Es ist eine warme, eine sehr warme Zeit in Hochsommer. Die Luft flimmert in der Ferne über dem Asphalt und all die Bäume und Sträucher färben sich gelb und braun. Die Landschaft sieht aus, als wäre der verfrühte Herbst eingebrochen, nur die täglichen Temperaturen von 36 und mehr Grad passen nicht dazu. Die Landschaft dörrt aus.
Inmitten der ausgedörrten Landschaft, in einem kleinen, sehr aufgeheizten Vorort von Mannheim krieche ich morgens um sechs auf allen Vieren durch unser Badezimmer mit einem Putzschwamm und einem scharfen Reiniger in der Hand und versuche, die staubigen Stellen hinter der Waschmaschine zu erreichen. Der Putz-Marathon läuft bereits seit gestern; Spinnen, die in den Ecken lauern, werden entweder zermatscht oder eingesaugt, denn heute mache ich keine Überlebenden.
Irgendwann vor langer, vor sehr langer Zeit, als es mit der Political Correctness noch nicht so weit her war, hatte ich irgendwo in einem lokalen Klatschblättchen gelesen, dass die landläufige Meinung über polnische Frauen (Achtung, hier öffnet sich gerade eine große, schwarze Tasche gespickt mit Klischees, bitte ein großes Augenzwinkern bereithalten…) ist, sie seien entweder als Putzfrauen oder als Prostituierte in Deutschland unterwegs (was übrigens nicht stimmt, denn viele verdingen sich auch als Pflegekräfte…). So, würde man diesen Gedanken jetzt zu ende spinnen, dann gehörte ich mit ziemlicher Sicherheit zu der Putzfrauen-Sparte, denn, wie ich jetzt beim Auswringen des Lappens feststelle: einfach „kurz durchwischen“ ist bei mir nicht. Denn – ähnlich der Reise-Bucket List – je länger ich putze, umso mehr ungeputzte Ecken entdecke ich dabei. Deswegen überlasse ich solche Dinge gerne Stefan – Männer haben oft die gute Eigenschaft, das Große Ganze zu sehen, ohne sich in Details zu verlieren.
Und der Grund, weshalb ich hier auf allen vieren Krieche, liegt schon ein paar Wochen zurück. Es ist eine einfache Mail:
„Hey, ich habe dich und deinen Blog gesehen. Sag mal, kennen wir uns nicht?“
Es war meine Patentante, die mir schrieb und mit der ich seit über zwanzig Jahren den Kontakt verloren hatte. Sie hatte mich auf den Bildern auf meinem Blog erkannt und übersetzte sich die Reise-Stories vom deutschen ins polnische mithilfe einer App. Und einige Mails und Wochen später erwarte ich nun ihre Tochter, die ich zuletzt als Kleinkind gesehen hatte, bei uns zu Besuch.
Ich hole sie vom Busbahnhof ab. Sie schreibt, sie trägt einen weißen Hut. Am Tor 3 stehen zwei Mädchen im Alter von circa zwanzig, doch nur eine, ein zierliches Persönchen, schaut mich mit ihren großen, unglaublich hellblauen Augen erwartungsvoll an. Während wir uns in der prallen Sonne an Menschengruppen vorbei quetschen und zur Tiefgarage laufen, schaut sie mich immer wieder kurz von der Seite an. Neugierig? Erstaunt? Ich weiß es nicht.
Später am Abend zeigen wir ihr Heidelberg. Wir parken das Auto am Ufer des Neckar, auf der gegenüberliegenden Seite vom Heidelberger Schloss, dann schlendern wir langsam über die Alte Brücke in Richtung Altstadt.
Aneta studiert in Polen Fotografie. Auch jetzt bleibt sie immer wieder stehen und nimmt ihre übergroße Kamera in die Hand, die um ihren zierlichen Hals hängt. Es ist, als würde ich mich selber beim Sightseeing beobachten; immer wieder entdeckt sie etwas neues und spannendes, immer wieder interessante Motive und ich beobachte sie dabei, während ich langsam hinter ihr herlaufe. Sei es das Schloss, das in einem schönen Licht erscheint, sei es die lange Gasse im Gegenlicht, sei es eine verschnörkelte Fassade oder eine Wandmalerei. An einer Stadt, die ich schon kenne, entdeckt sie ständig neues. Es ist schön, das alles mit ihren Augen zu sehen.
Währenddessen läuft ein verschwitzter, müder Stefan in einigem Abstand hinter uns. Er kennt es schon von mir, dieses ständige Gucken und Stehenbleiben; nun zündet er sich im Schatten des Torbogens eine Zigarette an. Zwei von der Sorte; kann ich in seinem Blick lesen.
Heidelberg ist eine unheimlich spannende Stadt. Welch Kontraste, denke ich mir; auf der einen Seite sieht man Frauen in Abaya und einem schwarzen Schleier über dem Gesicht, auf der anderen Seite paradieren junge Mädels in BH-ähnlichen Tops aus Spitze und ultrakurzen Minis über die Steine des Pflasters. Sie treffen hier als Touristen zusammen und keiner stört sich an dem anderen – eine Welt in klein, die ich mir in groß wünschen würde.
Wir lassen uns in der langen Altstadtgasse auf einer Bank im Schatten der Bäume nieder. Hundert Meter weiter spielen zwei Jugendliche Gitarre, dazu läuft Gesang vom Band. Glücklich fange ich zur Musik zu wackeln an; nach einem kurzen Seitenblick auf Aneta lasse ich es jedoch bleiben.
Aneta kann nicht hören. Von der Geburt an. Dadurch ist sie sehr aufmerksam geworden und hat eine beachtliche Beobachtungsgabe entwickelt. Da die Verständigung mit anderen Menschen wohl nicht immer einfach gewesen sein musste, war wohl der Grund für ihre direkte, warme Offenheit; sie ist kein Mensch, der eine Schicht aus bedeutungslosen Floskeln vor sich trägt. Und zielstrebig – bereits beim mailen habe ich gemerkt, dass sie genau weiß, was sie will.
Wir verständigen uns anfänglich über eine Mischung aus Lippen lesen und Geschriebenem und zu diesem Zweck gibt sie mir immer wieder ihr Smartphone zum Tippen in die Hand, welches ich irgendwann in ein kleines, analoges Notizblock tausche. Doch inzwischen habe ich mich an ihre Art zu sprechen gewöhnt und verstehe sie immer besser. Aneta weiß, dass sie ab und zu jemanden nicht versteht, schrieb mir meine Mutter; das sei alles kein Thema. Und während wir durch Heidelberg laufen, entspanne ich mich. Wir kommen ja miteinander doch ganz gut zurecht.
Wie es wohl ist, frage ich mich; ein so intelligenter Mensch wie Aneta hat sicher tausend Gedanken in seinem Kopf – Gedanken, die oft nur in der Schriftform hinausgelangen können. Geräusche – vermisst man etwas, das man nicht kennt? Oder ist es dann vielmehr etwas Abstraktes? Ab wann bemerkt ein Kind, dass es sich von seinem Umfeld unterscheidet? Dass da wohl noch was anderes ist, das die Menschen „Klänge“ nennen?
Zurück zum Auto laufen wir am Neckar entlang. Ein Partyboot bereitet sich zur Abfahrt vor. Auf der Brücke machen Menschen Selfies, während unten Kanufahrer langsam über die in rosa Licht getauchte Oberfläche ziehen. Wir wollten noch hoch zum Heidelberger Schloss, aber es ist schon spät. „Was ist daran besonders.“ Fragt Aneta. „Das Schloss habe ich ja schon im Kasten.“ Doch als ich ihr erkläre, dass man von da oben über die ganze Stadt blicken kann, kriegt sie glänzende Augen. „Können wir vielleicht doch ganz kurz mal hin?“ Ich schmunzle. So „ganz kurz“ wird das nicht werden, doch ich will das Mädchen glücklich machen. Also fährt ein seufzender Stefan rauf auf den Berg, während die Sonne dramatisch rot untertaucht.
Kurve um Kurve geht es auf und wir versuchen, das Schloss noch zu erreichen, ehe die rote Kugel in den Neckar plumpst. Stellenweise sieht es aus, als hätte jemand über dem trockenen Laub auf dem Boden purpurrote Seidentücher ausgebreitet, als der kalte Schein zwischen den Bäumen auf die Erde trifft. Die Strahlen breiten sich hinter einem Hügel aus, durch die kleinen Wölkchen am Himmel nur noch verstärkt. Von der Rückseite über die Königlichen Gärten gelangen wir zum Schloss.
Als wir oben ankommen, sind davon nur noch zarte Pastelltöne übrig. Vor uns breitet sich, in einem einzigartigen Panorama vereint, das Heidelberger Schloss und die gesamte Stadt aus, mit seinem Fluss wie mit einer Schleife verziert, den Brücken und den sanften Hügeln am Horizont. Schon gesehen, doch immer wieder einmalig. Unterhalb des Aussichtspunktes grasen zwei braune Rinder.
Am nächsten Morgen rase ich über die fast leere Autobahn, um den Flieger nach Warschau zu erwischen. Aneta sitzt neben mir und lässt sich nichts anmerken und ich frage mich, ob sie mitbekommen hat, wie die Geschwindigkeitsanzeige gen zweihundert klettert. Würde man heutzutage noch indianische Namen vergeben, hätte meiner wahrscheinlich „Man-nannte-sie-Bleifuß“ gelautet. Madame hat verhandelt, um länger schlafen zu können – und hat sich durchgesetzt, nun versuche ich, die Zeit aufzuholen. Der Frankfurter Flughafen ist kein kleiner Regionalflugplatz; das hätte ich besser wissen müssen.
Doch als wir eine Stunde vor Abflug ankommen, geht alles doch recht schnell. Die Lufthansa-Dame schickt uns zu einem Schalter, an dem ein polnischer Mitarbeiter sitzt, der daraufhin seinen Platz verlässt und das Mädchen zur Sicherheitskontrolle begleitet. Sie kriegt ihren Flieger. „Doch ich hatte Angst.“ Schreibt sie mir später.
„Ja“, schreibe ich zurück, „das nächste Mal hören wir auf Tante Kasia…“
[…] die Aufnahme entstand, traf ich meine neu erworbene Kusine zu einer Streetart-Tour durch Straßburg. Aneta* studiert in Polen Fotografie und macht hier vor […]