übertrifft sogar das gesamte senegalesische BIP.

Die Kinder begleiten uns fast den ganzen Weg lang. Ein trauriger Pelikan steht zwischen den gezimmerten, mit Planen überdachten, manchmal gemauerten Hütten. Später auf Bildern sehe ich, dass er einfach nur kackt. Armes Federvieh.

Auch ein Dorf wie dieses hat für uns die eine oder andere Überraschung parat. Zum Beispiel Solarpanelen, die auf den Straßenlaternen angebracht sind und Elektrizitätsleitungen überflüssig machen. Oder die dicken Schnüre, die quer auf der Straße ausgelegt sind und Fahrzeuge dazu bringen, ihr Tempo zu drosseln und rücksichtsvoll an den spielenden Kindern und freilaufenden Tieren vorbei zu fahren. Zudem passieren uns die allgegenwärtigen, immer präsenten Pferdekutschen, typisches Bild für Senegal, das uns bis zum Schluss begleiten wird.

Die Hütten sind innen denkbar einfach eingerichtet und beengt. Das kann ich sehen, indem ich den einen oder anderen verstohlenen Blick in das Innere der halb geöffneten Räume werfe. „Wie haben es die Menschen während der Pandemie ausgehalten?“ Will ich von unserem Guide wissen. Der Lockdown, erzählt uns Mamadou, galt nur abends und nachts. Tagsüber durfte man zum Glück nach draußen gehen.

Ziegen meckern uns hinterher. Auch die Erwachsenen sind freundlich, viele grüßen. Verhalten zwar, doch antworten wir und lächeln, entspannen sich auch ihre Gesichtszüge. Wir gehen über sandigen Boden, die Füße sinken in den Sand. Tiere und Menschen bevölkern die Wege zwischen den Hütten. Vorsichtig manövrieren wir uns zwischen ein paar ruhenden Ziegen hindurch und suchen uns unseren Weg zum Strand. „Ach du scheiße.“ Sagt Stefan hinter mir. Der herumliegende Plastik leuchtet in der tief stehenden Sonne wie falsches Gold. In warme Töne getaucht gehen Fischer ihrer Arbeit nach. Ziegen klettern auf Abfallhaufen herum und knabbern Dosen und Becher an. Wir fühlen uns von der Menge an Müll schier erschlagen. Mittendrin tummeln sich spielende Kinder.

Dieser Küstenabschnitt hier wird verstärkt patrouilliert, da es von hier aus auf direktem Wege zu den Kanarischen Inseln geht. Während der großen Flüchtlingswelle 2015-2016 sind viele Menschen einfach in ihre Boote gestiegen und übergesetzt. Es ist ja auch zu verlockend, alldem hier zu entkommen, es scheint zu einfach.

Ich bin froh, dass wir das hier gemacht haben, dass wir trotz der Zweifel noch einmal rausgegangen sind in die Stadt. So haben wir – habe ich – meine Vorbehalte gegenüber den Menschen hier verloren. Wir erzählen Mamadou bereits zu Beginn der Tour das eine oder andere von dem, das uns die Laune verhagelt hatte. Er ist untröstlich und verspricht, die Sache zu klären. Er arbeite bereits seit Jahren mit diesem Hotel zusammen, beteuert er uns, und hatte bislang nur gute Erfahrungen gemacht. Ob die Menschen ein grundsätzliches Problem mit Besuchern aus dem Westen hätten, frage ich. Doch das verneint er entschieden. Wir sollen uns einzelne schlechte Erfahrungen nicht zu Herzen nehmen, redet er leidenschaftlich auf uns ein. Auch er habe in Deutschland bereits Erfahrungen mit Fremdenfeindlichkeit gemacht, doch er wisse, dass es einzelne Menschen gewesen seien. Es sei ihm klar, dass das Land als Ganzes nicht so ticke, und er habe insgesamt in München eine schöne Zeit gehabt.

Damit sind wir ausgesöhnt. Einem Senegalesen, der den deutschen Rassismus kennenlernte und dennoch gut über unser Land denkt, würden wir nicht widersprechen wollen. Und er hat Recht mit dem, was er sagt. Nicht zu pauschalisieren ist eine reflektierte Einstellung.

Zurück im Hotel. Wie versprochen nimmt sich Mamadou unseres Anliegens an. Später trauen wir uns dann doch noch an die Bar. Nun sitze ich da, während Stefan liest, und beobachte von unserer Terrasse aus die belebte Kreuzung und die Menschen. Die jungen Frauen, wenn sie abends ausgehen – also, ich versuche sie ja nicht anzustarren, aber sie sehen echt schön aus.

Uralte Fahrzeuge rollen langsam über die Kreuzung, Dinosauriern gleich, die eigentlich längst ausgestorben, pardon: abgewrackt sein sollten. Zerbeult sind sie, verrostet, ihre Lichter fehlen. Und sie fahren, sie fahren noch, vielfach geflickt; werden in zehn, zwanzig Jahren vermutlich noch immer auf Straßen Afrikas unterwegs sein. Und Ladungssicherheit hat oberste Priorität. Säcke voller… was? auf dem Dach eines uralten Busses festgezurrt mi Seilen; ein Moped mit Anhänger, der hoch gestapelte Matratzen transportiert, von den Menschengruppen, die sich hier kopfwackelnd auf Dächern und Ladeflächen zusammengepfercht transportieren lassen, ganz zu schweigen.

Ein Sicherheitsbeamter ist heute im Einsatz. Die Trillerpfeife muss er erst kürzlich erhalten haben; nun läuft er aufrecht, entschlossenen Schrittes am Bürgersteig auf und ab und trillert, was seine Lungen hergeben. Gestern war bis in die späten Abendstunden ein laut hupendes Auto zu hören, heute ist es der Zeitgenosse mit der Trillerpfeife. Niemand weiß so genau, was er da eigentlich macht und niemand beachtet ihn so wirklich. Was seinem Enthusiasmus keinen Abbruch tut. „Wenn er viel trillert, macht er einen guten Job.“ Sage ich. Wir lachen.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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11 Kommentare

  1. stefantaege sagt:

    Der schier endlose Müll und die praktisch nicht vorhandene Hygiene war entsetzlich.

    1. Für dich war das ein großer Schock, du warst das erste Mal in einer solchen Umgebung…

    2. Fahr mit mir nochmal hin, beim zweiten Mal wird alles leichter 😉

  2. Ja, gut, dass ihr euch noch mal hinaus ins pralle Leben gewagt habt. Ihr hättet sonst wirklich was versäumt. Und ein paar unangenehme Empfindungen, die nach schlechten Erfahrungen entstanden sind, konntet ihr auch noch loswerden. Dieser Tag hat euch eine Menge Nachdenk-Stoff geliefert.

    1. Da bin ich auch froh. Es ist immer besser, sich abzulenken, als auf seinem Zimmer zu sitzen und zu grübeln 😉

  3. Ich glaube, wenn man diese Zustände sieht ist man froh, dass wir auf der Sonnenseite des Lebens geboren sind.

    1. Und gleichzeitig fragt man sich, wie die Leute es Tag für Tag meistern😉

  4. Ich hatte als Kind auch mal eine Trillerpfeife. Geil. Bis sie mir mein Papa weg nahm. Ruhestörung.

    1. Dein Papa gab sie dem Beamten in St. Louis😁

  5. Eine weitere faszinierende Geschichte, die dieses Mal auch die harte Realität des Landes zeigt.

    1. Dankeschön. Ja, das Leben kann hart sein. Es ist gut, das gesehen zu haben.

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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