Dezember 2016,
kurz vor Weihnachten
Wir sind unterwegs nach Erfurt und ich bewundere aus dem Autofenster die mysteriöse Nebellandschaft. Teils scheint die Sonne durch die Nebelschleier, teils blendet uns die nasse Straße mit ihrem Widerschein. Das geht so den ganzen Weg hindurch, immer wieder variiert die Kulisse – das Schauspiel scheint kein Ende nehmen zu wollen. Ich bin fröhlich, entrückt, fühle mich leicht, beinahe glücklich. Doch dann fragt Stefan etwas, woran ich die letzten Stunden überhaupt nicht mehr gedacht hatte, etwas, das mich sofort wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt.
Er fragt: „Wie war die Arbeit?“
„Wie war die Arbeit? Hast du dein Anliegen ansprechen können?“ Nein, das hatte ich nicht. Und überhaupt wollte ich nicht mehr daran denken müssen; einfach nur träumen, mehr nicht. All die Geschehnisse der letzten Wochen nagen an mir wie ein Rudel hungriger Ratten; drücken unbewusst zu, sind immer präsent, irgendwo in der Magengegend. Wir lassen das Auto am Stadtrand stehen und fahren mit der Bahn in die Innenstadt bis zum Weihnachtmarkt vor. Inzwischen versuche ich wieder, gute Miene zu machen. Es bringt nichts, sich Gedanken zu machen, und wenn ich nie gut im Weglächeln war; in diesen Zeiten habe ich es gelernt.
Die Stände des Erfurter Weihnachtsmarktes sind wie ein Gürtel um den Erfurter Dom drapiert. Das Wetter ist so la la, die Sonne mag sich scheinbar nicht mehr zeigen. Dafür gibt es Alkohol – in Hülle und Fülle; Glühwein in allen Geschmacksvarianten. Mag haben… denke ich mir und ziehe los. Doch ein Blick auf die Preise ließ mich nochmals überdenken, ob ich das denn wirklich „haben mag…“
Wir schlendern ein wenig und begeben uns dann zu der hohen Domtreppe, die immerzu von Menschen erklettert wird. Wir steigen auf. Drehen uns auf halber Höhe um. Hm, von hier oben kann man den Weihnachtsmarkt in all seiner Größe betrachten. Wie ist es dann erst von ganz oben…?
Von ganz oben sehen die kleinen Hütten wie ein Zeltlager aus, dazwischen drängen sich die Menschen wie kleine Figuren einer Modelllandschaft. Nur das Riesenrad ragt empor. Im Inneren selbst – ehrfürchtiges Gedränge. „Bitte nehmen Sie Ihre Nikolaus-Mützen ab.“ Weist ein Schild den Besucher an, welches ich zunächst für einen Scherz halte. Doch nein, die meinen das ernst; Eine Weihnachtsmann-freie Zone wird ausgerufen.
Wir setzen uns in die hölzerne Bankreihe und bewundern den wundervollen, geschnitzten Altar. Eine Weile sitzen wir da und versuchen, die Stimmung auf sich wirken zu lassen. Der Dom ist beeindruckend. Auch mit den vielen Menschen innen drin. Doch hinter den Mauern des Doms verbirgt sich das wirkliche Highlight des Erfurter Weihnachtsmarktes – seine mittelalterliche Variante!
Zunächst beobachten wir das Geschehen von oben von der Brüstung aus, bevor wir uns nach unten ins Getümmel trauen. Verkleidete Menschen, Ausrufer und Märchenerzähler, eine seltsame Sprechart… Ich fühle mich auf Anhieb wohl. „Hey, ich weiß, was dir fehlt…“ Sagt der blonde Mann am Schupfnudelstand, in dessen Richtung ich seit geraumer Zeit hungrig schiele. „Dir fehlen die besten Schupfnudeln der Stadt!“ Ja… genau daran habe ich auch gedacht. Serviert werden diese mit Sauerkraut und Speck; ich trinke dazu eine Glühwein-Orange-Variante.
„In einer halben Stunde wird ein Märchen erzählt! Märchen um zwei an der großen Treppe!“ Ruft ein gewandeter Mann, der gerade an meinem Stehtisch vorbei läuft. Ein Märchen? Klingt nach Spaß… Zur angesagten Zeit eile ich ein wenig atemlos zur Treppe hin, schiele dabei nach Stefan, der sich aus unerfindlichen Gründen irgendwohin verabschiedet hat. Das Märchen beginnt gerade: Das tapfere Schneiderlein. Die Statisten geben alles; und für Nebenrollen wie Bäume usw. muss das dankbare Publikum herhalten. Hinter mir steht eine Frau mit einer Trommel da und trommelt im Takt zum Redefluss des Erzählers.
„Hey, ich sage es dir zum letzten Mal, hör sofort damit auf!“ Ruft dieser das dritte oder vierte Mal in Folge in ihre Richtung.
„Jaa…“ Sagt sie schmollend. Doch obwohl die Begleitmusik offensichtlich nicht zur Show gehört, beginnt sie nach ein paar Minuten aufs Neue.
„Die Trommel könnte ich ihr grad über den Kopf ziehen.“ Sagt Stefan, der in der Zwischenzeit wieder neben mir aufgetaucht ist. Doch die Musik stört mich weniger; es ist vielmehr das lautstarke Geschwätz der Dame mit ihrer Freundin. Das gehört ebenfalls nicht zur Show.
Das tapfere Schneiderlein (Gebrüder Grimm)
Es war einmal ein Schneiderlein, das kaufte ein viertel Pfund Mus und bestrich damit sein Brot. Während er fleißig weiter nähte und sich schon auf das köstliche Mahl freute, machten sich einige Fliegen daran zu schaffen. Der Schneider nahm den nächstbesten Lappen und erschlug die vorwitzige Gesellschaft. Als sich seine Wut gelegt hatte, betrachtete er das Ergebnis: Da hatte er wahrlich sieben Fliegen gleichzeitig erschlagen! Das sollte die Welt erfahren! Rasch fertigte er sich einen Gürtel an, auf den er gut lesbar die Worte “Sieben auf einen Streich!” aufstickte. Tollkühner Held, der er nun war, beschloss er in die Welt zu ziehen und weitere Abenteuer zu vollbringen. Als Wegzehrung steckte er sich einen alten Käse in die Tasche, zu dem sich später noch ein Vogel gesellte, den er auf dem Wege fand.
Schon bald stellte sich dem Schneiderlein ein Riese in den Weg. Der Riese las verwundert die Gürtelaufschrift und dachte, der Schneider habe sieben Kämpfer erschlagen. Um ihn zu prüfen, nahm er einen Stein vom Wegesrand und zerdrückte den mit bloßen Händen. “Tut es mir nach”, forderte er das Schneiderlein auf. Das Schneiderlein zog heimlich aus seiner Tasche den Käse und zerdrückte ihn in der Hand. Da nahm der Riese einen zweiten Stein und warf ihn so hoch, dass man ihn mit bloßen Augen nicht mehr erblicken konnte. Drauf zog der Schneider den Vogel aus der Tasche und warf ihn hoch in die Luft, sodass er ihren Blicken entschwand. Nach einer dritten Prüfung lud der Riese ihn zur Nacht in seine Höhle ein. Er wies dem Schneiderlein ein Bett zu; diesem aber schwante Böses, sodass er sich heimlich eine andere Lagerstätte suchte. Und er hatte gut daran getan, denn des Nachts schlug der Riese mit einer großen Eisenstange das Bett des Schneiderleins entzwei.
Das Schneiderlein schlich sich heimlich davon und gelangte an den Hof eines Königs, der ihn sofort in seine Dienste nahm. Aus Angst vor einem solch tapferen Helden baten aber einige seiner bewährtesten Krieger ihn um Entlassung. Der König suchte nach einer Möglichkeit, den vermeintlichen Helden wieder loszuwerden. Er gab ihm zur Aufgabe, zwei Riesen zu töten und versprach ihm zur Belohnung seine Tochter und das halbe Königreich. Der Schneider zog los und fand die beiden Riesen im Schlaf. Er kletterte auf einen Baum und bewarf einen der Riesen mit Kieselsteinchen, die er sich zuvor in die Taschen gesteckt hatte. So unsanft geweckt gerieten die Riesen in Streit, schließlich in einen Kampf, bei dem sie einander töteten. Der Schneider kehrt an den Königshof zurück und verlangte seine Belohnung. Doch der König bereute sein Angebot und stellte dem Schneiderlein eine zweite Aufgabe. Er verlangte, dass das Schneiderlein im Wald ein wildes Einhorn einfangen sollte. Das Schneiderlein zog also in den Wald und traf sobald auf das Einhorn, dass wütend umher sprang. Als das Tier auf das Schneiderlein zu rannte, um es mit seinem Horn aufzuspießen, sprang der clevere Gesell behände zur Seite und das Einhorn rammte seinen Kopf gegen den Baum, der hinter ihm gestanden hatte, und blieb darin stecken. Das Schneiderlein aber legte dem Einhorn ein Seil um den Hals und führte es zum König. Dieser wollte ihm jedoch immer nicht seine Tochter zur Frau geben und verlangte schließlich eine dritte Heldentat. Ein gefährliches Wildschwein trieb im Wald sein Unwesen und hatte den Jägern des Königs schon so manche Verletzung eingebracht. Der König hieß das Schneiderlein das Wildschwein einzufangen. Und wieder konnte das Schneiderlein auf seine pfiffige Weise die Aufgabe lösen, indem er vor dem rasenden Wildschwein schnell in eine nahegelegene Kapelle lief und aus einem Fenster wieder hinaussprang. Nun musste das er nur noch die Türe der Kapelle zuschlagen und das Tier war gefangen, denn das träge Wildschwein konnte ihm nicht durch das Fenster folgen. Schließlich blieb dem König nichts anderes übrig, als ihm seine Tochter zur Frau und ein halbes Königreich dazuzugeben.
Nachdem das Schneiderlein auf diese Art zum König geworden war, geschah es eines Nachts, dass seine Frau neben ihm erwachte und ihren Gemahl im Schlaf sprechen hörte. An seinen Worten erkannte sie, dass es sich um einen armen Schneider handeln musste. Als sie dies dem König berichtete, wurde beschlossen, den Schneider zu töten. Doch ein Angestellter des Königs warnte den Schneider, sodass er sich durch einen letzten Trick aus der großen Gefahr retten konnte. Er ging wie gewöhnlich mit seiner Frau zu Bett und stellte sich schlafend. Seine Frau, die Königin, schlich sich daraufhin aus dem Bett, öffnete die Tür und legte sich wieder nieder. Das Schneiderlein, das wusste, dass draußen vor der Tür die Soldaten des alten Königs darauf lauerten ihn totzuschlagen, begann wie im Traume zu reden. “Ich habe sieben auf einen Streich erschlagen, zwei Riesen getötet, ein Einhorn gezähmt und ein Wildschwein eingefangen! Warum sollte ich also Angst vor denen haben, die draußen vor der Kammer warten?” Da bekamen die Soldaten große Angst, flohen hinaus und fortan wagte keiner mehr, das Schneiderlein anzurühren. Und so blieb es bis an sein Lebensende ein heldenhafter König.