Meine Füße schmerzen an diversen Stellen, an denen sich die Schuhe beim stundenlangen Marsch nach und nach eingedrückt haben. Ich sitze in meinem Lieblingsrestaurant, lasse mich von der seichten Musik berieseln und jeder Schluck des dunklen, tschechischen Bieres ist eine Wohltat.
Gestern, Tag zwei
Von meinem mutigen Vorhaben, meine müden Glieder morgens um sechs aus dem Bett zu hieven, blieb nur der penetrante Ton meines Weckers übrig, für den mich meine Mitmenschen im Schlafsaal mit Sicherheit verflucht hatten.
Aufstehen also um halb neun. Genau die richtige Uhrzeit, um sich in den Kampf um die wenigen noch freien Duschen zu stürzen. Am Frühstücksbuffet habe ich gerade noch Glück, denn just als ich fertig bin, bildet sich eine lange Schlange vor der Theke.
Die Altstadt ist nicht allzu voll um die Zeit und als ich so gegen halb elf durch das noch etwas verschlafene Prag schlendere, habe ich – o Wunder – Platz, mich zu bewegen. Einzig die vielen geführten Reisegruppen, die ihren Regenschirm haltenden Guides folgen wie Entlein der Entenmutter, bevölkern die Straßen. Der Anblick zaubert mir sofort ein breites Grinsen ins Gesicht. Ob die Menschen wissen, wie ulkig das aussieht?
Heiter stimmt mich auch der schwache Sonnenschein, der sich über der Stadt ausbreitet sowie der Duft nach Trdelnik, der aus den Ecken und Buden quillt. Auf Schritt und Tritt treffe ich auf Souvenirgeschäfte mit Babuschkas, Cannabisbier, kleinen Absinthfläschen und allerlei Krimskrams.
Ich lasse mich treiben ohne festes Ziel, staune über all die kleinen, engen Gassen der Stadt, die teilweise mit sperrangelweit offenen Toren und Pforten versehen sind und oft abseits der Touristenwege liegen. Kaum jemand verirrt sich hier hinein, dabei gibt es in diesen stillen Ecken schmucke Restaurants und Cafes zu entdecken. Neben einem Harley-Shop schlüpfe ich in so eine Gasse und kann kaum glauben, dass es sich wirklich um eine richtige Straße handelt, mit einem regulären Straßenschild versehen. Sie führt unter einem Häusersegment hindurch und links und rechts sind offene Türen zu Restaurants und Geschäften zu sehen. Außer mir ist nur ein Franzose mit seiner kleinen Tochter da. Das Mädchen schmollt und will nicht weiter gehen; geduldig wartet der Vater und redet auf seine Kleine ein.
Auf dem großen Ostermarkt am Altstädter Ring schlendere ich an den Verkaufsständen vorbei. Die bunten Bänder des Maibaums flattern im Wind und der Platz liegt, im Gegensatz zu gestern, in Sonnenlicht getaucht da. Der kräftige Rauch der Holzkohle vor einem Stand, der Selbstgeschmiedetes anbietet, breitet in mir ein Gefühl von Zuhause aus, erinnert mich an den großen, mit Kohle beheizten Ofen, mit dem mein Opa im Winter immer die Wohnung heizte. Auch hier sehe ich mich nach den Weidenruten für Zoe um, doch auch hier gibt es sie nirgends zu kaufen. Oben auf der Bühne sehe ich, wie ein paar Leute aus der Folklore-Musikgruppe dabei sind, solche Dinger zu basteln.
Auch heute ist eine Polizeistreife zu Fuß unterwegs und patrouilliert den Markt. Überall, wo es Touristen gibt, sehe ich auch Polizei entlang schlendern, was mir ein angenehm sicheres Gefühl vermittelt.
An der Kirche links vorbei komme ich an einen kleinen Platz, umringt von alten Häusern, Restaurants mit tschechischer Küche und Geschäften mit böhmischem Glas. Einige morgentliche Besucher sind auch hier unterwegs, staunen und fotografieren, doch es sind längst nicht so viele, wie es später am Nachmittag noch sein werden. Hier bleibe ich für die nächste Stunde auf einer Bank sitzen und schreibe. Und als ich schon fast fertig bin, tropft ganz klein und harmlos der erste, winzige Regentropfen auf die offene Seite meines Notizblocks.
Die Steampunk Bar
Ich lande in der Steampunk Bar in der Nähe vom Pulverturm. Na ja, landen trifft es nicht so ganz; ich habe schon gezielt danach gesucht. Vor der Tür begrüßt mich ein aus Schrauben und Metall gezimmertes Seepferdchen, das die Happy-Hour Angebote hält. Und als ich drinnen bin, weiß ich nicht, wohin zuerst mit meinen Augen. Zu dieser frühen Uhrzeit ist die Bar noch fast leer und so kann ich unbehelligt staunen und fotografieren. Die Wände haben einen Verkleidung aus Zahnrädern, Gewinden und Schrauben ebenso wie die Theke. Gestalten aus Metallteilen, innen mit kleinen grünen oder roten Lämpchen beleuchtet, starren mir entgegen, die Lampe an der Decke ist ein großer Oktopus und das Zahnradmosaik an der Wand hinter mir gibt ein surrendes Geräusch von sich, da sich die Rädchen alle gleichzeitig drehen. Der Barkeeper scheint erstaunt, dass ich nur eine Coke will, hat er doch auch viele leckere Longdrinks anzubieten. Aber für Umdrehungen ist es mir um halb eins noch eindeutig zu früh.
Hier bleibe ich länger. Die Musik, bestehend aus 60er und 80er Rock, passt auf angenehme Weise zur Einrichtung. Oft wippe ich mit dem Kopf zum Takt hin und her und den anderen Gästen ergeht es nicht anders. Die coole Stimmung überträgt sich auf alle.
Als ich wieder draußen bin, hat sich der Himmel endgültig zugezogen und der zweite, feine Regentropfen fällt wie zufällig auf die Stadtkarte auf meinem I-Pad. Ich bewege mich am Pulverturm vorbei in Richtung Karlsbrücke und stoße wie rein zufällig auf das Relief-Restaurant. Dies war auch die Empfehlung einer Freundin und ich hatte vor, demnächst danach zu suchen. Vor dem Lokal steht ein kleiner, quirliger Tscheche und mit einem lustigen Grinsen über beide Ohren verteilt er Restaurantflyer. „Wunderbar!“ Rufe ich. „Das Lokal hat mir eine Freundin empfohlen, ich habe mich schon danach umgeschaut.“ Der Mann spricht drei Sprachen und schon bald einigen wir uns auf polnisch.
Zunächst will ich aber das Sex Machines Museum besuchen, ehe es dort zu voll wird.
Prag ist eine wunderbare Stadt, um sie zu Fuß zu entdecken. Die kleinen Gassen laden zum Erkunden ein und es gibt nichts Schöneres, als sich absichtlich darin zu verlieren und sich treiben zu lassen. Auf diese Weise bin ich wie von selbst auf die meisten interessanten Dinge gestoßen, die ich früher oder später anzusteuern vorgehabt hatte.
Doch Prag ist mit seinen engen Gassen und den vielen Menschenströmen nur bedingt dafür geeignet, sich zügig und gezielt vorwärts zu bewegen. Wenn du gezielt nach etwas suchst, macht Prag dich fertig. Wenn es zudem noch regnet, umso mehr, denn obwohl die Altstadt doch sehr zusammengerückt und mit vielen Cafes gesäumt ist, so gibt es nur wenige überdachte Stellen, an denen man Schutz finden könnte.
Und so dränge ich vorwärts, verlaufe mich, versuche, den Menschenmassen irgendwie aus dem Weg zu gehen, die wie eine Woge über mich hereinbrechen. Und wie ich so laufe, tausende trabende Füße vor mir, muss ich unwillkürlich an den Ausspruch meiner Oma (Gott habe sie selig) denken, mit der ich öfters auf dem örtlichen Markt in der polnischen Kleinstadt Blonie unterwegs war. Da liefen wir auch inmitten einer Menschenmenge und irgendwann sagte sie mir halblaut: „Weißt du, Kasia… eigentlich mag ich kein großes Gedränge. Wenn ich die Menschen so vor mir sehe mit ihrem Schneckentempo, dann würde ich ihnen allen am liebsten in die Fersen treten, damit sie auseinander rennen…!“
Diese und ähnliche Erinnerungen kommen nun in mir hoch und die Versuchung ist groß, die heimliche Idee meiner Oma just in die Tat umzusetzen. Ich ziehe den Kopf ein, um mich ein wenig vor dem Regen zu schützen, der nunmehr unablässig vom Himmel strömt, bin hungrig und meine Toleranzschwelle ganz unten; innerlich verfluche ich all die anderen, die mir mit ihrem langsamen Geschlendere gehörig auf den Geist gehen.
Irgendwann, nach einer langen Tour für eine verhältnismäßig kurze Strecke muss ich enttäuscht feststellen, dass ich zu spät bin: das Museum ist schon im Eingangsbereich brummend voll. Also gehe ich unverrichteter Dinge wieder zurück zum Relief. Keine Sex Machines für Kasia.
Restaurant Relief
Der lustige Tscheche erkennt mich sofort wieder und ich bekomme eine kurze Führung durch die Gewölbe der ehemaligen Kreuzherrenkirche geboten. Das Relief-Restaurant ist insofern eine tolle Adresse, da es sich im Inneren eines historischen Kellers befindet, der im 13 Jahrhundert dem Ritterorden der Kreuzherrn mit dem Roten Stern gehörte. Teilweise ist die sakrale Ausstattung noch erhalten; so stehen noch Ikonen in Fensternischen, Kerzen und Gebetsbücher geben den Räumen eine besondere Stimmung.
Die tschechische Küche ist lecker und deftig und wer wie ich viel zu Fuß unterwegs ist, darf sich auch mal was gönnen. So gönne ich mir eine geschmorte Entenkeule mit Knödeln und Rotkraut, dazu ein großes, dunkles tschechisches Bier. Meine anfänglichen Bedenken waren übrigens unnötig, denn hier, wie beinahe überall in Prag, kann man seine Rechnung mit Kreditkarte begleichen.
Als ich gesättigt und zufrieden draußen bin, habe ich endlich wieder das Gefühl, mich mit einem Hungrigen unterhalten zu können (altes, polnisches Sprichwort). Und nun wird es wieder Zeit für leckeren Absinth! Diesmal in der zweiten Prager Absintherie.
Absintherie am Franz Kafka Platz
Die Bar nimmt an diesem Abend keine Kreditkarte; vielleicht gibt es technische Schwierigkeiten (Nur Cash, steht in großen Lettern an der Tür).
Die Inneneinrichtung gefällt mir sofort: Alles ist in diesem schönen Giftgrün gehalten, auf einem großen Wandgemälde verführt die Grüne Fee Van Gogh und andere Berühmtheiten ihrer Zeit und neben der Tür sitzt ein Skelett, eine Anspielung auf die Absinth-Leichen, mit einer getrockneten Rose zwischen den Zähnen. Hier nimmt man die Sache mit der Beratung auch erst, denn der Barkeeper erklärt mir genau, wie ich mir meinen Drink zuzubereiten habe.
Als ich weiter laufe, ist der Himmel wieder klar.


Prager Altstadt bei Nacht
Es hat aufgehört zu regnen und die wenigen Wolken haben die rosa Färbung des Sonnenuntergangs angenommen. Glänzende Straßen spiegeln die Lichter der Stadt und die Karlsbrücke ist nicht mehr so voll wie sonst. Gemütlich schlendere ich zur anderen Seite der Altstadt, während sich der Abend über der Stadt senkt. Glänzend herausgeputzte Oldtimer stehen am Straßenrand bereit jeden, der möchte, über das Kopfsteinpflaster durch die Stadt zu kutschieren; lustlose Fahrer sitzen desinteressiert drinnen und rauchen.
Meine vage Idee, am heutigen Abend bis zur Burg hoch zu laufen verwerfe ich relativ schnell. Erleuchtete Bohemien Cafes laden links und rechts zum Bleiben ein. Bars locken mit Musik und an der John Lennon Mauer hat sich eine Schar Touristen aus aller Welt versammelt. Meine Hoffnung, diesen Ort für mich selbst zu haben, zerstreut sich in der Abenddämmerung, wie im Übrigen alle Hoffnung, irgend einen Ort in Prag für sich selbst haben zu können. Alle schönen Orte auf dieser Welt sind hoch begehrt und frequentiert, genauso wie all die schönen Frauen, fällt mir der höchst unpassender Vergleich ein.
Die beste Zeit abends, um die Karlsbrücke zu besuchen, ist in etwa die kurze Zeitspanne zwischen halb acht und acht, wenn die meisten Besucher, müde vom Sightseeing, in die umliegenden Lokale einkehren. So ist relativ wenig los, als ich später wieder über die Brücke gehe. Sie ist mit Laternenlicht beleuchtet, ebenso wie die ganze Stadt. Bunte Lichter spiegeln sich im Wasser der Moldau und ein Blick zurück enthüllt die nächtliche Schönheit der Altstadt und der Burg; einer Stadt voller Lichter. „Schau mal.“ Sagt eine Frau zu ihrem Mann. Der dreht sich um: „Hammergeil.“ Die Dunkelheit eröffnet einen völlig neuen Blick auf die Stadt und enthüllt Details, die mir bei Tageslicht nie aufgefallen wären wie diesen schreienden Gefangenen im Sockel einer Heiligenstatue oder die kleinen Lichter an der Turmspitze der Kirche. Gebäude erstrahlen bei Nacht in einem neuen Glanz, bislang unbemerkt gebliebene Kontraste werden sichtbar.
Ich bleibe auf der Brücke stehen, an einer der vielen Heiligenstatuen, und schaue hoch zur Altstadt. Prag ist wunderbar, Prag ist schön. Das ist der Moment für eine Zigarre. Das ist ein denkwürdiger Augenblick und ich bin geflasht von der nachterleuchteten Altstadt. Meine Zigarre schmeckt nach einem Mix aus Erdbeere und Black Opium (oder was man sich so als Unwissender unter „Opium“ vorstellt…). Besucher schlendern entlang über die nassen Pflastersteine. Die Luft ist kristallklar nach dem Regen und so mancher stellt sein Stativ auf der Brücke auf, um all die Lichter einzufangen.

Als ich wieder in Richtung Hostel gehe, bin ich überrascht, wie viel auf den Straßen noch los ist. Ich hatte mit halb leeren Gassen gerechnet, doch so einige sind noch unterwegs. Es ist abends halb zehn, der Ostermarkt hat seine Bürgersteige hochgeklappt und auch der riesengroße Eisbär hat sich in den Feierabend verabschiedet. Im Hostel lege ich mich sofort schlafen. Der lange Tag hat mich müde gemacht und am nächsten Tag werde ich früh aufstehen, denn um acht geht mein Zug nach Kutna Hora, dem kleinen Ort circa 60 km von Prag entfernt, der unter anderem für seine Knochenkapelle berühmt ist.
Hallo Kasia,
ich habe gerade deinen Prag-Bericht gesehen. Wir waren mit einem Busunternehmen dort und waren insofern ein bisschen das Programm gebunden. Trotzdem waren wir auch zu Fuß unterwegs. Einmal sind wir von der Universität immer der Moldau entlang bis zur Karlsbrücke gelaufen. Von dort gings dann in die Altstadt. Altstädter Platz, Wenzelsplatz usw.
Wir haben natürlich noch mehr angeschaut. Prag hat mir sehr gut gefallen. Irgendwann möchte ich mal wieder hin. Bei uns gibt es aber ein Hindernis mit der Sprache: Keiner von uns kann englisch.
Liebe Grüße
Harald
Hallo Harald,
in Prag wird zum Teil auch deutsch und russisch gesprochen 🙂 Es ist eine Stadt, die ich gut und gerne nochmal besuchen könnte; allein schon wegen der Destillerien und Aufgrund der Tatsache, dass man sich in so kurzer Zeit längst nicht alles angeschaut haben kann. Da gibt es so viele versteckte Ecken in der Altstadt, Kirchen, Synagogen, von der Neustadt ganz zu schweigen. Prag ist faszinierend.
Liebe Grüße
Kasia