Riegel am Kaiserstuhl, Deutschland
Die Vögel draußen machen Terz. Eine ganze Schar rundherum zwitschert aufgeregt durcheinander, als ob es kein Morgen gäbe, an dem sie das Gleiche tun könnten. Doch ich war heute wach, ehe auch nur einer davon den Schnabel aufgemacht hatte.
Stefan hockt draußen vor der Tür, einen Kaffeebecher in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Und das Schwarz der Nacht verwandelt sich in dunkles, dann in helles Blau. Bis wir schließlich die Innenbeleuchtung ausschalten.
Ach, was war das aufregend gestern. Ein eigenes Wohnmobil. Nicht ganz, denn das große, schwankende Ding ist für zwei Wochen gemietet. Für zwei Wochen Italien, jetzt Mitte September, und hoffentlich bleiben wir von der zweiten Corona-Welle verschont, die die Urlauber als fröhliche, egoistische Sommerferien-Nutznießer um sich verbreitet haben.
Das Wohnmobil. Schon seit Wochen ist Stefan am googeln, was man dafür alles braucht. Wäscheleine, Bettwäsche, Handtücher… lieber doch einen Schlafsack, wegen der Zuladung. Willst du zwei Wochen lang im Schlafsack schlafen, bist du irre? Frage ich ihn. Aber die Zuladung! Er erzählt mir Horrorgeschichten von einem Paar, das ebenfalls in Italien eine hohe Geldbuße zahlen musste, zulässige Zuladung überschritten. „Und die hatten nicht mehr dabei als wir.“ Panik.
Einpacken. Alles Mögliche. Aber nicht zu viel. Was kann man brauchen? Was kann man brauchen, an was man jetzt nicht denkt? Die Taschen werden immer voller. Panik.
Dann holen wir das Baby ab. Eine ausführliche, schroffe Einweisung inklusive. Wir nicken und machen kluge Gesichter. Die Hälfte davon ist nach zehn Minuten vergessen. Nur eines nicht: die Warntafel, die wir für den Fahrradträger hinten anbringen müssen. Und dazu brauchen wir Kabelbinder. KABELBINDER! Wo kriegen wir um die Zeit noch welche her? Der Baumarkt am Rhein Neckar Center hat geschlossen. Panik, Panik. Es ist bereits halb fünf am Nachmittag.
Toilettenpapier. Wir brauchen Toilettenpapier. Dieses spezielle fürs Camping, welches sich in der Brühe im Innern des Abfall-Tanks für „Schwarzwasser“ auflöst. Also nicht das normale. Wo kriegen wir sowas jetzt her?
Wir splitten uns. Ich düse nochmals zum Wohnmobil-Vermieter und räume das Toilettenpapier leer. Ob das für zwei Wochen reicht, frage ich die Dame an der Kasse. Die macht große Augen. „Ja-a.“ Sprachnachricht an Stefan. Jetzt können wir kacken bis zum Nimmerleinstag.
Liebster hat Kabelbinder besorgt. Wir stellen mein Auto ab und fahren endlich los. Es ist inzwischen halb sechs am Abend. Endlich stiehlt sich ein Grinsen in unsere Gesichter. Geräumig. Groß. Schön. Durchdacht. Wir finden beim Einräumen viel Stauraum. Aufhänger, Halterungen, um eventuell Sachen zu trocknen. Wir beherrschen die Autobahn. Sind der Elefant auf der Straße. Jetzt verstehe ich, wieso einige Leute auf schwere Fahrzeuge stehen.
„Und, wie fährt er sich?“ Frage ich Stefan, der schwankend zum Überholen ansetzt.
„Wie eine schwangere Kuh.“ Die Lenkung ist „weich“, das ganze fühlt sich ungewohnt an.
Die Sonne geht unter in einer glühenden Kugel, nach diesem vielleicht letzten wirklich warmen Tag im diesen Jahr. Ein blasser Mond hängt tief über der Straße, die Autos streifen darüber hinweg. Wolken bilden seltsame Strukturen, Großmutter und Großvater, die miteinander diskutieren. Jetzt geht meine Fantasie mit mir durch. Es sind Götter, die in der Anderswelt leben und in den Wolken spiegeln sich ihre Schatten wieder, so als ob man durch einen halb transparenten Vorhang schaut. Vielleicht sind es Geschehnisse von früher, eingefroren in den Wolkenformationen. Ich schaue wieder hin. Oma und Opa gehen jetzt gemeinsam spazieren.
Über den Bergen zieht sich ein tiefrosa Streifen. Neonlichter der Tankstellen. Wir erreichen einen Campingplatz in Riegel, wo wir für eine Nacht bleiben. Draußen in der Dunkelheit beginnt es zu regnen, dicke Tropfen trommeln gegen das Glasfenster über uns.
Der nächste Morgen. Heiße, dampfende Becher Kaffee. Stefan, der die Wohnwagendusche ausprobiert. Vögel, die noch immer nicht ihren Schnabel halten. Nicht dass mich das stört. Wir bezahlen den Stellplatz bei der inzwischen wieder besetzten Anmeldung und fahren weiter.
„Und?“ Frage ich. „Wie fährt es sich jetzt?“
„Immer noch wie eine schwangere Kuh.“
Schweiz
Zerklüftet die Felsen, dramatisch die Landschaft. Rohe Felswände verschwinden plötzlich ins Nichts wie ein Buch ohne Abspann. Wasserfälle, dünn wie ein Bindefaden. Rinnsäle. Türkisene Bäche. Dörfer, wie gemalt. Kühe, wie ein Abklatsch an Kitsch. Doch irgendwie schön, irgendwie ist es das, was man sehen will.
Basel
Basel, Stadt der Museen. Unser Tor zur Schweizer Seite. Groß, laut und hektisch, so habe ich Basel nach einer Woche Idylle am Vierwaldstättersee erlebt. Hässlich. Wie der Wurf zurück in die Wirklichkeit.
Doch die Stadt ist mehr als nur laut und hektisch. Sie ist hochmodern und hat ein extrem hohes kulturelles Angebot. Auf kleinstem Raum von 37 Quadratkilometern bieten sich rund vierzig Museen dem interessierten Besucher an, mehr als in jeder anderen europäischen Stadt. Vielfältige Interessen werden abgedeckt, doch der Schwerpunkt liegt auf der Kunst.
Doch Basel hat auch was fürs Auge. Abseits der zugegeben schmucken Altstadt bietet es interessantes aus moderner Architektur wie das Meret Oppenheim Hochhaus oder das Basler Architekturbüro.
Erbaut wurde Basel mitten im Erdbebengebiet. Ein Teil der Stadt ist auf Fels, der andere auf Schwemmsand gebaut. Südlich, unweit der Stadt, verläuft ein Riss in der Erdkruste. Dieser sorgt regelmäßig für Spannungen und wird vom Schweizer Erdbebendienst überwacht.
Das letzte große Erdbeben hatte es im 14 Jahrhundert hier gegeben. Am 18 Oktober 1356 legten kräftige Erdstöße, heute als das „Baseler Erdbeben“ die Stadt in Schutt und Asche. Und es war nicht nur die Geologie, die den Häusern und Kirchen den Garaus machte; zudem brach ein Feuer aus, das so lange brannte, bis es keine Nahrung mehr fand.
Kleinere, kaum spürbare Erschütterungen werden in und rund um Basel heute noch verzeichnet, die aber kaum bis gar nicht spürbar sind. Der Erdbebendienst veröffentlicht eine immerzu aktuelle Liste der Beben.
Wir halten hier nicht an, wir fahren durch. „Das ist das Voralpenland.“ Sagt Stefan, als die ersten Berge auftauchen. Doch ein „Berg“ ist für mich erst alles oberhalb der Baumgrenze.
Vierwaldstättersee
Die Idylle vom Vierwaldstättersee durfte ich 2009 erleben, auf einem wunderschönen Zeltplatz mitten am See. Es sind elf Jahre her, doch an dem erhabenen Anblick hat sich bis heute nichts geändert. Spitz und blau die Berge, warm der Sonnenschein. Einladend das Wasser, die kleinen Passagierboote mit Ausflüglern. Rund um den Vierwaldstädtersee vermehren sich die Campingplätze. Luzern, die schmucke, idyllische Stadt der Kerzenmacher, ist just einen Katzensprung entfernt.
Wir passieren einige Baustellen. Schau, hier ragt eine Kirchturmspitze auf! Schau, hier! Ich hüpfe rum wie ein Häschen auf Extasy. Doch zuallererst, als wir aus einem der Tunnel kommen, erschlägt uns schier die Alpenwand. Eine brutal in die Höhe ragende, schroffe Felswand. Danach kommt der See. Danach jauchze ich, während Stefan vor sich hin grinst.
So überwältigend die Landschaft, so ernüchternd die Preise. Insbesondere für diejenigen, die gerne mal zu schnell unterwegs sind. „Das machst du in der Schweiz genau ein Mal.“ Sagt Stefan und erzählt mir von einem Vorkommnis, das ihn vor rund zehn Jahren an der Schweizer Autobahn ereilt hat. „Da war dieses Achtziger-Schild.“ Er erinnert sich. Ungern. „Das habe ich nur am Rande registriert. Hinter der Kurve dachte ich, ich gebe jetzt Gas.“ Eine kurze Kunstpause folgt. „Tja. Hätte ich lieber erst zweihundert Meter weiter Gas gegeben.“ Wieder eine Pause. Dann… „Ich dachte mir noch: wieso steht das Auto so seltsam, dann…“ Er macht die Handbewegung, als wenn es ihm ins Gesicht blitzt. Und so war es wohl auch. Wie teuer war es denn, will ich wissen.
„Ein paar…“ Der Rest des Satzes verschwindet irgendwo zwischen zusammengepressten Zähnen. Wie teuer? Ich beuge mich vor.
„Ein paar hundert… Euro.“ Presst er hervor. „Das macht man hier wirklich genau einmal, zu schnell zu fahren.
Dunkle Wolken ziehen am Himmel auf. Weiße Wolkendecken wälzen sich über die Bergmassive. Schon bald erreichen uns erste Regenschauer. Es wird kalt.
Lago Maggiore – Die italienische Schweiz
Alles wird anders, noch ehe wir die Grenze nach Italien überqueren. Die Bauweise der Häuser und Kirchen. Die Straßenschilder und Beschriftungen sind plötzlich auf italienisch. Die Menschen sprechen italienisch. Ich bin irritiert.
Tatsächlich ist die Mehrheit der Anwohner hier italienischstämmig und -sprachig. Die italienischsprachigen Menschen machen rund acht Prozent der Schweizer Gesamtbevölkerung aus und Lugano im Kanton Tessin stellt die größte italienischsprachige Stadt außerhalb Italiens dar. Doch zu sagen, die Gegend wird von Italienern bevölkert, wäre zu kurz gedacht. Die politische und gefühlte Zugehörigkeit der Menschen gehört eindeutig der Schweiz, während sich die kulturelle Orientierung nach Italien ausrichtet. Wie eine Brücke zwischen beiden Ländern – und es scheint zu funktionieren.
Die Landschaft wirkt auf mich verändert. Alles ist mediterraner, romantischer. Irgendwie. Hier ist viel Spielraum für Interpretation. Eine tolle Gegend. Fürs nächste Mal.
Denn über dem Lago Maggiore sammeln sich bereits jetzt schwarze Wolken und der Wetterbericht sagt mehrere Tage am Stück Gewitter voraus. Unseren ursprünglichen Plan, hier zu campen, verwerfen wir daher und fahren nun weiter in Richtung Venedig.
Hinter dem Lago Maggiore geht der Himmel auf. Wir schieben uns genau unter eine großflächige, schwarze Wolke, so scharf abgegrenzt, als würde ein riesiges Raumschiff über unseren Köpfen schweben. Weit hinten am Horizont zeichnet sich klar der blaue Himmel ab, den Sonnenschein können wir nur erahnen.
„Das Mutterschiff ist gelandet.“
Italien
„Irritierend.“ Stefan steht neben mir an einer italienischen Esso-Tankstelle, die selbstgedrehte Zigarette im Mundwinkel. An uns vorbei zieht der laute Verkehr. Was ist irritierend?
„Italien. Wunderschönes, chaotisches, liebenswertes Land.“
Wir passieren Bergamo, den Ort, in dem es so viele Corona-Tote gab. Fast die Hälfte der an COVID19 verstorbenen stammte von hier, aus der Lombardei. Man habe sie haufenweise mit Transportern in Leichensäcken herausschaffen müssen. „Schwer zu sagen“, sagt er, „ob sie sich nun freuen, dass überhaupt wieder Touristen im Land sind, oder nicht gut auf Deutsche zu sprechen sind. Sehr freundlich sind sie ja.“ Und das meint er nicht ironisch. Bisher hat uns niemand schief angeguckt, ganz im Gegenteil.
Wie auch immer, sie sind froh und der Tourismus zieht ganz langsam an. Sehr langsam. Vermutlich noch aus Angst vor den schrecklichen Bildern der frischen Vergangenheit. Die italienische Bevölkerung ist seitdem zwiegespalten. Man hätte mehr helfen müssen, sagen einige. Die Weigerung Deutschlands, sogenannte bedingungslose Corona-Kredite zu vergeben trug zur Verschärfung der Verhältnisse bei. Doch bei Corona war sich jede der Nächste. Die Länder schotteten sich ab. Jetzt öffnen sich die Grenzen. Italien, wir kommen.
Süße Kirchtürme. Altbackene Städte in steinernem Ocker. Weintrauben hängen reif an den Rebstöcken entlang der Autobahn. Die Landschaft mit ihren Villen und Zypressen gesäumten Alleen – wie einem Gemälde im Lieblings-Ristorante entnommen. So manch Schmackerle fürs Auge ist auch dabei. Wie dieser schöne Ort. Oder jener. Wie die Kirche oben am Berg. Oder das Gut, welches mediterrane Romantik versprüht. Überall möchte man anhalten. Aber wir haben ein Ziel. Venedig. Unsere erste Station, in der wir bis Sonntag bleiben.
Mailand
Riesige Stadt. Sie zu durchqueren dauert zig Kilometer, und dabei fahren wir schon quer durch die Industriegebiete. Es stapelt sich riesige Modemagazine im Wechsel mit bekannten und weniger bekannten Pharmakonzernen. Fabriken. Hässliche Lagerhallen. Das ist die Seite, die niemand von Mailand sehen will.
Doch auch Mailand ist, wie Basel, Luzern und der Lago Maggiore, eine Stadt, die wir nur passieren auf unserem Weg nach Jesolo. Irgendwann am Abend werden wir ankommen und uns im nächsten Lokal klassisch Pizza und Wein reinziehen. Und dann nach so vielen Stunden Fahrt in unserem Haus auf Rädern in die weichen Federn sinken.
So herzlich die Menschen sind, so ungastlich das Wetter. Der schöne, warme Sommertag gestern, er ist nur Geschichte. Heute, hier in Italien, gießt es wie aus Eimern. Die Wettervorhersage zeigt eine Gewitterwarnung an. Stefan, Kasia, ihr habt so lange drauf gewartet – willkommen in Urlaub, ihr Arschlöcher.
Cavallino
Aus dem letzten Loch pfeifend erreichen wir in der Dunkelheit unsere Destination bis Sonntag – das Camping Enzo Stella Maris (unbeauftragte Werbung…) in Cavallino. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell wieder hier bin.“ Sagt Stefan. In der Ferne ist Wetterleuchten zu sehen, keine Donner. Kein entferntes Grollen. Nur das seltsame Leuchten hier und da, das die Wolken in einem überirdischen Orange erhellt. Ich verdrehe mir sehnsüchtig den Kopf nach jeder Pizzeria, die mit ihren Leuchtreklamen an uns vorbei zieht.
Die Rezeption des Camping Platzes ist bis 23 Uhr besetzt. Wir spazieren herein und Stefan beginnt das Gespräch – wie immer, auf deutsch, im völligen Selbstverständnis, dass die Leute ihn verstehen werden. Glücklicherweise tun sie das auch. Man freut sich, dass wir da sind. Nach der freundlichen Unterweisung (möchten Sie zum Meer hin stehen? Ja und ob…) verkriechen wir uns in unserem Zuhause auf Zeit. Das Unwetter draußen hat ganz neue Ausmaße erreicht.
Wir möchten auch gerne im Wohnmobil leben, mein Mann und ich, soweit alles gut aber wir müssen alles erst mal gut durchdenken. Danke für diesen tollen Blog, konnte mir einen Einblick verschaffen.
Lg Alisa
Hallo Alisa,
ich freue mich, dass mein Beitrag euch informativ ein wenig weiter geholfen hat. Schlussendlich ist so etwas immer eine Frage von Präferenzen, diejenigen, die viel Campen, sind mehr in der freien Natur unterwegs. Ich denke, Fahrräder mitzunehmen für mehr Flexibilität ist bei dieser Art Reisen optimal.
Liebe Grüße
Kasia