Asien, Georgien

Der Kazbegi-Canyon – Unter den Schwingen der kaukasischen Adler

Auf unserer Weiterfahrt entlang der Georgischen Heerstraße eröffnen sich uns unglaubliche Bilder. Die Landschaft hat hier einiges zu bieten, tiefe Täler und dramatisch aufragende Bergwände links und rechts von uns, sanft abfallende, grüne Hänge, mit diesem weichen Gras bewachsen, wie wir es schon von Omalo kennen. Dörfer sehen wie Spielzeug aus, das Panorama verschiebt sich vor unseren Augen, als hätte es ein Eigenleben. Hier schließt sich ein Tal, dort schiebt sich eine grüne Wand davor, hier öffnet sich wieder ein neues. Und wir bewegen uns vorwärts, hin zur georgisch-russischen Grenze. Nur – ganz so weit fahren wollen wir natürlich nicht.

Ganz anders die vielen Truckfahrer, die bereits hier, rund vierzig Kilometer vom Grenzübergang entfernt, in langen Schlangen auf ein Weiterkommen warten. Die PKWs passieren sie links vorbei, der Gegenverkehr weicht tolerant zur Seite – man kennt die Situation. Bis zu zwanzig Stunden und mehr Wartezeit sind drin für denjenigen, der unglücklicherweise auf die andere Seite muss. Kilometer um Kilometer überholen wir die Kolonne, abwechselnd nach vorne und zur Seite, auf das fantastische Panorama schielend. Immer mal wieder stupst mich mein Onkel an – ein mehr oder weniger subtiler Hinweis an mich, endlich mal wieder ein Foto mehr zu machen (als ob ich denn etwas anderes täte…). Ja, wir wollen es behalten, konservieren, in unseren elektronischen Kasten bannen. Diesen Landstrich, dieses Gefühl. Und wissen doch, wie sinnlos ein solches Unterfangen ist. Georgien lässt sich nicht speichern.

 

Die tiefen, grauen Gesteinsfurchen in der grünen Oberfläche – die Berge wirken, als hätte ein Riese einmal eine Gartenhake hindurch gezogen. Oder als hätte er sie gefaltet zu einer grünen, dehnbaren Ziehharmonika. Geisterhafte, hellgraue Wolkenfetzen umschmeicheln die Berggipfel, schleichen sich tief in die Täler. Dazwischen wandern verirrte Lichtflecke über das Gras. Und wir gehen auf Risiko. Nur die Natur selbst entscheidet, wieviel wir von dieser Schönheit zu sehen bekommen – oder auch nicht. Welche Ausmaße die Berge hier haben, wie gigantisch sie sind. Und wir, so klein auf unserer Fahrbahn. Ruhend erhebt sie sich über uns, Georgiens Bergwelt.

 

 

Die Fahrzeugkolonne löst sich mit einem Male auf. Wir vermuten, dass die Trucks bereits weit vor der Grenze in einem bestimmten System nach und nach angehalten und dann weiter gelassen werden. So ganz verstehen wir das System nicht, doch vielleicht soll es darum gehen, nicht zu viel Rückstau auf einmal (und ein zu langes Hindernis) für den Verkehr entstehen zu lassen. Für den Verkehr, der nicht an die Grenze will. Wie uns zum Beispiel. Bereits jetzt überholt mein Onkel zögerlich (aus Sicht der Georgier), oder auch todesmutig (aus seiner eigenen Sicht) die aufgestauten Laster. „Komm, Andrej, den schaffst du auch noch!“ Ermutigt ihn Tomek während eines weiteren Überholmanövers.

Irgendwann halten wir wieder an einem dieser Straßenstände, wo die besten Verkaufsschlager Georgiens angeboten werden: Honig und Tschurtschchela. Auf der Straßenseite gegenüber befindet sich eine flach abfallende, gelbliche Kalksinter-Wand, die sich wie geronnene Milch fast auf die Straße ergießt und aus irgend einem Grund sehr berühmt für diese Gegend sein soll. Etwas widerwillig stelle ich mich zum obligatorischen „ich-war-da“-Foto auf. Die schmutziggelbe Färbung reißt mich nicht aus den Schuhen (ich war schließlich in Pamukkale, Leute!).

„Ich war da“

Es handelt sich hierbei um Bidara Travertines, ein Naturdenkmal und Teil des Kazbegi-Naturschutzgebietes zusammen mit der Sakhizari-Klippe, dem Mineralsee von Abano , dem Jvari Pass und dem Keterisi Mineral Vaucluse. Wie ich später erfahren soll, hat die Gegend allein auf diesem Abschnitt touristisch jede Menge zu bieten; ein Jammer, dass uns ein längerer Aufenthalt nicht vergönnt ist. Dafür habe ich einen Grund, zurück zu kommen, denn obwohl ich Georgien gesehen habe, wächst in mir die Überzeugung, dass ich Georgien eben nicht gesehen habe. Nicht ganz. Es ist ein Ziel, welches noch so viel Verborgenes in sich trägt. Außerdem, allein schon des Essens wegen lohnt ein zweiter Besuch.

Während wir weitere, auf dem Standstreifen wartende Lkw-Kolonnen überholen, fängt es an zu regnen. Sachte tröpfelt der Nieselregen auf die schmutzige Frontscheibe. Ja, sie endet, Georgiens Reisesaison. Langsam aber sicher.

Noch immer ist allerhand los. Hier in der Region liegt der bei Wintersportlern beliebte Ferienort Gudauri. Lange Skilifte durchschneiden das Tal, die Gondeln stehen aktuell still. Vor zwei Jahren wurde es laut um Gudauri. Der Lift blieb aufgrund eines Stromausfalls stehen, fuhr dann plötzlich mit doppelter Geschwindigkeit weiter. Einige Menschen sprangen in Panik aus den Kabinen. Mindestens zehn Menschen wurden dabei verletzt. Wie sich später herausstellte, sei das Unglück auf menschliches Versagen zurückzuführen gewesen.

Grundsätzlich ist Gudauri eines dieser Orte, die ich für mich unter „zu schnell zu touristisch geworden“ verbuche. Größtenteils verschandeln grobe Wintersportquartiere die schöne Landschaft. Um das ursprüngliche Georgien zu finden, müssen wir weiter.

Während wir uns der Grenze nähern, wechselt wieder einmal die Szenerie. Das lieblich anmutende, helle Grün der Weiden weicht. Schroffe, graue Felsen schießen in die Höhe, und weiche, graue Wolken sitzen gemütlich auf ihnen wie Watte. Der Weg besteht mehr und mehr aus engen Kurven (mit einem Lkw möchte ich da nicht durchfahren müssen!) und links von uns öffnet sich schiefergrau die Kazbegi-Schlucht. Ein obligatorischer, dünner Wasserrinnsal schlängelt sich hindurch. Das ist wild, das ist rau, das ist genau, was wir gesucht haben. Über uns kreisen die riesigen, schwarzen Schatten der kaukasischen Adler. Über fünftausend Meter erstreckt sich Kasbek, Namebsgeber der Schlucht und drittgrößter Berg Georgiens, irgendwo über unseren Köpfen. Normalerweise. Doch heute fehlt von ihm jede Spur.

 

Kurz vor einem Tunnel erzählt uns Tomek begeistert von seiner letzten Motorrad-Tour durch die Region, die vor zehn Jahren stattfand: „Hier muss man aufpassen, denn manchmal, in heißen Sommertagen gehen Kühe hinunter in den Tunnel, um sich abzukühlen. Dann kann es passieren, dass mitten im Dunkeln einfach eine Kuh auf der Fahrbahn liegt.“ Doch zu dieser Jahreszeit ist es draußen kühl genug. Entsprechend vorsichtig fahren wir hinein, doch es ist keine Kuh in der Dunkelheit zu sehen.

Keine Kuh

Er erzählt uns auch, dass die Völker, die hier leben, ihre ganz eigenen Traditionen wahren. Wie die der Brautentführung. „Es war in der Vergangenheit Gang und Gäbe, dass wenn ein Mann auf Brautschau war, die potentielle Braut kurzerhand aus dem Nachbardorf verschleppt wurde. Das kommt heute noch vor.“ Es sei heutzutage jedoch mehr eine Art symbolische Traditionserhaltung als eine „echte“ Entführung, erklärt Tomek auf meine Nachfrage. Beruhigt traue ich mich dann auch wieder, aus dem Auto zu steigen.

Dann, endlich, halten wir an. Für einen Augenblick haben wir den Anblick für uns alleine. Die Kazbegi-Schlucht, tief und weit, eröffnet sich vor uns. Nacheinander klettern wir zum „Kreuz“, einem Denkmal, das malerisch in die Höhe ragt. Irgendwo an den steilen Hängen über uns rauscht ein rinnsaldünner Wasserfall. Es ist frisch und die Wolken kommen und gehen, doch der Anblick ist einmalig. Majestätisch kreisen die großen Adler schwarz über unseren Köpfen. Selbst von hier unten, aus der Entfernung, sehen sie mächtig aus mit ihren weiten, gespreizten Schwingen.

„So.“ Sagt mein Onkel fröhlich, nachdem uns Tomek mit seiner üblichen Thermoskanne Tee verköstigt hat. „Hier, an diesem Ort, müssen wir einen Chacha trinken. Auf Georgien!“ Ich passe und meine Leber atmet dankbar auf. Stattdessen klammere ich mich weiter an meinen warmen Becher Tee. Was dem Moment keinen Abbruch tut. Es hat sich geloht, hierher zu kommen.

 

Einen lesenswerten Beitrag rund um den Kasbek entdeckte ich bei bergwelten.com.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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13 Kommentare

  1. Wie gut, dass keine Kuh euren Weg kreuzte. In Indien wäre das wohl anders ausgegangen 😁. Eine richtig tolle Beschreibung hast du uns da heute (bzw. vor ein paar Tagen, ich bin ja mal wieder verspätet) wieder präsentiert. Ein wahrer Lesegenuss! Und die Fotos sprechen dazu für sich. Diese Reise wirst du wohl so schnell nicht vergessen.

    1. Und vermutlich wird es in diesem Jahr eine weitere Reise geben, eine Rundtour durch den Balkan. Ich bin gerade dabei, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um dabei zu sein 🙂

      1. Ah, sehr schön! Wieder mit der gleichen Truppe?

        1. Jawohl, die gleichen fünf verrückten Polen, es wird viel zu erzählen geben 🙂

          1. Never change a winning team 😎

  2. Wow, was für eine beeindruckende Landschaft. Und die Lkw sind der Hammer!

    1. Die lange Lkw-Schlange machte uns dankbar – dass wir nicht selber dort stehen müssen…

  3. Schade, dass deine Videos hier offensichtlich nicht funktionieren, aber dein Reisebericht liest sich wieder sehr interessant und die Bilder sind super!
    Liebe Grüße von Hanne

    1. Liebe Hanne,
      vielen Dank! Es macht auch unglaublich viel Spaß, diese Erinnerungen wieder hervorzuholen. Versuche mal, die Videos nicht über wordpress, sondern direkt über meine Seite zu öffnen.

  4. Das ist eine fantastische Landschaft. Nachdem es dort Strommasten gibt, sollte es dort wohl eine Siedlung oder ein Dorf. Krass der LKW Stau. Das nervt die Fahrer bestimmt ohne Ende.
    Danke fürs Mitnehmen.
    Wie lange wart ihr eigentlich auf der gesamten Reise unterwegs?
    Liebe Grüße Harald

    1. Auf der gesamten Reise, ich glaube, so zehn-elf Tage. Also viel zu wenig, um das Land bis in die Tiefe kennenzulernen. Eigentlich bräuchte man dafür mindestens drei Wochen. Aber das hole ich noch nach 😉

  5. Ich möchte nicht mit einem Lastwagen in diesen riesigen Staus enden … genauso wenig wie ich von Kühen in einem Tunnel überrascht werden würde … Georgien ist ein Land voller Überraschungen, aber mit einer wildromantischen Natur. Danke für die Fotos und die Videos Kasia.

    1. Die Geschichte mit den Kühen hat mich auch überrascht. Damit rechnet man einfach nicht. Ansonsten ist das Land so anders als man sich das im Vorfeld vielleicht vorstellt. Es übt eine Faszination aus, die schwer zu beschreiben ist.

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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