Unser Zimmer ist im gleichen Stil eingerichtet wie die Lobby, doch als ich meinen Blick an der Decke entlang schweifen lasse, sehe ich den Zahn der Zeit. Der schwarze Kronleuchter täuscht nicht über die braunen Wasserflecken hinweg, die sich entlang der abstehenden, weiß getünchten Tapete ziehen. Das Fensterglas ist milchig und zwei der vier Scheiben sind gesprungen, das Fenster selbst lässt sich mithilfe einer Schnur-Vorrichtung anheben, die erstaunlicherweise immer noch einwandfrei funktioniert. Ein Blick aus dem Fenster offenbart graue Hausfassaden; unter uns hat jemand eine neu aussehende Laptoptasche aufs Dach geworfen und auf der anderen Seite wuseln Bauarbeiter in gelben Helmen hin und her, denn die gesamte Hausfront gegenüber ist eine einzige, große Baustelle.
Meine Freundin flattert immer noch durchs Zimmer wie ein aufgeregter kleiner Vogel, doch ich reagiere irgendwann gar nicht mehr darauf. Ihr Handy hat wohl noch kein Netz gefunden, aber ich kann da nicht helfen – und ehrlich gesagt will ich nicht mehr für alles verantwortlich sein, keine Anliegen mehr lösen. Tagelanges Organisieren, Suchen, Buchen und alle Zügel in der Hand behalten haben bewirkt, dass ich mich nun völlig ausgelaugt fühle. Meine Augen fallen zu und ich bin weg.
Als ich wieder aufwache, hat auch ihr Handy eine Netzwerkverbindung gefunden – aus dem Augenwinkel sehe ich sie aufgeregt mit ihrem Freund telefonieren. Manche Dinge lösen sich doch von alleine…
Am Abend gehen wir aus, die nähere Umgebung erkunden. Nahe der U-Bahn Station gibt es einen kleinen Market, in dem man sich mit frischen, fertig abgepackten Snacks versorgen kann wie Sushi, Sandwiches, Wraps, Smoothis… alles mundgerecht zubereitet, so, dass der vielbeschäftigte Business-Londoner sie nur noch in den Mund zu schieben braucht. Auf der Packung steht die Angabe der Kalorienmenge pro hundert Gramm und pro Packung und auch, welchen Prozentwert am Gesamtenergiebedarf das ausmacht. Herrlich!
Da die Londoner Mieten astronomisch hoch sind, sind die Wohnungen in der City in der Regel klein. Nicht immer reicht es für eine voll ausgestattete Küche, doch aufgrund der guten Versorgungslage braucht es sie auch nicht unbedingt. Die Nahrungsmittel sind darauf ausgerichtet, ohne viel Vorbereitungsaufwand verzehrt zu werden und Wraps, Suppen und Co. können sogar auf Wunsch im Supermarkt direkt warm gemacht werden. Die Portionen sind gerade mal so groß, dass man satt wird, ohne sich ins Komma zu fressen. Ich finde es herrlich, denn hier wird nicht, wie bei uns, von in Vollzeit arbeitenden Menschen erwartet, dass sie sich gefälligst zu Hause hinstellen und sich was kochen sollen, wenn sie denn gesund essen möchten. Es wird auch nicht erwartet, dass man eine Hausfrau zu Hause hat oder selbst diese Hausfrau ist.
Nur frage ich mich tatsächlich, wie die Insulaner mit dem Müllproblem umgehen, denn die einzeln verpackten, kleinen Snacks, die Plastikgabeln und -Löffel produzieren tagtäglich Unmengen an Plastikabfall. Mit einem leichten Stirnrunzeln entsorge ich jedes Mal das Plastik – Mülleimer und weg. Und dann?
Mit Snacks versorgt spazieren wir weiter. Autos, Busse und die schönen, schwarzen Taxis schießen die Straße entlang. Rote Ampeln bedeuten hier nicht viel, zumindest nicht für die Fußgänger; die Menschen haben es eilig. Sobald sich eine freie Lücke zwischen den Fahrzeugen auftut, wird diese genutzt, um die Straße zu überqueren. Der Autofahrer hupt, doch wohl eher schicksalsergeben als wütend, denn die Londoner laufen, zügigen Schrittes zwar, doch sehr gelassen, fast lasziv, weiter. Dafür sind hier Zebrastreifen nicht wegweisend, denn wer glaubt, ein Taxi oder sonstiges Fahrzeug würde an solchen anhalten, der sollte die Sache nochmal überdenken. Nein, sie halten nicht an. Kommt also ein Auto um die Ecke geschossen und du befindest dich auf der Fahrbahn, dann… lauf.
Interessant wird die Sache erst an großen, belebten Kreuzungen, vorzugsweise während der Rushhour und in der City, wenn ganze Aufläufe an Menschen an den Ampeln stehen. Diese können rot sein oder nicht; sobald alle Autos drüber sind und die folgenden noch weit weg, schauen sich die Menschen kurz an und ein ganzer Block marschiert geschlossen wie ne eins über die Ampel drüber, egal ob rot ist oder nicht. Die manchmal daneben stehende Polizei sagt gar nichts und die Autofahrerampeln sind so angebracht, dass der Fußgänger locker erkennen kann, ob die Fahrzeugen noch rot haben – und ob er noch auf die andere Seite pirschen kann.
Linksverkehr kann nicht jeder. Auch wir mussten uns erst daran gewöhnen – obwohl wir kein Fahrzeug zu steuern hatten. Dafür ist vorausschauend – vermutlich zur Sicherheit internationaler Besucher – an jedem Fußgängerübergang ein großer, weißer Schriftzug angebracht, der deutlich sagt, in welche Richtung man sich umschauen muss, wenn man denn die Straße überquert. „LOOK LEFT“. „LOOK RIGHT“. Und ein Pfeil dazu. Wie gesagt: die Autofahrer bremsen nicht.
Manchmal geben sie Gas, wenn du ihnen zu langsam bist. Soll sich nochmal einer über den deutschen Verkehr beschweren.
Der Verkehr ist immer noch dicht, Menschen kommen eiligen Schrittes von der Arbeit nach Hause, der maßgeschneiderte Anzug am Leib, das Handy in der Hand. Abgehetzt. Wir wenden uns gen Zentrum, in Richtung der Londoner City. Ich will zum Piccadilly Circus laufen, doch es sind noch drei- bis vier Kilometer dorthin.
Die Seitenstraßen von Marylebone sind hingegen ruhiger um die Zeit. Es ist ein schöner, untouristischer Stadtteil und wir betrachten in aller Ruhe die Häuser. Die typische Bauweise vieler Städte geht in die Höhe, so auch hier – jeder kleinste Raum wird genutzt, inclusive den Kellerräumen, die ihrerseits bewohnt sind. Die Kellerwohnungen sind in der Regel mit einem Geländer umgeben, in das ein abschließbares Tor eingelassen ist. Über eine Treppe geht es dann nach unten bis vor die Wohnungstür. Ich will nicht wissen, was passiert, wenn hier mal das Wasser steht. Das Abwassersystem muss funktionieren, es muss einfach.
An einer Kirche sehen wir Obdachlose sitzen. Überhaupt fallen sehr viele Obdachlose in der Stadt auf. Sie stehen im krassen Kontrast zu den elegant angezogenen Menschen, die in der Londoner City zu sehen sind, und doch gehören sie seit einiger Zeit zum Stadtbild dazu. Genauer gesagt, seit Großbritannien 2013, lange Zeit vor Brexit also, nach und nach neue Sozialreformen ins Leben gerufen hat.
Seitdem wird das Land auch als „das Armenhaus Europas“ bezeichnet. Eine Bezeichnung, die ich beim Blick auf die Straßen durchaus nachvollziehen kann. Obdachlose auf den Straßen, Obdachlose in Parks. Insbesondere der Anteil junger Menschen auf der Straße ist seitdem gestiegen. Sie haben ihr Hab und Gut bei sich, in Tüten oder Einkaufswägen, und stellen ihre Matratzen zum Schutz vor Regen in Telefonzellen. Viele übernachten in Parks und einige der Parks werden über die Nacht abgeschlossen. Zunächst dachte ich, dies geschehe, um die Obdachlosen von dort fernzuhalten, doch habe ich neulich gelesen, dass es tatsächlich auch der Sicherheit dienen kann. Manchmal kommt es nachts zu Brandanschlägen an die Menschen, sie werden einfach angezündet; auch hierzulande schon passiert. In einem abgesperrten Park sind sie sicherer.
Glücklich der, der eine Arbeit hat. Nach Feierabend gehen die Leute in Pubs, Männlein wie auch Weiblein, um Druck abzubauen und loszulassen. Vor genauso einem Pub bleiben wir jetzt stehen.
Wir, das bedeutet ich, denn meine Freundin will weiter gehen. Mit Mühe überrede ich sie, mit mit rein zu kommen, doch die ganze Pub-Atmosphäre ist ihr nicht geheuer, ich dagegen finde den Pub urgemütlich.
Getränke werden hier direkt an der Theke geholt und auch sofort bezahlt, eine Zahlung mit Karte ist in London so gut wie überall möglich. Viele Bezahlsysteme sind kontaktlos, so mir meine Visa plus Unterschrift fast schon urzeitlich und umständlich vorkommt.
Mit unseren Drinks sitzen wir drinnen in einer Nische und können so von unserer Position aus hinter einer Glasscheibe hervorragend die Leute an ihren Tischen beobachten. Die Männer kommen direkt nach der Arbeit hierher, denn anders kann ich mir nicht erklären, jeden einzelnen im Anzug, Hemd oder Sakko zu sehen. Die Anzüge sind Maßgeschneidert und es wird auch Tweed getragen und häufig auch Hemden aus bedrucktem Stoff. An jeder Londoner Ecke befinden sich die, bei uns fast ausgestorbenen, Herrenausstatter. Ich habe selten eine so gut angezogene Nation gesehen.
Meine Freundin entspannt sich, als sie auch ein paar Frauen im Pub sitzen sieht. Ich spendiere ihr einen Drink und versuche, ihr gut zuzureden. Ich möchte einen schönen Abend, der nicht von Angst und Misstrauen geprägt ist. Die Menschen hier fressen einen schon nicht.
Kein einziger Tourist weit und breit. Leute trinken und haben Spaß. Wir dann irgendwann auch. Der Bann ist gebrochen und jede Ängstlichkeit verflogen. Und auch ich bin froh, mich durchgesetzt zu haben, denn hier ist es echt schön. Doch mit Sorge denke ich an den weiteren Verlauf des Urlaubes. Wir sind so unterschiedlich, ich – offen, neugierig, frei von jeglicher Angst. Meine Freundin – eher das Gegenteil. Sie möchte nicht alles machen, was ich mache, doch etwas ohne mich zu machen, das möchte sie auch nicht. Ich will nicht alles durchsetzen müssen, das ist auch nicht Sinn der Sache und macht uns beiden keinen Spaß… Wie wird es weiter gehen?
[…] auf einen Tee in der nahe gelegenen Marokkanischen Oase hängen und auf einen Absacker in unserem Lieblingspub, bevor wir nach Hause wackeln. Es war ein langer […]
Hi Kasia,
das ist ein tolles Bild von London was Du da zeichnest. Es gibt viel schönes – aber schon länger steckt hinter der antiken Fassade auch der Geruch des Moders. Denn leider ist das aktuelle London nur noch ein Zerrbild des hippen Londons aus den swinging Sixties. Die Mietpreise sind astronomisch hoch. Studenten hocken, wie hier die rumänischen Tagelöhner, mit etlichen Personen zusammengepfercht in einer miefigen Wohnung, bei deren Zustand in Deutschland schon das Ordnungsamt eingeschritten hätte.
Auch den Zustand des/der Hotels kann ich bestätigen. Ich hatte mal beruflich in Brighton zu tun – das bekannteste ist dieser lange Steg am Meer, mit den Pavillions – da war das Hotel ähnlich. Ja, es war mehr so wie Omas Wohnzimmer, und natürlich gab es den obligatorischen Wasserkocher auf dem Zimmer, aber die Tapeten im Flur wölbten sich als würden sie Kaugummi kauen, durch den Teppich konnte man an einigen Stellen auch schon das Gewebe sehen, die funzelige Flurbeleuchtung flackerte – es wirkte eher wie eine Kulisse aus einem Gruselfilm – und der echte Horror kam beim auschecken. Das telefonieren mit meiner damaligen Freundin hat mich fast arm gemacht!
CU
Peter
Hallo Peter,
was ich an London wirklich erschreckend fand, war die hohe Zahl an Obdachlosen. Sie waren praktisch überall. Und dann die Verbissenheit der Anzug tragenden Menschen im Börsenviertel. Es ist so: entweder du kämpfst oder du fällst, und da gab es wenig, das dich auffängt. Ich habe irgendwo gelesen, dass es eine Sozialreform in GB gegeben haben soll, seitdem hat sich die Anzahl der Menschen, die es nicht geschafft haben, drastisch erhöht. Nachts werden Parks abgeschlossen, da es schon dazu kam, dass jemand schlafende Obdachlose angezündet hat.
Allerdings hat London noch immer seine hippen Ecken. Und wenn ich etwas nicht ändern kann, spiele ich Vogel Strauß und widme mich schöneren Dingen. Aber ja, natürlich hast du Recht. London hat Probleme, und wie.
Liebe Grüße
Kasia
Ich denke auch, wenn man das erste Mal irgendwo auf Reisen ist, dann will man auch begeistert sein und die guten Seiten sehen. Man WILL sie einfach sehen.
Vielleicht – und hier komme ich leicht vom Thema ab – ist das der Grund, weshalb sich die Leute das Hirn mit Formaten wie Dschungelcamp oder dem Bachelor zudröhnen. Um einfach nicht mehr an die Probleme der Welt erinnert zu werden…
Liebe Grüße
Kasia