Wir wollen eigentlich nach Venedig…
Eine einsame Möwe steht am Strand. Abwartend beäugt sie mich, während ich vorbei stampfe. Der gesamte Strandbereich ist nass vom nächtlichen Tau und Hunde springen fröhlich umher. Ich überquere den Dog Beach.
Reihenweise verwaiste Liegen, zusammengeklappte Sonnenschirme. Die Saison muss jämmerlich ausgesehen haben. Nun ist sie – fast – vorbei, bis auf die wenigen Nachzügler wie uns.
Der Liter Wein gestern Abend könnte ein Fehler gewesen sein. Wir wollen eigentlich nach Venedig. Eigentlich.
Stefan guckt mich am Morgen aus verquollenen Augen an. Wir schnappen uns die dampfenden Kaffeebecher und gehen zum Strand, wo der Nebel die Weite überzieht wie weißer Schatten. „Es ist schön.“ Sagt Stefan. „Man erkennt nicht, wo die See anfängt und der Himmel aufhört.“
Daraufhin beginne ich, mir Venedig in Winter vorzustellen. Die alten Häuser, in Nebelschwaden eingewoben. Doch mein Liebster ist noch auf dem Ausnüchterungstrip. „Ich schwanke noch so.“ Sagt er. Ich blicke verständnislos aus der Wäsche. Es ist ja nicht so, als hätte er den Liter Wein gestern alleine ausgetrunken…
Spazieren am Strand. Ich starte einen letzten Versuch, Stefan zu animieren, ehe ich mich alleine auf den Weg mache. Mein Schatz hat sich mit beiden Händen an den Holzbalken gekrallt, an dem wir gerade lehnen, und seine Körpersprache sagt mir: nix da. Geh alleine.
Hosenbeine hochkrempeln, Flip-Flops in die Hand. Zum ersten Mal nehme ich bewusst den salzigen Geruch des Meeres wahr. Meine Füße suchen sich einen Platz dort, wo die Wellen aufhören und der Strand beginnt. Kräftig wirkt heute die See, aufgebracht. Grau, doch es ist ein Grau, das ins Türkisene geht. Das Wasser spült allerlei Dinge vor meine Füße: Muscheln, tote Quallen, eine ertrunkene Bisamratte, die alle Vierer von sich gestreckt hat und den Toten mimt. Ach, warte, die ist ja tot. Zwei Strandaufseher kümmern sich bereits um das „Problem“. Als ich den Weg wieder zurück gehe, ist der Nager nicht mehr da.
Ich will zum Leuchtturm, der in der nebligen Ferne zu sehen ist. Er erscheint mir nicht besonders weit weg. Doch ein Blick auf die Elektronik sagt mir, dass es bis dahin noch sieben Kilometer sind. Meine Güte, ich wollte ja nur einen Spaziergang machen.
Stattdessen stehe ich da und schaue aufs Meer. Ich könnte hier ewig stehen und zusehen, wie sich die Wellen formen. Langsam, in Zeitlupentempo. Wie erst dieser Schatten entsteht, der immer höher wird, aus dem Schatten entspringt eine Wasserwand, schließlich kommt die Krone und da, der Moment, wo sich die Welle bricht. Untermalt vom Licht, transparent, ätherisch, türkisblau. Mit einer schneeweißen Schaumkrone garniert.
Meine Füße versinken in puderweichem Sand.
Ich weiß noch, wie ich das erste Mal vor dem Meer stand. Es war überwältigend. Wie etwas Lebendiges, mit einem eigenem Bewusstsein. Stets in Bewegung. Niemals still.
Pünktlich zum Frühstück bin ich zurück.
Wir wollen eigentlich Fahrrad fahren…
Das Wetter hat sich geändert und die Sonne kommt raus. Nachdem der örtliche Fahrradverleih über Mittag Siesta macht und das campingeigene Schwimmbad ebenfalls, machen wir uns auch heute wieder auf den Weg zum Strand. Wir wollten heute nach Venedig fahren, doch da mein Liebster noch am gestrigen Weingelage zu schaffen hat, wird es der zweite faule Tag in Folge. Ich merke, wie mich langsam die Rastlosigkeit packt. Dieses mal versenke auch ich meinen Kadaver in den Seefluten und schwimme ein paar Runden. Erfrischend. Kalt. Immer weiter schwimmen, damit man nicht erfriert. Ist halt nicht mehr Hochsommer…
Dann sitze ich neben Stefan am Strand und versuche, zu lesen.
Doch so recht will das nicht klappen und mit völligen Unverständnis betrachte ich die Menschen um mich herum. Den ganzen Tag, den Robben ähnlich, am Wasser zu liegen und nichts zu tun – nein, das ist nichts für mich. Ich kann diesem Verständnis von Erholung nichts abgewinnen, wenn man bedenkt, wie viele Menschen auch schon in ihrem Alltag an Bewegungsmangel leiden. Und ich habe den Drang, mich zu bewegen. Jedes Kind kommt mit diesem natürlichen Bedürfnis auf die Welt, doch im Laufe der Jahre wird es einem konsequent abgewöhnt (kannst du nicht mal still sitzen?). Nein, der Mensch ist fürs still sitzen nicht geschaffen, nicht bei dem Nahrungsüberangebot der heutigen Zeit.
Ich überlasse Stefan seiner Liege und packe wieder zusammen. Ich will kurz einkaufen gehen, uns ein paar Tomaten holen und vielleicht noch Corona.
Ähm, das Bier.
Ich will eigentlich einkaufen gehen…
Doch vor dem Campingwagen werde ich abgefangen. Ein älteres Ehepaar aus Berlin hatte sich neben uns einquartiert und die Dame hat Redebedarf. Mit einer harmlosen Frage (wie lange bleiben Sie noch?) wirft sie ihre Angel aus und wehe dem, der höflich stehen bleibt, um darauf zu antworten. Dann beginnt die lebhafte Seniorin zu erzählen. Und einmal an der Angel, stehe ich nun da und höre ihr zu und die Sonne sinkt immer tiefer hinter die Bäume. Als Stefan einige Zeit später vom Strand kommt, war ich noch immer nicht einkaufen gewesen.
Doch eines, das die Dame sagt, bleibt mir besonders hängen. „Wir haben mit dem Reisen zu lange gewartet.“ Sagt sie. „Es ist nicht das Gleiche, wenn man im Alter verreist. Egal, wie gesund der alte Mensch ist, irgendwelche Wehwehchen plagen einen immer.“ Das Paar kommt aus dem Osten von Berlin. „Wissen Sie, für uns kam die Wende zu spät. Ich habe mein ganzes Leben nur für die Arbeit gelebt. Jetzt bin achtzig, mein Mann noch etwas drüber.“
„Und Sie holen jetzt alles auf, was Sie damals verpasst haben?“ Frage ich.
„Aufholen? Nein!“ Sie lacht. „Das lässt sich alles nie wieder aufholen.“
Ich will eigentlich nur spazieren…
Abends ziehen wir uns wieder ein üppiges Abendessen rein. Danach geht Kasia spazieren. Das Abendessen abtrainieren. Immer weiter den Strand entlang stampfe ich durch weichen Sand. Es ist stockfinster und der romantische Mondschein von gestern ist heute nicht mehr zu sehen. Egal, ich habe Lust, mich zu bewegen. Außer mir sind nur ganz wenige Gestalten unterwegs; ein Paar kommt mir entgegen, ansonsten bin ich gefühlt über Stunden alleine. Da sind Lichter in der Ferne, mein Schatten bewegt sich als scharfer Umriss am welligen Sand entlang. Laut tost das Meer. Ich schleiche an Reihen zusammengeklappter Schirme vorbei. Ich gehe wie ferngesteuert vorwärts, schaue lange Zeit nicht nach links, nicht nach rechts, hypnotisiert von den Lichtern da vorne. Ich weiß, dass ich mich in Richtung Festlandsvenedig bewege.
Zwischendurch will ich meine Position checken. Hole das Smartphone aus der Tasche, doch im letzten Moment ruft es alarmierend in meinen Kopf hinein: Nein… mach’s nicht! Ich lasse das fahle Licht aus und in der nächsten Sekunde sehe ich zwei Gestalten in die entgegengesetzte Richtung an mir vorbei huschen. Es ist so finster, dass ich kaum die Hand vor Augen sehen kann. Doch die Urinstinkte funktionieren, egal wie lange schon der Mensch als „zivilisiert“ gelten will.
Ich laufe lange. Sehr lange. Der Wein von heute Abend arbeitet noch in meinem Kopf. Doch irgendwann verflüchtigt sich der Schleier. Die „Lichter von Venedig“ entpuppen sich als ein paar Häuser entlang einer beleuchteten Straße. Ein Tor, ein paar Sonnenschirme, die im Nachtwind flattern. Je näher ich komme, umso bedrohlicher erscheint mir das helle Szenario. Ein paar Tische und Stühle stehen verlassen da. Ich bleibe im Halbdunkel stehen. Es fühlt sich seltsam an, nach der einsamen, durchgewanderten Zeit in einen hell erleuchteten Ort zu kommen. Ich muss mich wieder anpassen, normal wirken. Nicht wie die Irre, die wie besessen die halbe Nacht am Strand entlang geht, um dann wie Casper, der Geist, der Nacht zu entsteigen. Im Augenblick fühle ich mich den Monstern näher als den Menschen.
Der obligatorische Blick aufs Smartphone. Ein Positionscheck. Tja, es sollte nur ein kurzer Strandspaziergang werden. Stattdessen bin ich ganze fünf Kilometer weit gelaufen.
Meine Damen und Herren, jetzt ist es amtlich, ich habe gewaltig ein Rad ab.
Blöd nur, dass ich die gleiche Strecke auch wieder zurück zum Wohnmobil gehen muss. Also seufze ich kurz, nun vollkommen nüchtern, und tauche wieder in den wohlbekannten Schatten ein.
Und, ach, die schwarze Nacht weiß nun, dass ich ihr ausgeliefert bin. Sie schickt mir kräftige Regenschauer, die immer stärker von der Seite auf mich einprasseln. Weder Schirm noch Regenjacke habe ich dabei – es sollte ja nur ein kurzer Spaziergang werden. Was habe ich mir nur dabei gedacht. Stefan wird sich sicher schon fragen, wo ich bleibe. Es ist kurz vor elf. Er wird mich nicht über Whats App anschreiben. Nein, der Typ dazu ist er nicht. Er wird mich nicht fragen: wo bleibst du so lange? Oder etwas so einengendes sagen wie: ich mache mir Sorgen, komm zurück. Nein.
Aber wenn ich schließlich, rotgesichtig, zersaust und nass, wieder im Wohnmobil auftauche und verlegen grinse, wird er nicht schlafen gegangen sein. Er wird wach sein, warten und lesen. Dann wird er aufschauen, sein Kindle zur Seite legen, grinsen und so etwas sagen wie:
„Na? Hat es geregnet?“
[…] im Alltag, jeden Tag. Wenn Stefan lesend auf mich wartet, während ich spätabends bis in die Nacht kilometerweit am Strand von Jesolo spazieren gehe. Wenn er sich früh morgens auf Zehenspitzen bewegt, weil er weiß, dass mich jegliche […]