Helsinki, Januar 2017
Kennt Ihr es? Dieses Gefühl, wenn Ihr Eure Hände nicht mehr spürt? Und damit meine ich nicht: Ein bisschen „nicht mehr spürt“, damit meine ich – wenn ihr nicht einmal mehr sicher seid, dass da mal Hände waren… Nein? Tja, ich schon. Und glaubt mir: Man muss nicht alles kennengelernt haben…
Man, war das kalt. Scheiße, war das kalt! – Werde ich ausrufen, während ich, inzwischen wieder auf meinem Zimmer, Mütze, Schal und Handschuhe von mir werfe und mich der vielen Schichten Kleidung entledige.
Doch noch ist es nicht soweit. Noch frühstücke ich…
Beim Frühstücken suche ich mir, wenn es geht, einen Platz am Fenster aus. So kann ich den Wintertag erleben, dem fallenden Schnee zusehen oder beobachten, wie es draußen langsam heller wird. Über Nacht hat sich das Wetter beruhigt, von den Windböen gestern Abend ist nun nichts mehr zu sehen. Klar und ruhig sieht es aus und nach und nach kündigt sich die Sonne mit dem leuchtend goldenem Streifen am Horizont an. Langsam und zögerlich tritt sie auf die Bühne wie eine Diva; noch etwas verschämt zeigt sie hier ein bisschen Haut, da ein bisschen Bein, versteckt sich schnell hinter einer Wolke, um die Schüchterne zu spielen, obwohl jedermann weiß, dass sie im nächsten Moment emporsteigt wie ein leuchtender Star und die Welt mit ihrem warmen Schein umgarnt.
Ich würde die Welt heute auch gerne umgarnen, denn für heute habe ich den Besuch Suomenlinnas geplant, der Festung vor der Küste Helsinkis. Doch eigentlich bin ich noch müde und nach dem langen, anstrengenden Marsch gestern Abend würde ich gerne einfach nur nichts tun, auf dem Zimmer bleiben mit dem „bitte nicht stören“-Schild vor meiner Tür und eine Balance finden zwischen dem Wollen, Sollen, Müssen und nicht Müssen.
Doch die Wettervorhersage belehrt mich ziemlich schnell, dass heute der letzte wirklich sonnige Tag ist in dieser Woche; schon morgen würde es nicht mehr das Gleiche sein. Und sie belehrt mich noch eines; dass draußen knackige 18 Grad auf mich warten.
Minus, versteht sich. Also schlüpfe ich in so ziemlich ALLE Kleidungsschichten, die mein Koffer hergibt und packe den Motorradwindschutz mit in die Tasche ein. Dann geht es los.
Wer die Finnen kennt, weiß, dass nichts in dieser Welt, schon gar nicht so etwas Simples wie Witterung, sie davon abhalten würde, sich nach draußen an die Luft zu begeben. Das gleiche gilt für den gemeinen Touristen, wenn es etwas anzuschauen gibt. So sind außer mir noch viele Menschen auf den Straßen, trotz der kalten Temperaturen. Manche haben sich, wie ich, ihren Schal ins Gesicht geschoben, doch manche lassen auch jetzt noch die Mütze weg.
Die Sonne leuchtet unerwartet hell und gleißend; das hier, elf Uhr finnische Zeit, ist in etwa die hellste Zeit des Tages. Es ist weitestgehend windstill, als ich in die Stadt laufe und so fühlen sich die 18 Grad gar nicht mal sooo kalt an. Ich bin gut isoliert und so leicht sickert durch die tausend Kleidungsschichten keine Kälte durch.
Am Hafen wartet auf mich noch eine Überraschung: Das Meerwasser dampft. ES IST SO KALT, DASS DAS WASSER DAMPFT! Leicht und fein erhebt sich der Dampf in den Strahlen der gleißend hellen Sonne nach oben, wird von ihr beleuchtet, das Wasser spiegelt ihre Strahlen, Schiffe sind hinter einem feinen Vorhang verborgen und das ganze Meer wirkt wie ein kochender Topf mit Suppe. Was für ein Anblick!
Viele Menschen zücken ihre Kamera. Möwen fliegen auf, nur um sich wieder schnellstmöglich auf der Wasseroberfläche oder im Schnee niederzulassen; frierend, unzufrieden. Zum Fliegen ist es heute zu kalt.
Siehst du? Du hast dich heute überwunden, bist aufgestanden, weg von der Komfortzone und raus in die Kälte und hast etwas so schönes erleben können.
An alle da draußen: Das ist ein Wink mit dem Eiffelturm! Steht auf, geht raus und erlebt was Schönes…
Es haben sich viele am Fährhafen versammelt für die Überfahrt nach Suomenlinna; das ist es, weshalb ich vorhin sagte, dass nichts den gemeinen Touristen vom Erkunden abhält.
Am Fahrscheinautomaten stelle ich mich etwas ungeschickt an, so dass ich erst die nächste Fähre nehmen muss, die um 13 Uhr, also in einer Stunde geht. Mit mir zusammen – das russische Pärchen, das ungeduldig hinter mir wartet und vermutlich schon mit den Hufen scharrt.
„Die lässt einen aber auch nicht vor!“ Sagt der Mann zu seiner Freundin (Ich bin Polin, verstehe also hier und da ein bisschen russisch). Nein, natürlich lasse ich dich nicht vor, Junge, ich will ja auch eine Fahrkarte. Hilf mir lieber, dann geht es auch schneller.
Die Überfahrt nach Suomenlinna kostet an die 2 €, man kann auch eine 12 Std. Karte für 5 € erstehen. Da ich (wie die beiden hinter mir nun auch) noch eine Stunde Zeit habe, überlege ich, was ich jetzt machen soll. Herumzulaufen habe ich momentan keine Lust; ich werde noch früh genug auf der Insel frieren. Also verziehe ich mich in eines der Zelte, die am Hafenmarkt aufgebaut sind; er wird von zwei netten, jungen Russen geführt und man bekommt da Snacks, Hotdogs, süße Teilchen sowie heiße Getränke jeweils für soziale zwei Euro. Ich bestelle zunächst heißen Kaffee. Doch schon während der ersten Züge ist der heiße Kaffee nicht mehr heiß und innerhalb weiterer zwei- bis drei Minuten ist er nur noch lauwarm. Ich bestelle mir noch einen Glögi, den ich beinahe in einem Zug hinunter kippe. Doch anders als zu Hause, wo ich sofort besäuselt bin, wenn ich Glühwein trinke, ist es hier, als tränke ich Wasser; ich merke nicht das Geringste, der Alkohol wird sofort in Wärmeenergie umgewandelt.
Bei der Überfahrt passieren wir kleinere Inseln, die in dem Widerschein der Sonne im dampfenden Meer wie in der Hexenküche aussehen. Dann nähern wir uns einem unwirklichen Ort, der dampfend und weiß, von peitschendem Wasser umgeben vor uns liegt: Die Festung Suomenlinna.
Durch den steigenden Wasserdampf setzt sich feiner Reif in schneeweißen Schichten auf Bäumen und Sträuchern, ja, auf der gesamten Insel ab und so sieht es aus, als hätte die Schneekönigin einmal kurz mit ihren magischen Kräften gewirkt. Wir verlassen die Fähre und bewegen uns durch das Tor in das Innere der Insel.
Die Festung ist beeindruckend. Neben u. a. Akropolis, den Galapagos-Inseln und der Chinesischen Mauer steht sie auf der Weltkulturerbeliste der UNESCO und ist entsprechend beliebt, selbst jetzt im Winter. Auf der Insel (es sind eigentlich acht Inseln, über die hinweg sich die Festung erstreckt) gibt es ein kleines Hostel, in dem man unterkommen kann, was sicherlich im Sommer interessant gewesen wäre. In der Sommerzeit werden geführte Touren angeboten, während man im Winter die Insel auf eigene Faust erkunden kann. Immerhin: Die Touristeninformation hat geöffnet wie auch Cafés und Restaurants. Wunderschön ist die Insel im Winter allemal.
Ca. 800 Menschen leben zur Zeit auf Suomenlinna. Manche von ihnen sehe ich auch, während ich mich ins Innere begebe; ältere kommen mir mit kleinen Einkaufstaschen entgegen oder auch Kinder, die sich lachend, mit geröteten Wangen gegenseitig mit Schnee bewerfen. Was für ein seltsames Gefühl muss es sein für die Einwohner, wenn jeden Tag Gruppen von Besuchern frierend und staunend ihre Häuser fotografieren?
Der eiskalte Wind bläst in mein Gesicht und lässt es gefrieren (Frage an mich: Können Gesichter eigentlich abfallen?). Ich halte kurz abseits an und ziehe den Windstopper über, der eigentlich fürs Motorradfahren bei kalter Witterung gedacht war (Danke, Stefan!) und der meinen Kopf, Brustbereich und was wichtiger ist, mein Gesicht vor der schneidenden Kälte schützt. Doch dazu muss ich meine Schichten wie Schall, Mütze, Handschuhe und co. erst einmal ablegen und das bedeutet, dass meine Hände einige Minuten lang ungeschützt dem eisigem Wind (minus zwanzig Grad!) ausgesetzt sind. Die ersten Minuten geht das noch gut, doch schon nach einem Augenblick fühle ich meine Hände nicht mehr.
ICH. FÜHLE. MEINE. HÄNDE. NICHT. MEHR. Und zwar nicht so ein Bisschen, mit stechenden Schmerzen und so… nein, ich fühle gar nicht mehr, dass da mal Hände waren. Ohne jegliche Übertreibung. Kein Schmerz. Hah, hätte ich Schmerzen, ginge es mir ja prima…
Also schnell wieder, soweit es das nicht vorhandene Gefühl zulässt, in die Handschuhe schlüpfen. Die Hand zur Faust ballen, bewegen, bewegen, bewegen. Irgendwann – dass das Blut wieder zurück fließt, wäre zu viel gesagt – irgendwann meldet sich eine Art Empfinden wieder. Die Beweglichkeit kommt zurück.
Mit geschützten Wangen und Mundbereich fühle ich mich gleich besser; so kann mir der Wind nichts mehr anhaben. Ich folge anderen Besichtigenden, überquere eine Brücke, folge den Schildern, die zur Festung führen. Erfrorene, rote Gesichter anderer Touristen kommen mir entgegen (ihr wisst schon; dieses aufgequollene, rote, das aussieht wie nach zu viel Schnaps… daaas ist der eiskalte Wind, der das bewirkt) und ich kann mir vorstellen, wie ich selbst gerade aussehen muss.
Suomenlinna hat viele Gänge, die durch die unglaublich dicken Steinmauern führen und in solchen Gängen tauche ich jetzt ab.
Wenn für Helsinki heute Mittag minus 18 Grad angesagt worden, so ist es auf der Insel noch ein paar Grad kälter. Minus 20 Grad. MINUS ZWANZIG GRAD CELSIUS!
Als erstes gibt meine Kamera den Geist auf. Ob es an der Kälte liegt, vermag ich nicht zu sagen. Der Speicher zeigt „voll“ an. Lustig, dabei dachte ich, dass mein Akku als erster krepiert… Ungeachtet dessen muss ich ab jetzt meine Handykamera benutzen. Und da das mit Handschuhen nicht geht, bedeutet das, die ganze Zeit die ungeschützten Hände draußen zu halten… Hah, das wird ein Spaß!
Ich spähe aus dem Gang nach draußen: Wo sind die anderen denn gerade hingewatschelt? Und wo sind die Kanonen, ich will zu den Kanonen!
Ich begebe mich zu der Außenseite der Festung in westliche Richtung; momentan bin ich alleine. An Häusern und Laternen haben sich lange, glänzende Eiszapfen gebildet und der Schnee glitzert pulverig und golden in den Strahlen der Wintersonne. Ich drehe mich um und schaue zurück: Ein Hase kommt mir im Schweinsgalopp entgegen, rast genau auf mich zu, schlägt einen Hacken und verschwindet zwischen den Bäumen.
Oben an der westlichen Außenseite angekommen schaue ich hinunter in die Sonne, die sich, schon etwas gelblich, ihrem Ende neigt. Eine junge Frau kommt mir entgegen, die auch alleine, so wie ich, diesen Anblick für sich hat. Ich stehe da, sehe hinunter auf das dampfende, goldene Wasser und die felsigen Ausläufer der Insel, die ins Meer führen, massiere das tote Fleisch, wo früher einmal meine Oberschenkel waren, schaue auf den Sonnenuntergang in der wunderschönen, unwirklichen Szenerie, spüre die Eiskristalle, die sich auf meinen Wimpern festzusetzen versuchen. Ist es das wert, Kasia?
Oh ja… das ist es auf jeden Fall wert.
Ich bin geblendet von der Schönheit. Ich will mich, trotz des kalten Windes, gar nicht mehr abwenden. Und – so seltsam das auch klingen mag – im Grunde genommen friere ich auch nicht. Es sind die Hände, die stechende Schmerzen aushalten, sobald ich mein Handy zum fotografieren zücke, doch daran habe ich mich gewöhnt. Ansonsten kommt die Kälte kaum an mich heran. Ja, und die Oberschenkel… Am liebsten würde ich bleiben und das tue ich auch; eine ganze Weile stehe ich da und schaue der Sonne hinterher. Dann laufe ich zurück zum Fährhafen.
Am Hafen ist es ziemlich windig. Jedoch kann man von hier aus die Skyline von Helsinki in gelb-orangenen Strahlen leuchten sehen. Das ist mir noch ein Foto wert (der Handyakku, obwohl geladen, steht bereits nach zehn Minuten auf „low“…). Also nochmal Handschuhe ausziehen, Kamera ruhig halten. Die Hände schmerzen; das macht nichts. So, noch ein bisschen die Belichtung einstellen… die Hände schmerzen nicht mehr; okay, das ist nicht so gut. Der Wind tut ganze Arbeit, ich bin schockgefrostet. Das Foto war noch nicht Ideal, noch eines, ein bisschen geht noch…
So, jetzt spüre ich komplett nichts, kann meine Hände nicht mehr bewegen. Zurück in die Handschuhe, schnell. Ich habe Schwierigkeiten, die Handschuhe mit den Handspitzen zu treffen. Was ist das; ich kann meine Hände immer noch nicht bewegen… Die Fähre nähert sich, ich stelle mich zu den anderen Wartenden. Und während vor mir und hinter mir die Menschen beginnen, sich zu stauen, versuche ich alles, um meine Dummheit von eben wieder gut zu machen. Massieren, massieren… immer noch keine Bewegung, keinerlei Gefühl, diese beiden Klötze da sind nicht von mir. Ich bin ersthaft besorgt. Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut… Ich versuche, mir vorzustellen, wie brutal das später schmerzen wird. Kommt schon, Hände, kommt schon, ich muss am Montag wieder arbeiten, ich brauche euch… Ich kann mir dauerhafte Erfrierungen und so einen Unsinn gerade nicht leisten…
So schnell geht das mit den Erfrierungen nun auch wieder nicht… oder?
Die Fähre legt an, die Menschen drängen unter Deck. Dort ist es warm und ich setze mich an eine angeschaltete Heizung. Meine Hände kann ich wieder gebrauchen, so langsam kommt Leben zurück. Ich ziehe Mütze (eigentl. sind es zwei Mützen 😉 )Schal und Handschuhe aus. Etwas über eine Stunde bin ich über die Insel gelaufen – in etwa solange wie die anderen auch; auf der Fähre sehe ich nun teilweise dieselben Passagiere wie auf der Hinfahrt neben mir sitzen und ihre kalten Finger wärmen.
Helsinki begrüßt uns mit warmen minus elf Grad und ich spüre schon Frühlingsgefühle in mir aufsteigen. Zuallererst stolpere ich in das Zelt von heute morgen hinein und rufe klirrend nach Glögi.
„This is summer here in Helsinki, Suomenlinna is shock frosted!“ Der russische Junge lacht.
Als ich zum Hotel laufe, ist der Abendhimmel lila.
Mit diesem Beitrag nehme ich an Rosas Reisen Round-up mit, welches das Thema „Mein schönstes Erlebnis im hohen Norden (und tiefsten Süden)“ behandelt. Hier berichten Blogger von ihren Erfahrungen in den kalten Regionen unserer Erde. Schaut rein!
Oh, das ist ja wirklich traumhaft! Für solche Erlebnisse und solche Fotos hat es sich doch gelohnt, das Wohl deiner strapazierten Hände zu riskieren. Frühlingsgefühle bei minus 11 Grad? Da muss man erst mal drauf kommen 😂.
Frühlingsgefühle: es ist immer eine Frage der Perspektive… hätte auch nicht gedacht, dass ich das mal so empfinden würde 😉 Ja, es hat sich gelohnt für die Bilder, nur sollte ich just ein paar Tage später in meinem neuen Job anfangen, wenn möglich, samt Hände 🙂 alles gut gegangen
In meiner Kindheit habe ich mal minus zwanzig Grad bei uns erlebt. Ging eigentlich. Kommt darauf an, wie feucht die Luft ist und ob noch dazu Wind geht.
Am Körper friere ich nicht einmal so schlimm aber mein Gesicht müsste ich dick und fett eincremen und komplett verhüllen. Da tut Kälte richtig weh.
Liebe Grüße
Renate
Mein Gesicht schwillt da richtiggehend an. Auf Suomenlinna war es sehr windig, das kam zu den 22-23 Grad noch verstärkend hinzu 🙂
Liebe Grüße
Kasia
Liebe Kasia,
wenns ja nicht so kalt wäre…..aber die Bilder sind fantastisch! Wie im Märchen.
Liebe Grüße
Renate
Es war eisig kalt. Aber was soll ich sagen, MAN FRIERT DABEI NICHT. Das mag sich jetzt komisch anhören, aber eine Kälte von fünf bis acht Grad, die mir unter die Kleidung kriecht, finde ich weitaus unangenehmer…
Liebe Grüße
Kasia