Deutschland, Europa

Wie eine ganze Stadt im Berg entstand – Gedenkstätte Silberberg

Die wenige Strecke lege ich mit dem Auto zurück. Als es nicht mehr weiter geht, weil eine Schranke den Waldweg versperrt, stelle ich den Wagen am Rande der blättergesäumten Straße ab. Adenbachhütte habe ich mir als Orientierungspunkt ausgesucht, doch ab hier ist der Silberberg angeschrieben, da die Gedenkstätte entlang der Rotweinwanderroute verläuft.

Doch es ist Abend unter der Woche und aktuell wandert hier niemand.

Zuerst stehe ich vor dem Ausblick auf die Stadt Ahrweiler. Einige Sitzbänke sind hier aufgestellt worden und unter mir ragen die Pfeiler des unvollendeten Viaduktes wie Zeigefinger dem Sonnenuntergang entgegen. Mahnen sollen sie, erinnern an die Kriege, an den Wahnsinn, deshalb sind sie noch da. Nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus der Absicht heraus. Man soll über sie stolpern, stutzen, sich Fragen stellen.

Dann drehe ich mich um und der leere, vergitterte Tunnel starrt mir entgegen. Nein, ganz leer ist er nicht. Hinten zugeschüttet, ist in vorderem Bereich eine Gedenkstätte eingerichtet worden. Es ist ein schattiger Ort und bis auf das Summen der Insekten, von denen manche hartnäckig mein Gesicht umkreisen, ist kein Ton zu hören. Nicht einmal die Blätter rauschen. Absolute Stille, als hätte jemand einen Bann gesprochen, als ich mich der Öffnung des Tunnels nähere. Die wahllos platzierten Steinbrocken davor sind mit grünen Moos bedeckt, auf dem die silbrigen Spuren der Schneckenwege leuchten. Sonst – nichts. Es ist wieder einer dieser Abende, an denen sich kein Blatt und kein Zweig rührt. Ich begreife sehr schnell, dass ich hier alleine sein, dass mich niemand stören würde. Der Tunnel ist ein dunkles Loch und es schaut mich an und wartet auf mich.

Und als es vollkommen still um mich wird, spüre ich einen kaum wahrnehmbaren Knick in der Realität. Wie ein Flimmern, eine Überlagerung in eine erloschene Zeit. Nur meine Schritte und mein Atem, all meine Bewegungen, so unnatürlich laut und das Echo, welches mein Kommen von den Wänden wiederhallen lässt. Mein Blick wandert über die Tafeln und jetzt kann ich die Tiefflieger hier dröhnen hören, wie sie den Tunnel überfliegen, ohne ihn wahrzunehmen, und ihre Ladung über Ahrweiler ablassen. Ferne und nahe Explosionen in der Stadt, die in Schutt und Asche gelegt wird. Ahrweiler war nicht immer so idyllisch wie heute. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges hatten die Alliierten Flieger ein Drittel der Stadt zerstört. Die Menschen suchten Schutz im Tunnel der unfertigen Eisenbahnlinie, die niemals vollendet wurde.

Hier verbrachten sie ihre Tage, zunächst in Angst, doch dann musste schließlich eine Normalität einkehren, nach der sich jeder sehnte. Kleine und große Unterkünfte wurden im Tunnel errichtet, es gab Post und eine ärztliche Versorgung. Von einem zweiten Tunnel aus, der zur Herstellung von Raketen benutzt wurde, konnte sogar Strom abgezweigt werden, so dass es elektrisches Licht in der „Stadt im Berg“ gab. Es gab Solidarität und gegenseitige Hilfe. Denn was hatte man sonst noch in dieser Zeit.

Die Flieger bombardierten am Tage bei guter Sicht. Des Nachts kehrten die Bewohner von Ahrweiler hinunter in ihre Stadt zurück, um das Vieh zu versorgen und nach ihren Häusern zu schauen. Falls diese noch standen, wurde Proviant geschnürt und zum Silberberg gebracht. Rund 2500 Menschen suchten hier Schutz vor Tieffliegerangriffen.

Bei schlechtem Wetter und Regen blieben einige in ihren Häusern unten im Tal. So manches Mal stellte sich das als fataler Irrtum heraus und kostete die Menschen ihr Leben. Über tausend Bomben fielen auf Ahrweiler und zerstörten große Flächen des Tals. Durch das Ahrtal verlief die Nachschubstrecke für die Westfront, so war dieses Gebiet ein besonders häufig frequentiertes Angriffsziel.

Ich betrachte lange die wenigen Habseligkeiten, die für den Aufbau der Gedenkstätte hierher geschafft worden waren. Ein alter Herd, der auch gut aus Zeiten meiner Oma stammen könnte. Einer oder zwei Sitzschemel, eine provisorische Küche mit Pfanne und Topf. „Post“ steht auf einem Kasten mit weißer Farbe geschrieben. Hier wohnten sie und lebten und wenn ich mich umdrehe und aus dem Tunnel heraus schaue, kann ich ihre Stimmen hören, das alltägliche Leben, kann sehen, wie es war, hier unten zu sein, mit Blick auf die zerstörte Stadt.

Nun rauschen die Bäume wieder. Der kurze Sprung in der Realität ist verblasst. Meine Hand wandert über das oben aufgerollte Stacheldraht. Noch nie in den friedlichen Zeiten meines Lebens habe ich Stacheldraht berührt. Es ist starr und weniger elastisch, als man annehmen möge. Es ist unnachgiebig.

 

Ein kleines Stück Geschichte

Mit dem Bau des Eisenbahntunnels, der schließlich viele Leben retten sollte, wurde im Jahre 1910 begonnen. Er sollte Librar bei Köln mit Rech im Ahrtal verbinden und war der erste von fünf Tunneln, die im Ahrtalgebirge errichtet werden sollten. Selbst als der Erste Weltkrieg begann, wurde weiter an den Eisenbahnverbindungen gebaut. Als günstige Arbeitskräfte kamen russische Gefangene zum Einsatz. Nach dem Krieg ging der Bau weiter mit dem Segen der amerikanischen Besatzer, die hierbei eine wirtschaftlich sinnvolle Investition sahen. Allerdings genehmigte man die Eisenbahnverbindung laut den Versailles Verträgen nur als einspurige Bahnlinie.

Erst die Franzosen waren es, die den Bau so kurz vor der Vollendung stoppten. 1923 waren sie die besetzende Macht in der Region und im Gegensatz zu den Amerikanern sahen sie das Projekt als eine Bedrohung, denn es war die Eisenbahn, die 1914 für den Nachschub an Ausrüstung und Proviant für die Deutschen an der Front sorgte. Die Franzosen unterbanden die Fertigstellung sofort. Die Schienen waren schon fertig und die Pfeiler des Viaduktes standen, das einzige was fehlte, war der verbindende Teil. Und auch da stand das Holzgerüst schon und der Beton war sozusagen fertig zum Ausgießen. Der Baustopp kam im letzten Moment.

Rund zehn Jahre stand der Tunnel leer, bis eine ungewöhnliche Idee ihn einem neuen Verwendungszweck zuführte: um sich vom Ausland unabhängig zu machen, wurden hier Champignons gezüchtet. Die Bedingungen waren ideal, der Tunnel war dunkel, feucht und hatte eine stabile Temperatur.

Als der zweite Weltkrieg ausbrach, war an Champignons nicht mehr zu denken. Der verlassene Tunnel diente den Bewohnern als Schutz, und sie bauten sich hier einfache Hütten, in denen sie tagsüber lebten. Mit der Zeit entwickelte sich ein ausgefeiltes System, um beispielsweise die Postsendungen an die richtigen Abnehmer austeilen zu können: die Hütten wurden mit Nummern versehen. So wusste man, zu wem welche Post gehörte und auch der Arzt konnte seinen Patienten leichter finden. Denn das Leben musste weiter gehen, auch wenn oberhalb die Bomben fielen. Irgendwann wurden die Behausungen zu mehr als das, sie wurden zu einer regelrechten Siedlung, zur „Stadt im Berg“.

Zum Ende des Krieges wurde der Tunnel von den Franzosen gesprengt. Daher stammen auch die Trümmer in seinem Inneren. Der Ort wurde sich selbst überlassen, überwucherte und geriet lange in Vergessenheit. Im Jahr 2004 errichtete der Heimatverein Ahrweiler mit Spenden und Hilfe von Bürger*innen aus Ahrweiler und Umgebung diese Gedenkstätte. Sie wurde ausschließlich von Spenden finanziert.

So hätte der fertige Viadukt einmal ausgesehen – eine Vision des Künstlers Kolja Schäfer.

Kasia

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