Cavallino, Italien
Früh am Morgen am Campingplatz. Ich dachte mir ja: ausschlafen, das wäre es jetzt. Doch während der Reise ist es irgendwie anders als im alltäglichen Leben. Man hat nicht so viele Dinge, die einen ablenken, keine abendlichen Routinen und somit nix zu tun. Dazu kommt die Müdigkeit, geformt durch viele Stunden und noch mehr gefahrene Kilometer. Der Regen prasselt auf das Dach des Wohnmobiles.
„Eigentlich ganz romantisch.“ Sagt Stefan. „Das Gewitter draußen und wir hier drin. Das ist so, als würde der Regen gegen eine Rama-Dose prallen.“ Hm, romantisch hört sich der Vergleich für mein Ohr nicht gerade an. Doch ich weiß, was er meint. Gewitter, Blitze, Regenschauer und kräftige Donner. Alles hörbar, auch mit Ohrstöpseln. Seltsamerweise schlafe ich damit umso besser ein.
Am nächsten Morgen prasselt es nur noch vereinzelt gegen das Dach. Ich öffne die Augen, nachdem mein Körper beschlossen hatte, dass er jetzt wach ist. Es muss so gegen fünf sein; ich spüre es in den Knochen. Tatsächlich zeigt die Uhr halb sechs. Und ich fühle mich ausgeschlafen wie selten in meinem Leben.
Leise suche ich bei behelfsmäßigem Licht meine Duschsachen zusammen und stehle mich aus dem Wohnwagen.
Später gehen wir zusammen am Strand von Cavallino spazieren. Spazieren wäre zu viel gesagt: ich spaziere. Stefan hockt mit halb geschlossenen Augen auf den Steinen der Mole und pafft ein Zigarettchen. Der nasse Sand bleibt hartnäckig an meinen Füßen hängen. Ich sammle Muscheln, wie immer, wenn ich am Meer bin. Wie ein Huhn picke ich ständig welche auf, obwohl ich mir zuvor vornehme, die Dinger liegen zu lassen.
„Ich habe das so vermisst.“ Sagt Stefan. Ich habe bereits eine große Runde über den Strand gedreht und stehe nun neben ihm. „Das Rauschen des Meeres, das Wasser, die salzige Luft. Mindestens einmal im Jahr will ich das haben.“
Hand in Hand laufen wir gemütlich vom Strand.
Doch noch vor dem harmonischen Spaziergang verkrachen wir uns kurz wegen der Markise. Und den Campingstühlen. Und weil es so früh ist und wir uns beide um die Zeit noch doof finden. Nachdem wir uns also unseren Hass und Tötungsabsichten bekundet haben, wird harmonisch, Hand in Hand, zum Strand geschlendert. Niemand ist mehr sauer. Mal sehen, vielleicht werfe ich ihn ja doch noch ins Wasser.
Das Selbstverständnis der Deutschen
Einkaufen. Im Supermarkt nahe des Campingplatzes. Die haben dort alles, sowohl den italienischen Lebensmittelzauber (ihr wisst schon, all die leckeren Wurst- und Schinkenspezialitäten, Shiraz, Chianti und diese geilen Olivenbrötchen…) als auch simples Nutella, ganz auf den Bedarf des deutschen Campers eingestellt. Jeder Verkäufer und Mitarbeiter spricht selbstverständlich deutsch und dies wird von den Campierenden selbstverständlich als selbstverständlich vorausgesetzt Schrägstrich zur Kenntnis genommen. Selbstverständlich.
Mir ist das alles etwas peinlich.
Doch seien wir mal ehrlich, der gesamte Campingplatz besteht nur aus Deutschen. „Moin!“ Schallt es einem in den Morgenstunden von überall entgegen. Selbstverständlich geht jeder davon aus, dass man sein „moin“ versteht.
Selbstverständlich.
So, jetzt zum wesentlichem Punkt: das Frühstück beim Meeresrauschen. Jep, gibt nichts Schöneres. Selbst jetzt, wo ich diese Zeilen tippe, rauschen die Wellen in nicht so großer Entfernung mächtig und stetig vor sich hin. Bei diesem Sound vor unserem Zuhause auf Zeit zu sitzen, uns die leckeren italienischen Brötchen reinziehen, belegt mit leckerem italienischen Schinken und dazu einen sagenhaft guten Kaffee aus der Dom. Rep., ja, das macht das Leben lebenswert.
Ihr merkt, wir stehen auf gutes Essen.
Sport ist Mord
Und ich stelle fest, dass es nicht so einfach ist, meinen Liebsten für Aktivitäten zu motivieren.
Heute morgen zum Beispiel.
Schatz, gehen wir am Strand spazieren?
Schatz möchte erstmal Kaffee trinken. In aller Ruhe. Dann gehen wir los. Liebster schlürft durch den Sand, hängt kurz den linken Fuß ins Wasser, dann den rechten. Einmal nicht aufgepasst, schon ist er nicht mehr neben mir; er ist zur Mole gewandert und sitzt nun da, mit Händen und Füßen fest ins Gestein gekrallt wie eine Muschel, die im Begriff ist, anzuwachsen. Seine gesamte Körperhaltung sagt aus: hier möchte ich nicht mehr weg. Also schlürfe ich alleine los.
Mittags versuche ich, uns zum Schwimmen zu bewegen. Das Frühstück war lecker und reichhaltig, doch gleich nebenan gibt es ein halb überdachtes Schwimmbad, das zum Campingplatz gehört. Können wir kostenlos nutzen. Schatz, wollen wir?
Schatz hat sich indessen in den Campingwagen verzogen und macht ein Nickerchen. Nach dem Nickerchen packen wir unsere Taschen zusammen und gehen an den Strand. Nicht zum Schwimmen und auch nicht zum Spazieren. Liebster geht kurz ins Wasser, macht sich nass und ab da dösen wir auf den mitgebrachten Liegestühlen und strecken die blassen Kadaver der Sonne entgegen.
Es ist ein entspanntes Leben hier am Strand von Cavallino Treporti und jegliche Versuche, hier Action reinzubringen, sind von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Das Meer rauscht sanft und sachte. Am Mittag kommt sogar größtenteils die Sonne raus. Wir liegen da und genießen Corona (das Bier, Leute!), eisgekühlt. Corona, irgendwie das Motto der diesjährigen Urlaubsplanung.
Kadaverschau am Strand
Noch mehr Menschen zieht es an den Strand, trotz, meiner Meinung nach, bescheidender Temperaturen. Nein, ich werde nicht ins Meer eintauchen und so tun, als hätten wir Hochsommer. Es ist frisch. Und jeder, der seinen nackten Körper in die Sonne hängt, belügt sich selber. Ich krame meine Strickjacke aus der Tasche.
Strandverkäufer tauchen auf. Die hatte ich ganz vergessen. Es gibt sie noch und die diesjährige Saison muss katastrophal für sie gewesen sein. Trotzdem kaufe ich kein Handtuch. Ich brauche kein Handtuch. Ich kaufe nichts, das ich nicht brauche, um Systeme zu unterstützen, die sonst eventuell zum Scheitern verurteilt wären. Und ich brauche kein Handtuch.
Habe ich bereits erwähnt, dass ich kein Handtuch brauche?
Drachen fliegen am Himmel in langen Bannern umher. Das ist das Werk der Drachenverkäufer. „Möchtest du einen Drachen kaufen, mein Schatz?“ Frage ich meinen Liebsten. Der blickt schläfrig auf, blinzelt und sagt: „Nein, wozu? Ich brauche nur eine Schnur.“ Ich kapiere zunächst nicht. Dann drohe ich, ihn im Meer zu ersaufen. Er lacht gehässig.
Am Abend möchte ich das Corona abarbeiten. Das Bier, Leute, immer noch. Ein letzter Motivationsversuch, doch auch jetzt geht mein Liebster nicht mit mir am Strand spazieren. Also ziehe ich los. Füße im Sand. Füße, vom Wasser umspült. Schock bei der ersten kalten Welle. Steinchen und kleine Körner, die unter den Fußsohlen weggezogen werden, wenn das Wasser weicht. Dann gehe ich los, an Menschen vorbei, mit dem Rücken zur Sonne. Immer weiter am Strand entlang.
Irgendwoher kommt laute Musik. Vor einem Lokal scheint es, als wollten ein paar Leute Gäste animieren, die nicht da sind. Ich bleibe an der Mole hängen, springe barfuß von Stein zu Stein. Meine Flipflops habe ich mir ans Handgelenk gehängt, genau neben der Mundschutzmaske, ohne die nichts mehr geht. Dann setze ich mich auf einem der Steine, mit dem Gesicht zur Sonne. Tiefenentspannt. Dieser eine, entspannte Augenblick. Smartphone platzieren. Selbstauslöser einstellen. Eine entspannte Kasia einfangen.
Als ich wieder am Campingplatz auftauche, verlässt ein schuldbewusst aussehender Stefan gerade das Wohnmobil. „Ich war unten am Strand. Bin eben erst gekommen.“ Sagt er, doch so ganz glaube ich ihm nicht.
Monduntergang
Tieforange versinkt der Mond in der See. Der seidige Glanz benetzt das Wasser. Das Meer ist tiefschwarz, nur die schneeweißen Schaumkämme der Wellen leuchten regelrecht im matten Licht. Von irgendwoher kommt Musik.
Vielleicht war es ein Fehler, den Liter italienischen Weines zum Abendessen zu bestellen. Wir zwitschern den Liter fröhlich weg und diskutieren dabei angeregt das politische Geschehen im Nahen Osten. Der sonst eher stille Stefan wird immer mitteilsamer – eine erquickende Erfahrung. Ich beschließe, ihn öfters mal abzufüllen.
Das Essen schmeckt grandios. Die Italiener, die können’s einfach. Die können einfach kochen. Das Eis schieben wir uns hinterher noch rein. Sagenhaft gut. Ich muss weg, ich muss ans Meer. Spazieren, die Kalorien abarbeiten. Es zieht noch ein paar andere nachts im Dunkeln an den Strand.
Ich könnt hier ewig sitzen und den Mann im Mond bewundern. Er sieht aus wie eine halbierte, blutorangene Kugel, wie er so über dem Wasser hängt. Und das Meer rauscht, laut, tosend, stetig.
Als ich die Mole verlasse, wird das Rauschen leiser. Weniger machtvoll. Weniger intensiv in meinem Ohr. Das Geräusch ist nun wie eine zappelnde Libelle. Stetig, immerzu da, aber leiser. Zieht mich nicht mehr so in seine Bahn.
Später, nochmal am Strand. Diesmal mit Stefan. Der Mond ist nun blutrot, hängt tief über dem schwarzen Horizont. Dann verschwindet der halbe Riegel hinter einer Wolke, ganz so, als würde er sich in die Federn legen. Vielleicht sollten wir das auch tun.