Asien, Türkei

Hagia Sophia (II)

Melodisch ertönt der Ruf des Muezzin zum Gebet, wandert durch die goldenen Hallen, verliert sich am goldenen Deckengewölbe, streift über Fresken, dringt in jeden Winkel. Streift uns, die wir im hinterstem Eck der Moschee auf dem Teppichboden sitzen. Streift unsere Herzen. Es bewegen sich in den inneren Bereich diejenigen, die beten wollen. Andere, wie wir, schauen zu. Ich lasse die Augen über die große, goldene Halle wandern. „Es wirkt nicht so in deinem Video.“ Wird mir mein Onkel später schreiben. Doch das Gefühl, hier zu sein, ist ein ganz erhabenes.

Fee sitzt ganz still neben mir. Sie hat die Augen geschlossen, ist jetzt nur für sich. Es ist kein Augenblick, in dem man spricht. Es hat etwas feierliches, herausgerissen von dieser Welt. Seit über tausend Jahren kommen die Menschen zum Gebet hierher, und auch – ja, machen wir uns nichts vor – auch ein Zentrum politischer und religiöser Macht ist dieser Ort gewesen. Warum sie also in totes, nichtssagendes Gestein verwandeln? Jetzt, da der Gesang erklingt, da ich die Menschen zum Gebet strömen sehe, komme ich einmal mehr zum Schluss, dass die Entscheidung, ihn nicht nur Museum sein zu lassen, genau die richtige war. Wie, die Hagia Sophia gehört allen? – höre ich euch bereits rufen. Aber sie gehört doch uns allen. Du kannst jederzeit hinein; jeder kann hinein. Was hat es bloß auf sich mit dieser typisch deutschen Aversion zu Moscheen? Nichts hat sich geändert, es ist noch immer derselbe Bau, hat dieselbe geschichtliche Bedeutung; es ist nichts anders.

Nach dem Aufruf zum Gebet werden nun Verse des Koran rezitiert. Freilich verstehe ich davon kein Wort, doch das ist auch nicht wichtig. Die melodische Stimme erfüllt klangvoll den Raum. Ja, viel besser als totes Gestein. So viel besser. Ich bin tief in mir versunken. Ein besonderer Ort und ja, man kann sich dem nicht entziehen.

Große, runde und schwere Kronleuchter an der goldenen Decke. Ihr warmes Licht, an Kerzenlicht erinnernd, lässt die Abstände im Raum und zwischen den Menschen anders, fern jeder Realität erscheinen, spiegelt sich in dem tiefen Gold und bringt es zum Leuchten. Es macht einen Teil des Zaubers aus, dieses Licht.

Als die Gebete verklingen, dürfen wir uns wieder frei bewegen und auch den inneren Bereich betreten. Nun steht niemand mehr Wache und wir schlüpfen an den Schranken vorbei. Schlendern dann von Ecke zur Ecke, schauen uns die Details an, die bemalten Fresken, die Decke. Versuchen, die einzelnen Menschen nicht zu stören, die noch immer im Gebet sind, umkreisen sie im großen Bogen. Verdrehen uns den Hals, bis der Nacken schmerzt, um die fabelhafte Kuppel zu bewundern. Können nicht genug bekommen.

Es war ein erfüllender Abend, und eigentlich hätte der Tag an dieser Stelle für mich enden können. Doch meine Freundin hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich eine dubiose, türkische Spezialität aus ihrer Heimatstadt Gaziantep, probieren zu lassen. So schleppt sie mich zu Sirdanci Mehmet.

 

Sirdanci Mehmet

Das berühmte Lokal „Sirdanci Mehmet“, dessen Besitzer in der Türkei jedes Kind kennt. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich freilich nicht, wer Sirdanci Mehmet ist oder was es überhaupt mit „Sirdan“ auf sich hat, denn meine Freundin, wie das so ihr Stil ist, verpackt alles geschickt als „Überraschung“. Schon seit Tagen verspricht sie mir mit diesem besonderen, diebischen Glitzern in ihren Augen, ich müsse dieses eine Gericht unbedingt probieren. „Reis mit Fleisch“, sagt sie dann auf meine Nachfrage hin, doch das Gesicht, welches sie dabei macht, gefällt mir irgendwie gar nicht. Was an Fleisch mit Reis so spektakulär sein soll, erschließt sich mir nicht; umso irritierter werde ich jedes Mal, wenn sie es anspricht und dabei grinst wie eine diebische Elster. Beunruhigender Weise überträgt sich dieses seltsame Grinsen wie eine Pockeninfektion auf alle türkischen Umstehenden, denen sie von ihrem Vorhaben erzählt. Ich schaue dann von einem zum anderen. Die „anderen“ gehen grinsend weiter, während mich meine Freundin am Arm nimmt und sowas sagt wie: „Das wird dir schmecken, vertrau mir.“ Ja, vertrau mir – sagte der Storch zum Frosch.

Muss das noch heute sein? – Geht mir durch den Kopf, während wir im Dunkeln nach der entsprechenden Adresse suchen. Denn die Adresse darf ich ja nicht kennen, ich könnte sonst die „Überraschung“ vorher ergoogeln. Ich will eine brave Reisebegleitung sein und Fee ihre Aktion nicht verderben, und so laufe ich brav mit. Wir verbringen Stunden auf der Suche nach diesem ominösen Lokal und entfernen uns dabei von allen hellen und sittenhaften Ecken, hin zu düsteren Straßenzügen, wo nur einsame Nachtleuchter in ihren verrauchten Kneipen sitzen und uns ein seltsam aussehender Mann grinsend in seinen Sex Shop zu locken versucht. Schließlich hängen wir uns an zwei Polizisten fest und lassen uns ein Stück weit begleiten. Die Polizei läuft schützend mit uns, solange, bis wir uns auf dem richtigen Weg wähnen. Das schaffen wir dann alleine, danke die Herren.

Jetzt nur noch diesen kleinen, jedoch hellen und belebten Park überqueren, wo Familien beim Flanieren zu sehen sind und wo das Leben wieder „normal“ ist, dann schnell in eine Seitengasse abbiegen, dann stehen wir davor. „Das ist es.“ Sagt meine Freundin und freut sich wie ein kleines Kind. „Das ist Sirdanci Mehmet.“ Ein grinsendes Männergesicht mit dickem, schwarzem Schnäuzer strahlt mir von einer bunten Neonlichtreklame entgegen.

 

Sirdan, oder: „WAS ist das?“

Ich trete zunächst ein paar Schritte zurück und schaue mir die Lokalität mit ein wenig Abstand an. Ich gehe gar ein paar Schritte im Regen auf die andere Straßenseite und fotografiere den Laden, nachdem wir uns so lange die Hacken abgelaufen haben. Ich bin müde und habe Kopfschmerzen. Nun sind wir da und ich ermahne mich, mich zusammen zu reißen. Also setze ich ein tapferes Lächeln auf und wir gehen rein.

Zehn Minuten später.

„Fee, was ist das?“
Fee (kann sich kaum halten vor Lachen): „Reis mit… *prust* …mit Fleisch.“
„Fee… w-a-s ist das??“
„Na… *prust* Reis mit Fleisch!“
„Fee, ich esse das nicht, wenn du mir nicht sofort sagst, was das ist!“

Das Restaurant ist voll. Das Restaurant ist voll und ich wohl die einzige Nichttürkin (na gut, sagen wir, wie es ist: die einzige weiße hier…). Und hin und wieder, wenn ich aufschaue sehe ich in ein paar neugierige Augen, die mich dezent beobachten, um sich dann, sobald sie entdeckt wurden, sofort wieder ihrem Essen zu widmen. Ach, eigentlich beobachtet mich neugierig das ganze Lokal, während ich fassungslos und leicht angewidert auf meinen Teller starre. Ein Eklat bahnt sich an.

Denn wisst ihr… ich war einmal in Reykjavik, in einem Penis-Museum. Ja, wirklich. Nur scheint das, was ich dort, eingelegt in Formaldehyd in Gläsern schwimmend gesehen habe, irgendwie den Weg auf meinen Teller gefunden zu haben. Und die Erläuterung, zu der sich meine Freundin endlich hinreißen lässt, trägt nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. „Es ist ein Teil vom Schaf.“ Sagt sie. „Jedes Schaf hat eins davon.“

Oha?

„Welches… Teil vom Schaf?“ Noch während ich frage, graut es mich vor der Antwort. (Und überhaupt, wo ist hier bitte der Reis…?)

Wie sich herausstellt, wird Sirdan aus dem unteren Stück des Schafsmagens zubereitet und hat, trotz seines Aussehens, mit einem Penis nichts zu tun. Es wird gekocht, mit Reis befüllt und gewürzt serviert. Beruhigt beginne ich zu essen. Das Gericht schmeckt gut, etwas zu deftig für meinen Geschmack, aber gut. Und während ich mich auf meinen Teller konzentriere, kann ich nur spekulieren, wie viele Geldscheine aufgrund verlorener Wetteinsätze gerade die Besitzer wechseln.

Nach und nach, beim Kauen sozusagen, erfahre ich, was für eine lokale – ach was, nationale Berühmtheit Mehmet eigentlich ist. Mit seinen Spezialitäten aus Schaf betreibt er mehrere Filialen in der Türkei und sogar eine in Dubai. An den Wänden hängen reihum Bilder diverser Stars und Sternchen, die hier zum Essen waren. Hier zu sein ist schon etwas Besonderes. Und – was für ein Glück! – der Meister selbst ist heute anwesend und beehrt mich mit einem gemeinsamen Foto.

Was ich nicht weiß – und auch sozusagen beim Nachtisch erfahre – ist, dass Mehmet diverse Spaßvideos mit seinen Gästen aufnimmt, die ihren Weg auf Insta und Tik Tok finden. Der Gast muss sich sein Essen verdienen, er wird gefüttert und mit Gewürzen bestreut, und ein ums andere Mal geht Geschirr zu Bruch, zerschmettert von „wütenden“ Kunden. Wie gestellt das Ganze ist, sehe ich jetzt, als Fee mich fragt, ob man denn auch mit mir ein Video drehen dürfe. „Ich habe im Vorfeld gesagt, dass man dich nicht mit Essen bekleckern soll.“ Besser so. Das Video ist nicht spektakulär geworden, es beinhaltet mich und Künefe, einen türkischen Nachtisch, mit dem ich gefüttert werde.

Der Renner bei Sirdanci Mehmet ist wohl der gekochte Schafskopf, der in mir Assoziationen mit Kannibalismus weckt. Doch mein Bedarf an skurrilen Lebensmitteln ist für heute gedeckt; stattdessen bestelle ich noch zwei Sirdan, um den mich noch immer beobachtenden Angestellten zu suggerieren, dass es mir schmeckt. Ich blicke in erleichterte Augen der Kellner.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...

10 Kommentare

  1. […] gegessen hast? Ähm… nennt sich Sirdan und wird in der Türkei gegessen. Probiert hatte ich es letztes Jahr in Istanbul. Von der Beschreibung her ist es Reis mit Fleisch, besteht aus dem unteren Teil des Schafmagens und […]

  2. Du bist sehr tapfer gewesen 😄
    Es sieht auf jeden Fall … äh … sehr echt aus 😁
    Schön dass du uns mitgenommen hast in diese beeindruckende Hagia Sofia 🤩

    1. Es sah beeindruckend echt aus, lach… aber es hat geschmeckt, alles gut 😉
      Die Hagia Sophia war ein besonderes Erlebnis.

  3. Die Hagia Sophia scheint mir ein magischer Ort zu sein. Mich wird sie garantiert genauso beeindrucken und für sich einnehmen wie dich. Obwohl ich selbst ja völlig unreligiös bin, packt mich die ganz spezielle Atmosphäre in Moscheen immer wieder. Was ich von dieser Schafsspezialität ganz und gar nicht behaupten kann 😂! Ich glaube, ich wäre schreiend aus dem Laden gerannt 😅.

    1. Lach, ich war kurz davor, schreiend aus dem Laden zu rennen… 😉

      1. Aber du hast ja tapfer durchgehalten 🥳!

        1. Und sogar gegessen. Man, was war ich stolz auf mich. Also, ich halte mich für jemanden, der gerne alles probiert, aber wenn sich die Spezialität als das herausgestellt hätte, wonach sie ausschaut, dann hätte ich gesagt: ach Kasia, komm, du musst auch nicht alles kosten, was es auf der Welt gibt… 🙂

          1. 😁🥳😂

  4. Ich habe Ihre Geschichte mit großem Interesse gelesen und ja, Sie haben sich das Spannendste für den Schluss aufgehoben …. ha ha ha

    1. Sie meinen, die Spezialität vom Schaf? Das war spannend, auf jeden Fall. Ein echtes Erlebnis 🙂

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.