Es ist irgendwie wie ein schlechter Traum. Ich betrete einen Raum. Dieser Raum ist voller Menschen. Menschen, die still da sitzen und auf etwas warten. Die Spannung scheint mit den Händen greifbar zu sein, kaum ein Mucks ist zu hören. Ich spüre, ich bin hier falsch, denn hier wollte ich nie landen, nein, ganz und gar nicht – hier wollte ich nie hin. Ich befinde mich in einem Gerichtssaal.
Mit einem schweren Kopf stehe ich am Morgen auf. Nach dem gestrigen, anstrengenden Tag voller Wanderungen durch die Straßen der Stadt schlafe ich knapp fünfzehn Stunden am Stück, ehe mir meine innere Uhr langsam zuflüstert: Aufstehen, es wird Zeit.
Das schöne gestrige Wetter ist heute nur noch ein Gerücht; dicht und bleiern schwer hängen die Wolken über der Stadt. Irgendwie passt es zu der düsteren, melancholischen Stimmung, die Dublin hier und da an manchen Ecken und an manchen Tagen verbreitet. Mit seinen Pubs aus dunklem Holz, mit seinen ehemaligen Arbeitersiedlungen, mit seinen beinahe lebendigen Skulpturen, die an die große Hungersnot im 19 Jahrhundert erinnern. Der Wind weht mir die Haare vom Gesicht und ich bin froh um meine warme Mütze, in der ich aussehe wie ein Gartenzwerg. Sie hält warm.
Insbesondere beeindrucken mich die beiden Kathedralen, die St. Patricks Kathedrale und die Christ Church Kathedrale. Sie liegen ziemlich nah beieinander und sind voll von Geschichten und Legenden – ich schrieb darüber in meinem letzten Beitrag. Doch so ziemlich jede Kirche in der Stadt hat es – diese geheimnisvolle Geister-Atmosphäre. Graues Gestein, ein dunkler Himmel – fertig ist der Stoff, aus dem Legenden entstehen.
Der Liberty-Market und der freundliche Taxifahrer
Mein nächstes Ziel ist der Flea Market, ein sehr bekannter Markt, der in erster Linie Vintage verkauft. Also gebrauchte Sachen. Früher hätten wir gesagt: ein Flohmarkt, doch Vintage hört sich irgendwie gleich schicker an, meint ihr nicht? Die Markthalle liegt in der Newmarkt Square, das sind im Grunde nur wenige Meter von der St Patricks Kathedrale entfernt.
Unschlüssig bleibe ich mit meiner Karten-App stehen und prüfe die Richtung – die Halle müsste hier gleich sein, doch wo ist der Eingang? Neben mir hält ein Taxi.
„Excuse me, can I help you?“ Fragt der Taxifahrer, der sich – noch immer ungewohnt für mich – aus dem rechten Fenster seines Fahrzeugs lehnt. Nein, danke, ich winke ab: „Ich brauche kein Taxi.“ Doch der Taxifahrer gibt nicht auf. „Ja“, sagt er, „aber kann ich Ihnen irgendwie helfen? Sie sehen aus, als suchten Sie etwas.“ Ja klar, warum nicht, denke ich mir, komme näher ans Taxi und halte ihm meine Karte vor die Nase. Der schaut sich das kurz an.
„Ja, der Markt ist gleich da vorne, aber er hat heute geschlossen. Er hat nur am Wochenende auf.“ Ich habe kein Glück, doch der Taxifahrer gibt mir den Tipp für einen anderen Markt, unbekannt und etwas verborgen, wo sich garantiert kein Tourist verirrt: es ist der bei weitem weniger frequentierte Liberty-Market. Nach einer ausführlichen Wegbeschreibung entlässt er mich lächelnd – hätte nur noch gefehlt, dass er mir „Welcome to Ireland“ hinterher ruft, wie es in asiatischen Ländern so oft der Fall ist.
So freundlich, die Menschen hier, denke ich und mir wird gleich wärmer. Wie ich schon einmal schrieb: sobald sie sehen, dass du verloren wirkst, wollen sie dir gleich helfen, wo sie nur können. Einfach so.
Sicher wäre die Markthalle des Flea Market größer und interessanter gewesen, doch hier bin ich „alleine“ bis auf die Menschen, die tatsächlich ihre Einkäufe erledigen und nicht nur gucken wollen.
Den Liberty-Market in der Meath Street gibt es schon seit 1973. Es ist ein kleiner Markt und verkauft wirklich alles, von irischen Tanzschuhen über Rucksäcke, T-Shirts, Kleidung bis hin zu Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Ihm haftet keine schicke Vintage-Atmosphäre an, im Gegenteil, es ist ein Ort, der nichts Hippes zu sein versucht. Als ich rein gehe, versuche ich, nicht aufzufallen, denn anscheinend kennt man sich hier, die Händler und ihre Kunden halten gerne mal ein längeres Schwätzchen.
Die Vertrautheit der Menschen lässt schließen, dass sie sich schon lange kennen oder seit Jahren hierher kommen, immer an bestimmten Wochentagen und immer an diesen Ort. Ich traue mich nicht so recht, zu offensichtlich zu fotografieren, deswegen soll es nur ein Foto des Markts von außen geben. Gleichzeitig denke ich mir jedoch: wieso muss alles, wirklich alles fotografisch festgehalten worden sein, nur um zeigen zu können, dass man vor Ort gewesen ist?
Cafe Bombo
Als ich durch Dublin gehe, verstärkt sich der von Anfang an vorhandene, provinzielle Eindruck noch. Dublin wirkt wie ein großer, vertrauter Ort, wie ein zu groß geratenes Dorf und nicht wie eine Stadt. Schon gar nicht wie eine Hauptstadt. Ich passiere kleine Häuser aus Backstein mit ihren kleinen Eingängen, mit ihren knallig bunten Türen.
Ganz Dublin wirkt wie ein Vorort. Und bei diesem düsteren, trübseligen Wetter leuchten immer mal wieder bunte Elemente auf, sei es Graffiti oder eine knallgelbe Fassade, sei es eine rote Tür – immer wieder trotzt die Stadt dem einheitlichen Einerlei und dem Wetter. Anscheinend war heute Markttag in einigen Bezirken Dublins, denn entlang der Gehwege haben sich Händler mit ihren Waren ausgebreitet. Farblose Planen schützen die Waren vor Regen.
Die Leute sind gesellig, sie halten gerne mal ein längeres Schwätzchen. Niemand bleibt gerne für sich. Und jeder, mit dem ich spreche, spricht mich auf den Sturm an. Für den heutigen Tag wird ein orkanartiger Sturm für die irländische Ostküste angesagt; zumindest sollen wir laut Wettervorhersage die Ausläufer desselben zu spüren bekommen. Ob es eine so gute Idee ist, die ganze Zeit heute durch die Stadt zu laufen? Dann fängt es an zu regnen. Spätestens jetzt wird es Zeit, mir einen Unterschlupf zu suchen.
Ich entdecke ein süßes, kleines Cafe, in dem es leckere Kuchen gibt (Cafe Bombo, kann ich nur empfehlen) und halte erstmal einen Plausch mit dem Mädchen an der Theke. „Hast du schon von dem Sturm gehört?“
Ich bin nicht die einzige, die alleine hier im Cafe sitzt: Menschen mit Laptop scheinen hier versackt zu sein, um ihre „Hausaufgaben“ zu machen wie E-Mails abrufen oder ähnliches. Oder sie surfen einfach nur auf Facebook herum wie ich. Ich komme mit dem Mann am Nebentisch ins Gespräch. Er kennt Deutschland und die Gegend um Frankfurt herum. „Hast du auch von dem Sturm gehört?“ Fragt er mich.
Irgendwann gehe ich weiter. Der Regen hat aufgehört und nach Sturm sieht es momentan nicht aus… aber wer weiß? Vielleicht fegt es mich schon in fünf Minuten von der Straße.
Das Kilmainham Gaol – Museum
Doch kein Sturm fegt mich von der Straße, ganz im Gegenteil; das Wetter beruhigt sich nach und nach. Schließlich bin ich da, nach einem langen Marsch stehe ich davor und schaue mit erhobenem Kopf zu einer grauen Mauer hinauf, die nahtlos in einen grauen Himmel übergeht.
Hier befindet sich das ehemalige Kilmainham-Gefängnis, welches heute nur noch ein Museum ist und besichtigt werden kann. Eigentlich stehe ich ja nicht so auf Museen, es muss schon etwas Besonderes sein – und das hier ist besonders. Ich gehe hinein.
Der Eingang ist in zwei Bereiche eingeteilt. „Besucher mit Ticket“ auf der linken und „Besucher ohne Ticket“ auf der rechten Seite, doch es wartet keiner und es steht auch keiner an. Überhaupt kann ich keine Menschenseele sehen, also wähle ich brav den Abschnitt für Besucher ohne Eintrittskarte, man will ja alles richtig machen. Ich vermute ein Kassenhäuschen um die Ecke, doch der Gang führt mich weiter und in einen großen Raum hinein.
Der Raum ist voller Menschen. Sie sind still und warten. Und da beginnt er, der Teil der Geschichte, in dem ich mich plötzlich wie in einem Traum wiederfinde: ich befinde mich in einem Gerichtssaal.
Die Menschen registrieren mich, ein paar nicken, ansonsten herrscht eine gespannte Erwartung. Ich stelle mich möglichst unauffällig auf die Seite und harre mit ihnen der Dinge, die da kommen mögen. Schließlich geht irgendwo auf der entgegengesetzten Seite des Raumes eine weitere Tür auf und ein jovialer Mann in mittleren Jahren betritt den Gerichtsaal. „Willkommen zu ihrer Gefängnisführung!“
Führung? Dann bin ich hier falsch! Ich habe noch nicht einmal meine Eintrittskarte eingelöst und nichts liegt mir ferner als mich heimlich in irgend eine Führung zu schmuggeln. Ich will mich wieder verdrücken, doch einer der Besucher neben mir deutet mir an, zu bleiben.
Die Gruppe läuft los und der Strom zieht mich mit, doch ich fühle mich extrem unwohl in meiner Haut.
Wir betreten dunkle, Jahrhunderte alte Gänge, die lediglich von schummrigem Licht erleuchtet werden und unser Guide lässt uns an der Geschichte des ehemaligen Gefängnisses teilhaben.
Er macht seine Sache sehr gut und das schlechte Gewissen brennt wie ein rotes Mal auf meiner Stirn. Unwillkürlich muss ich an das rote Tika denken, welches mir in einem hinduistischen Tempel in Nepal zwischen die Augen gedrückt wurde. Vermutlich blinken auf meiner Stirn nun große, leuchtende Buchstaben, die sich zu Worten formen: „Sie hat nicht bezahlt! Packt sie, werft sie ins Gefängnis…“ Ach was, denke ich, die behalten mich gleich hier; am richtigen Ort sind wir ja schon.
Und ich fühle mich kriminell, sehr kriminell… Vermutlich werde ich in eine dieser Zellen gesteckt, an denen wir gerade vorbei gehen, der Riegel wird vorgeschoben und dann rufe ich bis in alle Ewigkeit im Dunkeln und keiner hört mich… Schritte, die vorbei gehen, doch keiner hält an… und dann wird es kalt und die Raten kommen des Nachts, um an mir zu nagen…
Puh, genug der Phantastereien. Doch tatsächlich kann man an viele seltsame Ideen kommen, wenn man so durch die Gänge des Gefängnisses spaziert und in die alten Zellen mit den dicken Türen späht.
Dies hier ist der älteste Trakt des Gefängnisses – in die Wände sind in feinen, hellen Linien unzählige Wörter und Namen geritzt, wobei ich den starken Verdacht habe, dass das meiste davon in der Neuzeit entstanden ist und von Touristen stammte. Ein Geruch nach etwas Altem hängt in der Luft
und selbst die Menschengruppe um mich herum kann diesem schaurigen Eindruck keinen Abbruch tun. Und wie gesagt, der Guide macht seine Sache sehr gut und nach und nach entspanne ich mich zusehends.
Das Gefängnis Kilmainham Gaol ist fest mit der Geschichte Irlands verbunden. Es wurde 1796 als Bezirksgefängnis eröffnet. Neben Aufständischen und politischen Gefangenen beherbergte es tausende Männer, Frauen und selbst Kinder, die wegen diverser Vergehen ihre Zeit in den Zellen abbüßen mussten.
Dabei waren es nicht nur Mörder, Landesverräter und Vergewaltiger, die hier einsaßen; bereits kleinste Vergehen wie der Diebstahl von Lebensmitteln wurde mit einem Aufenthalt geahndet. Die Gefängnistrakte waren überfüllt, nicht selten teilten sich bis zu fünf Personen eine kleine, enge und teils dunkle Zelle, deren einzige Licht- und Wärmequelle eine Kerze war, die zwei Wochen reichen musste.
Auch war das Kilmainham Gaol ein Zwischenstopp für Gefangene aus verschieden Teilen Irlands, bevor sie nach Australien verschifft wurden.
Das Gelände beherbergt den bereits erwähnten Gerichtssaal, einen Hinrichtungshof und sogar eine kleine Kapelle. Was das Kilmainham Gaol geschichtlich so bedeutsam macht, ist die Tatsache, dass hier die Aufständischen und ihre Anführer festgehalten wurden, die für die Unabhängigkeit Irlands kämpften. Viele von ihnen wurden im Innenhof hingerichtet, eine an der Erschießungswand angebrachte Gedenktafel erinnert heute an sie.
Einen starken Eindruck hinterließ dabei auf mich die Wand selbst – die Hinrichtungsstätte, auf der wir stehen, ist nicht mehr als ein enger, trostloser Hof, auf allen Seiten von hohen Mauern umgeben, grau und ohne jede Hoffnung. Hier ist gerade mal so viel Platz, um bequem aus einer passenden Entfernung schießen zu können – die Wand, vor der ich stehe, trägt noch deutliche Spuren der Einschusslöcher. Was war der letzter Anblick des Deliquenten vor seinem Tod? Konnte er noch einen letzten Blick nach oben auf den Himmel erhaschen?
Einer der wichtigsten irischen Unabhängigkeitskämpfe war wohl der Osteraufstand 1916, und das, obwohl der Aufstand selbst niedergeschlagen und die Anführer hingerichtet wurden. Irische Republikaner versuchten, die Unabhängigkeit Irlands gewaltsam zu erzwingen.
Und auch wenn der Aufstand fehlschlug, führte er doch im Nachhinein dazu, dass eine neue Zeit anbrach, denn tatsächlich waren es erst die Exekutionen, die für Empörung bei den bislang passiven Teilen der Bevölkerung sorgten.
Diese schlug schließlich in Sympathie für die Republikaner um. Im 29 September 1937 wurde die unabhängige Republik Irland gegründet. Insofern ist Irland eine recht junge Nation. Kein Wunder, dass all die Schrecken und all die Gewalt vielen Menschen, auch den jüngeren, noch in den Knochen
sitzen. Irlands Geschichte wird hoch gehalten, was auch in Gesprächen immer wieder deutlich wird. Auch im Haupttrakt des Gefängnisses erinnern über den Zellentüren angebrachte Namen an die hier gefangen gehaltenen Anführer des irischen Unabhängigkeitskampfes, ebenso finden sich ihre Namen im Stadtbild Dublins wieder wie Charles Stewart Parnell, Patrick Pearse oder James Connolly.
Das Gefängnis selbst wurde 1924 geschlossen und da es so viele schlechte Erinnerungen verbarg, wurde es lange Zeit dem Verfall überlassen. Erst einige republikanische Veteranen nahmen sich dessen an, restaurierten es in Eigeninitiative und auf eigene Kosten und eröffneten es als Museum wieder. Der damalige Präsident Irlands, Éamon de Valera, gab dazu seinen Segen – was umso beeindruckender ist, da er selbst als ehemaliger Gefangener einige Zeit an diesem Ort verbrachte und erst als letzter der Gefangenen 1924 entlassen worden war.
Und wem die Mauern des Gefängnisses im Dubliner Stadtteil Kilmainham bei näherem Hinschauen irgendwie bekannt vorkommen, so könnte das daran liegen, dass seine Mauern bereits des öfteren als Filmkulisse dienten, unter anderem „Im Namen des Vaters“ von 1993, „The Escapist“ von 2008 oder „Paddington 2“. Auch ein Video von U2 (A Celebration) wurde hier gedreht.
Und ich mit meinem „Vergehen“? Am Ende der Führung wechsle ich ein paar Worte mit unserem Guide und drücke ihm ein gutes Trinkgeld in die Hand…
Gefängnis , das wäre was für mich !
Das Kilmainham Gaol ist ein toller Ort zum Fotografieren. Gut, im Rahmen einer Führung hat man dort nicht die Möglichkeit, so lange man will in jeden Winkel zu schauen, aber auch so ein unglaublicher Ort…