Mindestens drei Mal renne ich in die Wohnung zurück. Habe ich etwas vergessen? Sind die Rollos unten? Mein Pass, wo ist mein Pass… Der Ersatzregenschirm. Es soll in Polen regnen. Habe ich alles dabei?
Die Zeit vor der Abfahrt gestaltet sich stressig bis chaotisch. Glücklicherweise ist mein Liebster beruflich irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs so stehe ich mir mit dem Chaos nur selbst im Wege. Zu lange habe ich meine Familie nicht gesehen (danke, Corona!) und jetzt, da es endlich losgeht, muss alles bis auf den letzten Knopf stimmen.
Der Kofferraum ist voll. Voll mit Geschenken. Auf der Fahrt zurück wird er wohl ebenso voll sein; diesmal mit polnischen Geschenken für die deutsche Familie. Internationale Verbindungen sind schon was Tolles. Man kann die Menschen mit landesspezifischen Dingen beglücken und braucht dafür nur mal den Fuß über die Landesgrenze zu setzen. Unsere polnische Krakauer steht hoch im Kurs, ebenso wie der Zubröwka-Wodka. Dass Polen nicht nur aus Krakauer und Wodka besteht – geschenkt. Schließlich ist Deutschland ja auch nur Schloss Neuschwanstein und Oktoberfest *Klischee-Keule aus*.
Dann sitze ich im Auto, das Navi ist eingestellt und ab da tut sich nicht mehr viel. Ich fahre. Etwa elfhundertfünfzig Kilometer warten ab jetzt auf mich.
Das Auto ist frisch gewaschen und ausgesaugt, in den Lüftungsschlitzen steckt ein Duftstecker vom Marktkauf. So ein Ding hatte ich noch nie in meinem Fahrzeug, aber wie gesagt, es muss alles stimmen – und vor lauter Vorfreude neige ich zu einer leichten Übertreibung. Zum Beispiel fahre ich original Schwarzwälder Zwetschgengeist in die Heimat spazieren. Gut, Alkohol nach Polen fahren ist ein wenig wie die berühmten Eulen nach Athen zu tragen, aber ich bin sicher, dass auch diese „Eulen“ ihre willigen Abnehmer finden. Pah, ich könnte glatt meinen Eulenkopf darauf verwetten.
Mannheim Richtung Frankfurt. Ich fahre.
Frankfurt Richtung Bad Homburg. Ich telefoniere mit meiner Mutter. Ich fahre.
Weiter in Richtung Erfurt. Der Himmel ergießt sich auf die Erde.
Die Rapsfelder blühen. Die Sonne bestrahlt sie mit ihrem Halogenlicht. Irgendwann taucht die ehemalige Grenze auf, heute nur noch auf Gedenkschildern zu erkennen.
Ich fahre.
Weimar, UNESCO-Weltkulturerbe. Ich stehe im Stau.
Auf der Karte tauchen Krakau und München auf. Nebeneinander. Nein, ich habe keinen Sekundenschlaf.
Gera Richtung Dresden. Ich fahre. Der Himmel ergießt sich auf die Erde. Die Rapsfelder leuchten… nicht mehr so sehr.
Ich passiere ein Tor aus Regenbogen. Es wirkt, als würde der Regenbogen den Asphalt berühren. Ah, Moment; das tut er ja. Die Autokolonne befindet sich mittendrin.
Zur Abwechselung regnet es. Ich… ähm, ja. Ich fahre. Der Regenbogen begleitet mich über eine lange Zeit.
Auf der Zielgeraden in das polnische Zgorzelec werde ich zunehmend nervös. Ich habe von Grenzkontrollen gelesen – und dann wiederum den einheitlichen Berichten meiner Landsleute entnommen, dass so etwas wie Kontrollen nicht stattfindet. Laut Auskunft auf der Webseite der Botschaft ist die Einreise mit einem Negativtest oder einer vollständigen Impfung möglich. Einen entsprechenden Nachweis führe ich mit mir. Und dennoch. Ich bin nervös.
Wird es Kontrollen geben? Was wird passieren? Welche Fragen werden gestellt? Was, wenn es an meiner Bescheinigung etwas auszusetzen gibt?
Nachdem ich die letzten größeren und kleineren Orte hinter mir lasse, sehe ich nur noch polnische Kennzeichen um mich herum. Was zu einem anderen Zeitpunkt ein wohliges Heimatgefühl ausgelöst hätte, trägt jetzt nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Ich, die einzige „Deutsche“ hier, bin der sprichwörtliche Präsentierteller. Der „kleine Grenzverkehr“ ist zwar seit neuestem frei, doch „kleiner Grenzverkehr“? Am späten Abend?
Die Grenzschilder tauchen im Sichtfeld auf. Freie Fahrt für freie Bürger? Hm, das werden wir ja sehen. Links und rechts der Fahrbahn befinden sich Kontrollschleusen. Ich ordne mich rechts bei den PKW ein. Brav verlangsame ich mein Tempo und spähe fragend zu den fünf Männern in Uniformen, Warnwesten und der Verkehrskeule herüber. Die schauen zurück, grinsen vor sich hin und tun… nichts. Unbehelligt fahre ich weiter. Aus Tempo fünfzig wird Tempo achtzig, dann hundertzwanzig. Bin ich jetzt drin oder was?
Inzwischen ist es dunkel. Hier auf den Straßen herrscht Anarchie. Hundertzwanzig sind auf Schnellstraßen erlaubt. Eine Autokolonne – ich mittendrin – überholt den LKW mit hundertfünfzig. Ein Fahrzeug nach dem anderen schert wieder ein. Mit hundertfünfzig. Und hinter mir drückt jemand auf die Tube, um mit hundertsiebzig an uns vorbei zu ziehen.
Deshalb, ganz nebenbei, ein kleiner Tipp von mir. Wenn ihr in Polen auf der linken Spur seid und im Rückspiegel Lichter auftauchen sieht, die zügig näher kommen, lasst ihn lieber vorbei.
Eine Straßenpatrouille taucht auf. Langsam fahrend und mit Signalbeleuchtung, damit sie ja auch jeder sieht. Hundertzwanzig sind erlaubt. Alle überholen sie mit hundert. Die Anarchie kennt ihre Grenzen.
Schließlich, gegen zweiundzwanzig Uhr, vereinsamt die Straße komplett. Nur noch LKW sind unterwegs. Aber auch die werden immer weniger. Ich fahre kilometerweit in der Dunkelheit alleine vor mich hin. In einem Moment glaube ich schon, mein Seitenspiegel sei blind geworden, denn ich sehe nichts als Schwärze.
Die letzten fünfzig Kilometer ergreift mich Müdigkeit. Doch mein Onkel ist wach und wartet auf mich, also werde ich mich kurz vor dem Ziel nicht im Auto schlafen legen. Ich drehe die Musik auf, bis mir die Ohren wegfliegen, und singe lauthals mit. Dieses Bild. Dunkle Straßen, eine einsame Fahrerin, die hinter der Glasscheibe grölt: „HERE WE GO! OLE OLE OLE! GO GO GO! ALE ALE ALE!“
Fünfzehn Minuten später. Die Tore der Einfahrt sind weit geöffnet. Ich rolle das Auto langsam in den Hof. Stelle den Motor ab. Atme auf.
Mit zitternden Muskeln beginne ich, meine Sachen aus dem Kofferraum zu räumen.
😄 HERE WE GO 🎵 🎶🎵 🎶🎵 🎶 die letzte Rettung
🎵 🎶
Ich wünsch dir eine schöne Zeit
Liebe Grüße
Sabine vom 🕷 🕸
Liebe Sabine, ja, das war es echt 🙂 Ich danke dir 😉
Wismar? Du hast bestimmt Weimar gemeint. Stichwort: Duftstecker hast du einen im Wohnzimmer versteckt? 😀
Ja ich habe Weimar gemeint. Ich habe ja schon versucht, Polen auf einer Strecke von zehntausend Kilometern zu erreichen *hüstel*, passiert, wenn man übermüdet ist… dann sieht man plötzlich Wismar und russische Städte 😉
Der ist nicht versteckt, der steht auf der Kommode…
Klasse, dass du gut an- und durchgekommen bist. Dir eine schöne Zeit mit der Familie! Und nein: ich bin nicht sonderlich überrascht, dass du es nicht lange ausgehalten hast, Blog-Abstinenz zu betreiben 😎.
Liebe Elke, das IST eine Blogabstinenz. Ja wirklich. Ich schaue nur noch einmal am Tag rein… nicht fünf Mal wie sonst immer 😉
Diese kleinen Orte, die sich mit Namen von Weltstädten schmücken, das bringt mich auf die Idee einer etwas anderen „Weltreise“…
Ich habe gesehen, in Polen, Tschechien und Deutschland gibt es sogar jeweils ein „Babylon“.
Nein, ehrlich? Das ist mir noch nicht untergekommen. Dafür habe ich bereits irgendwo hoch im Norden ein „Rom“ entdeckt. Müsste ich nur noch fotografieren…
Meistens sind das die langweiligsten Orte, die sich frech mit so großen Namen schmücken.
Hier im Landkreis Amberg-Sulzbach gibt es auch ein Dorf namens „München“. Da gibt es gar nichts. Wirklich gar nichts.
Ach, nicht so streng sein. Die Ortsschilder finde ich durchaus interessant. Die haben schon einen gewissen Sammelfaktor 🙂 Gut, außer dem „coolen“ Ortsschild gibt es da nicht viel. Ookay. Aber das Ortsschild, ach, das Ortsschild… 😉
Bist du eine von denen, die immer die Ortsschilder abmontieren? :O
Lach, nein… ich fotografiere sie nur. Meistens stelle ich mich dafür schnell mal ins absolute Halteverbot und kann Gift drauf nehmen, dass gerade in diesem Moment die Polizei vorbei fährt. Die sieht dann eine Frau, die nicht parken kann und wie ein Storch durch die Vegetation stakst, um das Schild aus der Nähe drauf zu bekommen. So eine bin ich 😉
Schön, dass Du gut angekommen bist! Auf Deine Geschichten bin ich jetzt schon gespannt…
Lieber Tom, vielen Dank! Ich werde berichten (sobald das Familienleben es zulässt…)
Liebe Grüße
Du nimmst auf Reisen nach Hause einen Ersatzregenschirm mit? Da muss ich lachen! Ich wünsche dir viel Sonne und wunderbare Erlebnisse!
Alles Liebe,
Feli
Liebe Feli,
ja, ich habe Dinge oft doppelt und dreifach dabei. Hm… Habe ich die Regenjacke erwähnt, die ich trotz der beiden Regenschirme mit eingepackt habe? 🙂
Liebe Grüße
Kasia
Anstrengend, aber gut durchgekommen…und wo ist der Topf mit dem Schatz? Gefunden?
Wahrscheinlich war der am anderen Ende des Regenbogen…wie immer…
Viel Spass bei der Familie
Lach… Das Ende des Regenbogens hatte ich diesmal wirklich direkt vor der Nase, nur war das Anhalten und graben auf der Autobahn schwierig 😉 Beim nächsten Mal.
Dankeschön, wir genießen die Zeit zusammen.
Liebe Grüße
Kasia
Hahaha – oh man – du schaffst mir ein Kopfkino…ich sehe dich gerade mit einer Spitzhacke den Asphalt aufklopfen…
Viel Spass
Lach… während um mich herum alle hupen und der Stau immer länger wird…😂👍
So genial…. wie war das? Stau ist nur hinten doof, vorne geht´s 😊😊
Ja, genau so 😉
Ich wünsche dir eine schöne Zeit mit deiner Familie.
Ich danke dir! 🙂
Prima, dass du gesund und munter angekommen bist. Über 1.000 Kilometer ist schon eine enorme Strecke. Viel Spass zu Hause.
Liebe Grüße
Harald
Lieber Harald, vielen Dank! Momentan genieße ich das schöne Landleben und verbringe viel Zeit mit der Familie. Diese gemeinsame Zeit wird eh viel zu schnell vorbei sein…
Liebe Grüße
Kasia
Das war eine ziemliche Entfernung! (Irgendwo in Ihrem Text steht elftausend statt elfhundert). Freut mich zu lesen, dass Sie sicher angekommen sind. Genießen Sie Ihren Aufenthalt und das Wiedersehen mit Ihrer Familie.
Vielen Dank! Ja, die Strecke war anstrengend, besonders zum Schluss. Die Kilometerangabe habe ich korrigiert 🙂 Jetzt genieße ich die Zeit mit der Familie…
Du hast es geschafft, freue mich für dich. Dir eine schöne Zeit.
Liebe Grüße, Roland
Ja, endlich da. Vielen Dank 😉