Der Motor jault jämmerlich auf. Mein Onkel gibt Gas. Nur noch ein Bisschen. Das protestierende Jaulen wird lauter, während die Räder auf den glatten, nassen Steinen quietschen. Dann – ein Ruck… und ja! Der Wagen befreit sich aus seiner misslichen Lage. Wir, die wir außen am Straßenrand stehen und aus sicherer Entfernung mit guten Worten und Ratschlägen reich um uns werfen, fangen an zu applaudieren. Der Andrej, der schafft’s halt…
Der Besuch der Gergetier-Dreifaltigkeitskirche gehört einfach dazu. Hier in Georgien zu sein und sie nicht gesehen zu haben – no way. Sie ist nicht nur ein Touristenmagnet und ein beliebtes Motiv diverser Georgien-Reisekataloge, nein. Es steckt viel Geschichte in ihr und auch viel Tollkühnheit, sie so auf einem Podest direkt vor den Toren des Großen Kasbek zu setzen. Als wollte sie ihren Platz behaupten, sich mit den Urgewalten messen. Ja, die Lage der Gergetier-Kirche ist einmalig.
Die Kirche wurde im 15 Jahrhundert erbaut. Sie beherbergte den Schatz der Apostelkirche und das Weinrebenkreuz der heiligen Nino, die den Georgiern die christliche Lehre beibrachte. Der Name der Kirche leitet sich vom inzwischen verschwundenen Dorf Gergeti ab, dessen Bewohner ihr Leben lang zu Unterhaltszahlungen an die Kirche verpflichtet waren. Aus diesem Grunde nannte man die Dorfbewohner auch „Leibeigene der Dreifaltigkeit“. Nach Ende der Sowjetzeit wird die Gergetier Dreifaltigkeitskirche wieder für Gottesdienste genutzt.
Der Besuch der Gergetier-Kirche ist – wie es bei allen Kirchen in Georgien der fall ist – kostenlos. Doch die cleveren Georgier finden Mittel und Wege, um dennoch am nicht abreißenden Touristenboom mitzuverdienen. So erfahren wir im Infohäuschen, während wir eine Runde um den vollen Parkplatz drehen, dass die hinauf zur Kirche führende Straße aufgrund von Straßenschäden gesperrt ist. Eine unwegsame Piste außen herum stellt die Umleitung, und am Touristenparkplatz stehen bereits groß gewachsene, grimmig drein schauende Georgier nebst ihren Mitsubishi-Kleintransportern, bereit, den zahlungswilligen Besucher nach oben zu transportieren.
Aber nicht mit uns, denn mit unwegsamen Pisten kennen wir uns inzwischen aus. Ich jubele innerlich, denn ich hatte den Gedanken bereits beerdigt, nochmal ein kleines Abenteuer zu erleben. Leichte Bedenken bereitet mir zwar die Tatsache, dass diesmal mein Onkel am Steuer sitzt, aber es wird schon gehen. Ruckelnd und schaukelnd arbeiten wir uns vorwärts.
Als wir den sicheren Asphalt verlassen, spähen wir nach links, zur sich hoch schlängelnden, asphaltierten Straße. Sie ist tatsächlich gesperrt worden, doch was dort gemacht oder nicht gemacht wird, ist von hier unten nicht zu erkennen. Wir haben unsere Zweifel und vermuten eine Umsatzbeschaffungsmaßnahme. Denn was auch immer dort auf der Hauptstrecke los ist, kann nicht so schlimm sein wie das, womit wir uns hier gerade abplagen.
Ihr dachtet, Omalo wäre schlimm? Die Gergeti-Umleitung (so habe ich es auf die Schnelle getauft) ist fast genauso schlimm, nur anders. Damit wir nämlich alle verfügbaren Facetten der georgischen Fahrbahnoberflächen kennenlernen können, hier bitteschön: nur für uns, besteht der Weg aus mit Matsch bedeckten, glattpolierten, runden Flusssteinen, über die sich unser Auto mit einem protestierenden Motorgeräusch hinweg zu bewegen versucht. Ja, so etwas hatten wir in Georgien noch nicht, und zur Beginn steht uns allen der Schweiß auf der Oberlippe. Währenddessen überholen uns die zügigen Kleintransporter der Locals, beladen mit ihrer wertvollsten Fracht, dem Touristen – sie schauen uns durch ihre schmutzigen Scheiben so düster an, dass uns bereits der Gedanke an Vendetta und alle möglichen, uralten Rachebräuche durch die Köpfe schießt. Tatsächlich sind wir die einzigen, die verrückt genug sind und uns auf eigene Faust über diesen fast unmöglichen Streckenabschnitt wagen (was soll ich sagen, ein Trip nach Omalo macht mutig…). Vermutlich schimpfen sie uns gerade Geizhälse, die den Menschen im Land keinen Verdienst gönnen, gebe ich zu bedenken, doch meine Leute zeigen sich unbeeindruckt.
Links neben uns plätschert romantisch ein bläulicher Bach. Und während wir weiter fahren, wechselt die Oberfläche von glatt poliertem, rundem Gestein zu großen, matschigen Löchern. Eine Kurve nach links, schon geht es (vermutlich) direkt auf unser Ziel zu. Hier, zwischen den Bäumen, besteht der Weg nur noch aus Matsch. Vermutlich ist er nur für Pferdefuhrwerke und ähnliches gedacht. Wie zur Bestätigung materialisieren sich plötzlich ein paar Kühe vor uns und trotten gemütlich vor das Auto, während es sich vergeblich abmüht, vorwärts zu kommen. Und immer wieder weichen wir nach rechts ab, um einen oder mehrere überholenden Fahrzeugen samt ihrer grimmigen Fahrer Platz zu machen. In einem solchen, schlammigen Loch fährt sich der Karren schließlich fest.
Wir steigen alle aus dem Wagen, um das Gewicht zu reduzieren. Während wir ein paar Schritte nach vorne gehen, rufen wir meinem Onkel gut zu. Ich glaube, darauf könnte er allerdings gerade verzichten. Er nimmt einen Anlauf. Noch einen. Und noch einen. Und schließlich – ich kann es kaum glauben – befreit sich unser Fahrzeug und es kann weiter gehen. Wir steigen wieder ein, dankbar, dass unser Georgien-Trip nicht hier auf diese unrühmliche Weise endet.
Doch für den asphaltierten Hauptweg hat Tomek eh nur Verachtung übrig. Und erzählt uns, wie er vor zehn Jahren wildromantisch mit dem Motorrad über eine kaum befahrene Piste zur Gergetier-Kirche gelangt ist. Es habe, schwärmt er, damals noch keine Touristenbusse gegeben, keine Jeeps, die Leute transportierten, und dieser große, asphaltierter Parkplatz unterhalb der Kirche sei auch nicht dagewesen. Ja, früher war alles besser, wir haben’s verstanden, denke ich mir neidisch und frage mich, warum ich so lange mit dem Besuch von Georgien gewartet habe. Habe ich nicht vor einigen Jahren eine Doku gesehen, in der neu ankommenden am Flughafen Tiflis je eine Flasche Wein als Willkommensgeschenk in die Hand gedrückt wurde…?
Noch etwas erzählt uns Tomek, noch bevor wir oben angekommen sind. Die optische Wirkung der Landschaft, erklärt er, kann täuschen. So erscheint es, wenn man die Kirche auf ihrem „Hügel“ ruhen sieht, als sei sie der höchste Punkt in der Landschaft. Und ja, nicht zu vergessen, dass sie sich bereits auf rund zweitausend Metern Höhe befindet. Doch steht man oben und direkt vor ihren Mauern, führt er weiter aus – dann tauchen die mächtigen, schroffen Berge und der Kasbek hinter ihr auf. Und dann wirkt sie gar nicht mehr wie der höchste Punkt, im Gegenteil. Die Dimensionen des Kaukasus lehren Demut.
Als wir oben ankommen, liegen die Wolken wie eine ätherisch zarte Tülldecke über den Mauern der Gergetier-Kirche. Wie ein Geist erscheint sie uns am Hügel, ein Geist, um welchen herum es aber mächtig lebendig und weltlich zugeht. Unzählige Kleintransporter parken der Reihe nach am Rande der Straße, und wir fügen uns nahtlos in eine freie Lücke ein. Verdient haben wir uns den Platz allemal, böse Blicke hin oder her. Denn schließlich haben wir es auf eigene Faust diese Mörderpiste hinauf geschafft, das macht stolz. Und noch etwas fällt uns auf: „Schaut mal, der Hauptweg ist von dieser Seite aus überhaupt nicht gesperrt.“ Wir zucken mit den Schultern und gehen weiter. Schließlich haben wir uns bereits so etwas gedacht. Und keiner von uns wagt sich zu Fuß den „gesperrten“ Weg hinunter, um nachzuschauen; es gibt Dinge, die sind der Sache nicht wert.
Ach ja, wusstet ihr, dass es hier zur Sowjetzeiten sogar eine Gondelbahn zur Gergetierkirche hinauf gegeben hatte? Weshalb sie abgeschafft wurde, darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht sollte die Kirche wieder mehr als Gotteshaus und weniger als Sehenswürdigkeit wahrgenommen werden. Falls das der Gedanke dahinter war, dann hätte der nur bedingt geklappt.
Unzählige Besucher tummeln sich nun in und um die kleine Kirche herum. Für alle gibt es strenge Bekleidungsregeln, die rigoros umgesetzt werden. Pflicht für Frauen ist das obligatorische Kopftuch. Das kenne ich ja schon. Zusätzlich ein langer Rock. Und wenn der eine oder andere von euch bereits die Hände über dem Kopf zusammenschlägt („wo soll ich sowas hernehmen?“), man kann sich beides (ob es etwas gekostet hat oder nicht, weiß ich nicht mehr…) vor der Kirche für die Zeit des Besuches ausleihen. Für Männer gilt das Verbot von Kopfbedeckung und dem Tragen kurzer Hosen. Da ich über nur ein Kopftuch verfüge (das zweite habe ich in weiser Voraussicht an Gosia verliehen) und verbotenerweise Hosen trage, überlege ich zweimal, ob mir die Aktion „Kirche von innen“ den Mehraufwand wert ist. Und ich komme zum Schluss: nein, das ist sie nicht. Vielleicht bin ich auch nur ignorant gegenüber der geschichtlichen Bedeutung der alten Gemäuer, was weiß denn ich. Doch der Kirchenraum sieht bereits vom Eingang aus sehr voll aus. Ich knipse ein obligatorisches Foto über die Köpfe der Menschen hinweg und bin weg. Den anderen, die ich vor der Kirche treffe, geht es ähnlich. Gesehen, abgehackt, weiter geht‘. Das wahre Georgien (oder was wir darunter verstehen) befindet sich nicht hier.
Na den Trip zur Kirche habt ihr euch ja im wahrsten Sinne des Wortes erarbeitet!
Oh ja, aber ganz ehrlich, der Weg dorthin war das Spannendste an der ganzen Sache… 😉 Es ist ein must see, die Lage ist toll, aber an und für sich ist das Ding schon ziemlich überlaufen gewesen. Und ich unterscheide mich da nicht von vielen anderen Menschen, ich möchte an einem Ort eben die „erste“ und vielleicht auch die „einzige“ sein… Wer stört, das sind halt die vielen anderen „ersten“ und „einzigen“. Tja…
Das ewig gleiche Dilemma 😅
Ich habe mal auf Google Earth die Kirche gesucht und bin fündig geworden. Mit dem Programm kann man die Landschaft in 3 D aufrufen und sieht wie bergig die Landschaft ist. Da hattest eurer Auto ganz schön zu schaffen.
Eine grandiose Landschaft (ich glaube jetzt habe ich mich wiederholt aber es ist nun mal so).
Liebe Grüße und einen schönen Sonntag
Harald
Ja, die Dimensionen spielen der Wahrnehmung dort manchmal einen Streich. Man meint, etwas ist ganz nahe, doch so ist es oft nicht…
Liebe Grüße
Kasia
Aha, na bitte, da hast du auch deine Vendetta. Ist ja bei mir uns beiden nochmal gut ausgegangen. Die Bilder sind schon schön, aber der Nebel. Ts ts ts.
Ich hätte dem Nebel mit dem mexikanischen Mathilda… Marlene… Ma… ah, halt mit dem Cocktail drohen sollen 😉
Even a visit to a church can be realy adventureous… but in this case you have to get there ! Thanks for showing us Kasia.
Georgia is a big advanture 😉