…oder: Koffer packen auf türkisch.
Nach all den skurrilen Erlebnissen des Abends kehren wir zur belebten Einkaufsmeile von Karaköy zurück, dorthin, wo das Leben noch normal war, ehe wir uns auf den mysteriösen Pfad der Volkszauberei begaben. Die lange Meile ist voll wie zur Anfang, Straßenmusikanten und Rosenverkäufer gehen ihrem Job nach und ich sehe viele Kinder, teilweise sehr jung, die mit verblüffenden Fähigkeiten spät in der Nacht noch das Zubrot für die Familie erwirtschaften. Da sind diese Jungen, kaum älter als fünf, die mit kräftigem Getrommel auf leeren Eimern das Publikum bei der Stange halten. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass diese vier- bis fünfjährigen Knirpse zu dieser späten Uhrzeit längst zu Hause und in ihren Betten sein müssten.
„Das sind Flüchtlingskinder.“ Erklärt meine Freundin. Es seien keine türkischen Kinder, bekräftigt sie. Es gäbe in der Türkei keine Grundsicherung wie in Deutschland. Die Türkei habe zwar Millionen an Flüchtenden u.a. aus Syrien aufgenommen, doch anschließend muss jeder selbst zusehen, wie er über die Runden kommt. Und so gehen bzw. schicken sie ihre Kinder auf die Straße. Das alles macht mich irgendwie fertig. Diese Kinder sollten nicht hier sein. Und gleichzeitig löst dieses Wissen eine Abwehrhaltung in mir aus. Shit happends, so ist die Welt.
Das Wetter hält an, zumindest auf der Seite von Karaköy. Sobald wir die Galata Brücke überquert haben und uns am Platz von Eminönü wiederfinden, ist es, als hätten wir eine andere (meteorologische) Welt betreten. Der Boden zu unseren Füßen präsentiert sich nass und glänzend, als hätte sich hier ein kräftiger Regenschauer ausgetobt. Von dem wir dort in Karaköy, auf der anderen Seite des Regenbogens, freilich nichts abbekommen hatten.
Auf den vertäuten Booten wird der frisch im Bosporus gefangene Fisch paniert und zubereitet, um schließlich auf den Tellern der Gäste (auf unseren Tellern…) zu landen. Das leckere Fischbrötchen spukt uns bereits den ganzen Abend im Kopf herum; wir verzehren es draußen auf den Plastiktischen und -stühlen. Nieselregen, der da langsam einsetzt, kann uns die Laune nicht verderben, denn übermüdet und matt sind wir eh schon.
Taxi-Armut
„Wir haben Armut in der Türkei.“ Sagt Fee und lacht. „Taxi-Armut“. Tatsächlich ist an solch belebten Orten wie Eminönü zu dieser Uhrzeit kein einziges Taxi zu sehen. Gestatten: es ist mitten in der Nacht. Zu dieser Stunde fährt scheinbar keiner mehr, und auch „unser“ Taxifahrer, den wir ins Handy gespeichert haben, ist nicht mehr erreichbar.
Dafür wittern die vielen „Privattaxis“ ihre Chance; ihre Stunde hat geschlagen. Sie sammeln die übrig gebliebenen Nachtschwärmer ein und befördern sie unter unmöglichen Bedingungen zu überhöhten Preisen. In einem solchen Taxi sitzen wir jetzt. Ich auf dem Beifahrersitz, und Fee auf meinem Schoss. Die hinteren Plätze sind mit weiteren Übriggebliebenen belegt, die sich wie Sardinen in der Büchse irgendwie arrangieren. Angeschnallt ist keiner. Doch diese zugegebenermaßen amüsante Fahrt hält in dieser Form nur so lange an, bis die hinteren Fahrgäste aussteigen müssen. Anschließend sitzen wir auf dem Rücksitz. Was unserem Fahrer, einem älteren Herrn, nicht so ganz schmecken mag. Er fürchtet eine polizeiliche Kontrolle, bei der Fragen gestellt würden. „Würde eine von euch vorne sein, dann könnte ich euch als Bekannte ausgeben, aber so?“ Natürlich ist diese Art des Broterwerbs höchst illegal und unversteuert obendrein, doch hier muss jeder zusehen, wie er an seine Brötchen kommt.
Ich bin müde und froh, dass Fee den Smalltalk übernimmt. Der Fahrer erzählt uns, er mache diesen Job schon seit vielen Jahren. Es scheint sich für ihn zu lohnen.
Irgendwann nachts um drei kommen wir völlig erledigt in unserem Hotel an. Fee will direkt mit dem Packen beginnen, unser Flug geht früh am Morgen. Doch an diesem Punkt streike ich. Ich bin erledigt, gereizt, kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Mit Engelszungen delegiere ich meine Freundin in ihren Raum und lege mich auf die Wohnzimmercouch. Eine Stunde, mehr will ich nicht. Als der Wecker an meinem Handgelenk vibriert, fühle ich mich, als hätte mich ein Pferd getreten.
Im Zimmer meiner Freundin ist es verdächtig still. Sie hatte angekündigt, ihre Sachen zusammen zu packen, während ich schlafe. Als ich die Türe vorsichtig öffne, liegt Fee bei hellem Licht auf dem mit Kleidung und Einkäufen zugeschüttetem Bett und schläft. Ich tippe sie an. „Es wird Zeit.“
Wer packt so? „Ich!“
Der Hotelmanager hatte uns bereits gestern mitgeteilt, dass er den gebuchten Transfer nicht gewährleisten könne. Es stünde kein Auto zur Verfügung. Fees protestierende Nachricht blieb unbeantwortet. „Die haben uns blockiert.“ Stellt sie fest. Mit „die“ meint sie diejenigen Hotelmitarbeiter, mit welchen wir zwecks Rückfragen in Kontakt standen – und bei denen schlussendlich schwierig ist zu sagen, wer wofür zuständig und wer nur „Freund des Hauses“ ist.
Mit drei Koffern und unzähligen Handgepäckstücken schieben wir uns zum Aufzug. Das heißt, Fee läuft schon mal die Treppen hinunter, um den unbemannten, dafür bis an die Kapazitätsgrenze vollbeladenen Aufzug entgegen zu nehmen, den ich ihr hinterher schicke. Nicht ohne vorher ein Beweisfoto gemacht zu haben. Das Ganze erinnert mich sehr an die früheren Touren mit meiner Mutter über die deutsch-polnische Grenze, irgendwo Mitte der Neunziger Jahre, wo nach der Prämisse „mehr ist mehr“ alles an Bagage, was wir tragen (oder auch nicht tragen… schieben… stemmen…) konnten, in den Zug gepackt wurde. Ich erinnere mich , als sei es gestern gewesen, wie wir, umgeben von Taschen wie russische Bauersfrauen auf dem Weg zum Markt, seelenruhig anderthalb Vierersitze in einem Abteil der Deutschen Bahn belegten. Und wie dann plötzlich, aus den Untiefen des Gepäcks, das dumpfe Klingeln eines Weckers an unsere Ohren drang.
Unten in der Lobby ist es noch leer, das gesamte Hotel liegt noch in einem tiefen Schlaf. Bis auf den Mitarbeiter, den wir noch nie hier gesehen haben und der Nachtwache schiebt. Lustlos schaut er uns dabei zu, wie wir uns mit unserem Gepäck abmühen. Wir bitten nicht um Hilfe und er bietet auch keine an. Eigentlich untypisch für die Menschen hier, doch uns wurde gesagt, dass wir uns die schlechteste Gegend in ganz Istanbul als unser Zuhause auf Zeit ausgesucht hätten. Vermutlich wurde er instruiert, keinen Finger krumm zu machen, eine späte Rache für den Stunk, den Fee für den zugesagten, (bezahlten…) und nicht eingelösten Transfer gemacht hatte. Jetzt mussten wir zusehen, wie wir zum Flughafen kamen.
Wir haben Glück. Fee telefoniert herum und schafft es tatsächlich, ein Taxi für uns zu organisieren. Wie durch ein Wunder erreichen wir zeitig den Flughafen, denn wie uns später bestätigt wird, ein Taxi um diese Uhrzeit zu kriegen sei fast unmöglich. Dort oben muss uns wohl jemand gern haben.
Es bleibt uns noch jede Menge Zeit, und so watscheln wir schnurstracks zur Abfertigung, um das Gepäck schon mal los zu sein. Nicht ohne uns vorher einen Gepäckwagen für all unsere eines Packkamels würdige Bagage zu organisieren. Etwas fassungslos stehe ich da und sehe schweigend zu, wie Fee beginnt, den Wagen zu schieben. Schließlich sage ich, langsam den Kopf schüttelnd: „Weißt du… ich habe mich schon immer eines gefragt. Wenn ich Reisende, ob Familien oder Muttis mit Kindern gesehen habe, die für einen einzigen Urlaub soviel Gepäck brauchen… also, da habe ich mich immer gefragt: WAS sind das für Leute? Was sind das für Leute, denen eine normale Tasche nicht reicht?“
Meine Fee lacht laut auf und sagt: „Na, jetzt weißt du es: ich!“
Ich lache ob der Erkenntnis, mich – zwar unverschuldet, aber wer fragt denn schon danach – in einer solchen Situation wiedergefunden zu haben.
Am Schalter kristallisiert sich heraus, dass sich meine Freundin ein wenig mit unserem Handgepäck verkalkuliert hatte. Turkish Airlines toleriert so einiges, aber beim Anblick unserer vielen Taschen und Täschchen empfiehlt uns die freundliche Mitarbeiterin, ein wenig umzupacken. Aus fünf Taschen mache vier, oder so ähnlich. Also zurück auf Anfang.
Es gibt hier am Flughafen Istanbul – man kennt ja seine Pappenheimer – sogar speziell für solche Fälle vorgesehene Umpackstationen, doch habe ich nie gedacht, mich je an so einer wiederzufinden. Bereits zu Beginn unserer Reise hatte mir Fee erzählt, dass sie fast immer mit leeren Koffern in ihre Heimat fliegt – um sie dann hier vor Ort mit Kleidung, Nippes und allerlei Geschenken für Freunde und Familie zu befüllen. So stehen wir also da und spielen Tetris. Die Hosen passen noch hier rein, die Klamotten kann man rollen… Am meisten schmerzt es mich um den guten, deutschen Wein, den wir aus der Heimat gebracht und nicht ausgetrunken hatten und der nun schweren Herzens zurück gelassen werden muss. Hoffentlich nimmt ihn jemand mit, der den guten Tropfen zu würdigen weiß.
Und zum wiederholten Male frage ich mich laut: was sind das für Leute, die es nicht schaffen, ihre Sachen ordentlich zu verstauen, so dass sie am Flughafen nochmal umräumen müssen? Fee lacht und ruft: ICH!
Den Flieger erreichen wir gerade noch so. Die Aktion mit dem Gepäck hatte wertvolle Zeit gekostet, und die letzten Meter absolvieren wir rennend. Mein Rücken schmerzt; der Rucksack, gefüllt mit gerollten Billigjeans, ist schwer wie ein Stein. Fee trödelt ein wenig und ich treibe sie an. Das ist gut so, denn als wir am Gate ankommen, ist das Boarding bereits im vollen Gange. „Öm… und ich wollte noch rauchen gehen…“ Sagt eine enttäuschte Fee. Ich erkläre ihr daraufhin, dass das Rauchen fürs erste gestrichen ist.
Schließlich, als wir gemütlich im Flieger sitzen, und dieser gen Himmel startet, in Richtung Deutschland, fällt der Stress von uns ab. Ich schlafe ein.
Nachtrag
Fees Bruder holt uns am Frankfurter Flughafen ab. Zuverlässig wie immer ist er in wenigen Minuten da. Im Auto habe ich Gelegenheit, meine spärlichen, neu erworbenen Türkischkenntnisse zum Besten zu geben.
Im Haus der Schwägerin muss noch Zeit für einen Kaffee sein. Und wir erzählen ihr Geschichten. Zum Beispiel die, wie wir fast verhaftet wurden, weil wir unbeabsichtigt vor Präsident Erdogans Haus herumstanden.
Was, davon wisst ihr noch gar nichts? Also, dann erzähle ich es euch jetzt. Es fing so an…
Fortsetzung folgt
Von den „Privattaxis“ habe ich gehört. Über eine Zentrale sollte man aber doch an ein lizensiertes Taxi kommen. Zumindest in Istanbul.
Hm, das kann gut sein… aber wo bliebe da die Gaudi?😉
Eure Gepäckmengen waren ja echt der Hammer 😂🙈! Soviel hätte ich wohl nur bei einem Umzug dabei. Auf die Beinahe-Verhaftung bin ich jetzt aber echt neugierig. Wann geht’s weiter?
Die Gepäckstücke, tja, die kann ich mir auch nicht erklären. Wir haben doch gar nichts gekauft… *grübel*
Die hat euch dann bestimmt einer untergejubelt 😇!
Ja, da bin ich mir sicher, kann gar nicht anders sein… 😉
Wieviele Tage wart ihr unterwegs? Das Gepäck hätte für mich ein ganzes Jahr gereicht. Naja, Frauen halt.
Liebe Grüße
Harald
Knapp eine Woche. Der Stauraum war für Shopping vorgesehen.
Lg Kasia
Herrlich, das Gepäckmassaker. So viele Koffer hatte ich bei meinem letzten Umzug😂😂😂
Erinnere mich nicht dran… ich habe mich echt gefragt, wofür ein Mensch das für nur eine Woche braucht 😉