Den letzten Kunden besucht – und ich bin frei. Frei zu tun, was ich will und mir hier und da ein wenig von der Gegend anzuschauen. Der Weg führt mich Richtung Westen, über die Berge der Eifel – der Sonne entgegen. Doch zunächst fahre ich eine ganze Weile einem Tiertransporter hinterher. Das geballte schlechte Gewissen schlägt mir entgegen in Form dieser kleinen, stilisierten Schweinchen auf orangenem Hintergrund.
Dann biegt der Transporter ab, der Weg ist frei. Vor mir – leere Straßen; ich habe selten so leere Straßen gesehen. Nur manchmal kommt mir ein Auto oder ein verloren wirkender Motorradfahrer entgegen. Links und rechts auf den grünen Hügeln breiten sich weiße, gelb-goldene und rosarote Flächen blühender Frühlingsblumen aus. Die Straße am Horizont flimmert und spiegelt die Luft und mich trägt die Musik. Was ich für einen Blitzer halte, ist nur ein Vogelhäuschen. Welch Harmonie.
Vianden ist ein wirklich kleiner Ort. Ich parke das Auto am Rande der Stadt und gehe zu Fuß in das malerische Zentrum. Schon von Weitem sehe ich das Schloss, wie es sich über der Stadt erhebt.
Vianden ist mir schon vor zwei Jahren im Gedächtnis geblieben. Damals, beim Zelten an der Prüm, hatten wir einen Abstecher in diese Gegend gemacht. Es war ein warmes Spätsommer-Wochenende und die kleine Stadt entsprechend voll, so dass wir nur kurz die Stadtmitte passierten und dann weiter, hoch zur Burg fuhren, wo wir zufällig auf eine Art (illegales) Autorennen gestoßen sind. Doch damals hatte ich mich verliebt und die Tatsache, dass wir mangels Parkplatz nicht hatten bleiben können, machte die Sache auch nicht besser.
So geistert Vianden seitdem als „noch einmal sehen“ in meinem Kopf herum und nun sitze ich entspannt am runden Tisch eines Restaurants am Ufer der Our und betrachte den feinen Sprühnebel der Fontänen, die auf beiden Seiten der Brücke in die Höhe schießen und als feiner Regenvorhang im Wind zerstöben. Ich lehne mich entspannt zurück und schließe die Augen. „Es ist ungewöhnlich, eine Dame Zigarre rauchen zu sehen.“ Sagt die junge Kellnerin, die, wie viele Menschen hier in Grenzregionen, fließend deutsch spricht. Ich verkneife mir, dass, wenn man die schicken Klamotten und die feinen Schuhe mal wegnimmt, nicht viel von „Dame“ an mir übrig bleibt…
Hier, an der Brücke steht das Victor Hugo Haus und an jeder Ecke hält die Stadt die Erinnerung an „ihren“ Schriftsteller wach. Wem Victor Hugo nichts sagt – bei Stücken wie „Les Miserables“ oder „Der Glöckner von Notre Dame“ müsste es aber klick machen. Nun ist der französische Schriftsteller in Frankreich geboren und in Paris verstorben, was hat also Vianden damit zu tun?
Der kleine Ort bot dem Dichter seinerzeit Zuflucht, als er aufgrund seiner politischen und sozialkritischen Texte in Frankreich verfolgt und aus Belgien ausgewiesen wurde. Die Texte Victor Hugos prangerten unter anderem den Staatsstreich an, mit dem sich Napoleon Bonaparte zum Präsidenten machte, wie auch die Lebenszustände der Arbeiterklasse an, dem er in seinem Werk „Les Miserables“ Ausdruck verlieh. Erst kurz vor seinem Tod, nach dem Sturz Bonapartes, kehrte er nach Frankreich zurück.
Doch ein wenig geschäftstüchtiges Kalkül ist da schon dabei, denke ich mir, wenn sich Vianden an jeder Ecke seines „Stadtsohnes“ rühmt: ein Victor Hugo Cafe, ein Victor Hugo Hotel und das dazugehörende Restaurant, an dessen Tisch ich gerade sitze, sind schon ziemlich viel Victor Hugo für so einen kleinen Ort.
Dabei hätte man es gar nicht nötig, denn Vianden verzaubert. Das Kernstück der Stadt befindet sich hier links und rechts der Brücke, doch lieber Besucher, lasse es dir nicht entgehen, auch mal tiefer in die Stadt zu tauchen und hinauf in Richtung Burg zu schlendern. Ich liebe die Details; an jedem neuen Ort, in jeder neuen Stadt sind es die Kleinigkeiten, die den Unterschied machen. An jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken in all dieser Beschaulichkeit – wenn man die Augen offen hält. So wie diese überwucherte Anhöhe hier am Rande der Stadt, auf die ich mit meinen piekfeinen Schuhen klettere, einfach nur, um zu sehen, was da ist. Und irgendwann geht es nicht weiter, doch ich finde – Blumen, ganz viele wilde Blumen, die mich wie auf einer Lichtung im Wald fühlen lassen.
Läuft man hoch zur Oberstadt, fallen die Reste der mittelalterlichen Ringmauer auf, die einst die Oberstadt umgab. Die eierschalenfarbenen Häuser, diese Farbe ist typisch für die Luxemburger Ortschaften, weisen immer mal wieder Bemalungen oder Schmuckelemente auf, die auf den ersten Blick nicht ins Auge fallen würden. Deshalb lasse ich mir viel Zeit beim Schlendern. Nachdem ich meinen Cappuccino fertig und das Eis gegessen habe, fahre ich mit dem Auto hoch und laufe zu Fuß die Oberstadt wieder herunter. Und denkt jetzt nicht, die Kasia macht es sich so einfach, denn ich muss irgendwie noch wieder zum Auto zurück 😉
Zuerst fällt aus dieser Perspektive das Schloss auf: hier, von der Oberstadt aus hat man den besten Blick, wenn man nicht unbedingt bis ganz nach oben gehen will. Getaucht in goldenes Licht bietet es ein tolles Fotomotiv, denn die Sonne steht nun schräg und die Konturen sind weich. Es ist Abend.
Das Leben spielt sich manchmal auf der Straße ab, in Form der Hausfrau, die in legerer Kleidung ihren Müll rausbringt oder dem Arbeiter, die müde die Tür zu seiner Wohnung öffnet. Eine Hauptstraße verläuft durch den Ort und der Bürgersteig ist spärlich – so teilen sich die Fußgänger die Straße mit den wenigen Autos und die Anwohner sind, sobald sie ihre Haustür öffnen, sofort mitten im Geschehen. Das haben kleine Orte so an sich – man ist nah beieinander. Doch ich lasse die Hauptstraße links liegen und laufe über Treppen und gepflasterte Wege das Wohngebiet entlang. Hier und da sehen die Häuser ein wenig zerbröckelt aus, doch die Schlösser, die die alten Scheunen zusammenhalten, sind neu. Hier, im hinteren Bereich der Stadt, ist keiner auf der Straße; allerhöchstens wundert sich der einer oder andere hinter seiner Gardine über die Touristin, die sein Haus fotografiert.
Ich betrete die Trinitarierkirche. Es ist abends halb sieben, doch zu meiner Überraschung gibt die Türklinke unter meinem Druck nach – die Kirche ist offen. Eine Kirchenmitarbeiterin macht den Altarbereich sauber. Ich sage Hallo und bleibe in der Tür stehen.
Die römisch-katholische Kirche ist klein und hat einen kunstvollen Altarbereich. Hinter den Rokoko-Hochaltar sind farbenprächtige Fenster zu sehen; das Licht glüht gefangen in dem farbigen Glas. In der Mitte des Raumes steht der Sarkophag der Maria von Spanheim, mit ihrem Hund zu ihren Füßen. Weitere Reliquien befinden sich in der Kirche und der Kapelle nebenan. Als ich um die Ruhestätte herum gehe, stelle ich fest, dass der in Stein gemeißelte Hund ziemlich schlecht getroffen wurde. Doch etwas anderes irritiert mich und nach einem kurzen Moment kann ich auch sagen, was es ist. Warum sind die Stühle alle rückwärts zum Altar gewandt aufgestellt? Ja, tatsächlich: die gesamte Kirche ist so eingerichtet, die Menschen scheinen während des Gottesdienstes die Orgel anzubeten… Ich laufe durch die Reihen, berühre die Stuhllehnen, sehe, wie hart, abgeflacht und unbequem sie doch sein müssen. Außer…
Außer es sind gar keine Stühle! – Hätte ich fast der Dame am Altar zugerufen, die wie ein Geist den Staub vom Boden zusammenkehrt. Natürlich! Die Sitzflächen sind gar keine Sitzflächen und das, was ich für Rückenlehnen hielt, dient zum Abstützen der gefalteten Hände.
Erleuchtet – im wahrsten Sinne des Wortes – verlasse ich die Kirche. Kleine Spatzen tummeln sich auf einer alten Straßenlaterne herum und nun flutet das Abendlicht gleißend die Straßen wie ein Fluss und bringt die Pflastersteine zum leuchten. Das Abendlicht ist, obwohl weicher, noch intensiver und alles leuchtet noch stärker – leuchtet noch ein letztes Mal auf.
Ich hatte ja schon in einem anderen Beitrag beschrieben, dass die Luxemburger ziemlich zügig fahren. Auf dem Rückweg nach Hause (hier: ins Hotel) habe ich – o Wunder – einen langsamen Luxemburger vor mir, der vor jeder Kurve bremst. Dafür hängt sich nach einer Weile ein schneller Luxemburger (also der Normalfall) an meine Heckklappe. Ein langsamer L. vor mir, ein schneller L. hinter mir – jeah, so macht das Fahren Spaß. Ich kann doch nicht schneller, dein Landsmann kommt nicht aus dem Knick!
Schließlich überholt er uns beide.
Wärend ich diesen Artikel gelesen habe und die Fotos gesehen habe, habe ich mich gefühlt als wäre ich im Urlaub. Danke dafür.
Lg Imelda
Sehr gerne, liebe Imelda. Das ist das Ziel gewesen – ein Bisschen Urlaub zu vermitteln 😉
Liebe Grüße
Kasia