Dezember 2016
Ein See, der in der Dämmerung die schwarzen Tannen spiegelt und der Nebel, der von der Oberfläche aufsteigt wie der Dampf im Kessel einer Hexenküche. Ein langes, flaches Gewässer, weiße Lichter der Laternen zwischen den Bäumen, die Irrlichtern gleichend auf dem Wasser tanzen. Ruhig und still liegt die Szenerie da, wir gleiten mit dem Auto vorbei. Halten an, steigen aus. Schauen zu dem Haus mit den spitzen Türmen empor. Im Geiste höre ich das unheilvolle Rufen einer Krähe. In der Wirklichkeit höre ich nur das Wispern des Windes. Gedämmtes Licht in der Halle, doch kein Mensch zu sehen. Präparierte Tierköpfe an den Wänden. Ist das hier das Hotel Brockenhexe?
Goslar im Harz
Grau in Grau. Nicht, dass am Himmel irgend eine erkennbare Art Wolken zu sehen wären oder auch nur deren Umrisse – nein, der gesamte Himmel ist eine einheitliche, graue Schicht. „Vielleicht haben wir Glück und können oben im Harz Eisblumen bewundern.“ Sagt Stefan am Vorabend zu mir, als ich erledigt von der Arbeit im Sessel hänge und über den Sinn meines Lebens sinniere.
Doch als wir in Goslar ankommen, sind es kuschelige, warme fünf Grad Celsius. Plus, versteht sich. Ich bin weit davor entfernt zu frieren und so bleibt meine warme Strickmütze mit dem lustigen Puschelbommel in meiner Tasche verstaut. Entgegen aller Erwartungen sind wir schon mittags um zwei in der Goslar Altstadt und entgegen aller Erwartungen finden wir auch schnell einen Parkplatz. Das Parken hier kostet uns soziale fünfzig Cent die Stunde. Ich bin schon einmal vor Jahrzehnten (…bin ich wirklich so alt?) mit der Schulklasse in der Stadt gewesen; doch leider Gottes hat sich kein einziges Foto aus jener Zeit erhalten.
Schon beim Reinfahren in die Stadt fällt mir auf, wie schön sie eigentlich ist; feinstes, ausgesuchtes Fachwerk mit Schnitzereien und farbig bemalten Verzierungen an den Balken. Ein Traum, ein wahr gemachtes Lebkuchen-Knusperhäuschen; ach was, eine ganze Lebkuchen-Knusperstadt! Dann, als wir die Hauptstraße hinauflaufen – Hexen, überall Hexen mit Besen und Hackennasen in allen Farben und Größen. An all diese Hexen erinnere ich mich noch von meinem Klassenausflug her – ich, damals esoterisch angehaucht, lief mit leuchtenden Augen an all den Schaufenstern mit dem keltischen Silberschmuck vorbei.
Jetzt biegen wir in eine kleine Gasse, dem Menschenstrom folgend, hin zu den geöffneten Fachwerkstädten mit Geschnitztem aus Holz und allerlei Glasskulpturen. Innen bleibt unser Blick zuallererst auf der aus Holz gefertigten und auf Hochglanz polierten Harley hängen. Die Glasskulpturen sind Kunstwerke, anders kann man das nicht sagen. Ich liebäugele mit dem Holzschmuck. „Die Skulptur dort hinten sieht toll aus!“ Sagt Stefan und weist in die besagte Richtung. Ich erinnere ihn (und mich selbst) daran, dass solche Dinge bei uns irgendwann im Keller landen, einstauben und zu Ramsch degradiert werden. „Wenn wir ehrlich miteinander sind, haben wir inzwischen die Wohnung voll davon.“ Sage ich. Er zieht schweren Herzens weiter. Was trotzdem an uns hängen bleibt, sind kleine Geschenke für Stefans Familie und Freunde.
Im Geschäft ist es erdrückend voll, so atme ich erstmal auf, als ich draußen bin und mein Blick nach Stefan suchend umherwandert. Der hatte schon mit einer Selbstgedrehten auf mich gewartet.
Am Weihnachtsmarkt selbst ist Kuschelstimmung. Man schiebt sich nach und nach aneinander vorbei. Stefan erspäht Essen – und ich die Feuerzangenbowle. „Eine Feuerzangenbowle bitte!“ „Machen wir!“ Tönt der große, dickbäuchige Mann. Ich stelle mich an einen halbwegs freien Stelltisch und Stefan schwebt kurz darauf mit dem Essen an. „Die Menschen hier sind alle griesgrämig.“ Höre ich beim Kauen eine junge Frauenstimme hinter mir. „Aber wenn sie mich sehen, da müssen sie lachen.“ Na, wenn ich dich jetzt erblicke; muss ich da auch lachen? – Denke ich mir und drehe mich unauffällig um. Eine fröhliche Blondine beißt herzhaft in ihr Brötchen; ihre Locken wippen beim Sprechen.
Von da an beginne ich erst, statt auf die Häuser auf die mich umgebenden Menschen zu achten. Und sie hat Recht – die meisten von ihnen ziehen missmutig an unserem Stand vorbei mit Mienen, die teilweise rein gar nichts mit oh du fröhliche… gemein haben. Die Nikolausmützen und lustig wippenden Renntierhörner wirken deplatziert. „Sie wirken wie vor kurzem aus dem Knast entlassen; so als müssten sie die Lebensfreude neu erlernen.“ Sage ich zu Stefan. Glanzlose Augen blicken unbeteiligt durch mich hindurch und an mir vorbei. Stefan grinst in sich hinein.
Der Weihnachtsmarkt
Der Weihnachtsmarkt ist groß; er nimmt gefühlt fast die gesamte Fläche der Altstadt ein. Schmucke Häuser sind um den Platz mit dem Brunnen herum drapiert. An den Ständen bekommt man außer Klassischem wie Steakbrötchen und Bratwurst auch kulinarische Spezialitäten bis hin zum selbstgebackenem Brot. Eierpunch, Pfirsichpunch, Schwedischer Glühwein mit Kirschsaft, Pflaumen-Glühwein… zu teilweise schon unverschämten Preisen von 4,50 € zzgl. Pfand.
Wir lassen den Weihnachtsmarkt hinter uns. In der Fußgänger- Einkaufszone bleiben wir vor einem Douglas-Geschäft stehen. Circa fünfzehn Minuten später steht einer von uns wartend vor dem Eingang, während sich der andere seinen ungehemmten Kaufgelüsten hingibt. „Na, bist du fündig geworden?“ Frage ich Stefan, als er mit glänzenden Augen und einer türkisblauen Tüte in der Hand vor mir steht. Er nickt.
Der Weihnachtsmarkt wird zum Abend hin noch voller als er eh schon ist. Wir trinken Cappuccino. Als wir die Stadt verlassen, zieht eine ungemütliche, feucht-neblige Kälte auf.
Die Brockenhexe
Wir fahren eine verschlungene Straße entlang, die uns durch den Wald immer höher und höher auf den Berg hinauf führt. Unser Hotel liegt ca. 20 km von Goslar entfernt auf 600-700 Meter Höhe. Es wird dunkel, als wir ankommen. Von den Gewässern, die durch die Bäume blitzen, steigen Nebelschwaden auf, verwunschen wirkt die Szenerie, ein wahrhaftig schwarzer Hexenwald. Meine Fantasie macht Purzelbäume und so sehe ich am Rande des Sees schwarze Gestalten mit glänzenden Augen zu uns empor spähen.
Im Ort selbst zieht sich ein langer Teich entlang, der die Lichter der Laternen spiegelt. Weiß sehen sie aus inmitten der schwarzen Umrisse der Bäume, wie schwebende Gestalten von Feen. Ich klebe mit dem Gesicht am Autofenster.
Das Hotel „Brockenhexe“ sieht verlassen aus. Sind wir etwa die einzigen Gäste hier? – Fragt sich Stefan, als wir das Auto abstellen und uns dem Eingang nähern. Dann stehen wir da. „Sieht etwas verwittert aus.“ Den Namen „Brockenhexe“ finde ich passend gewählt, denn das Haus wirkt, als käme selbige gleich fröhlich tanzend um die Ecke.
In der Eingangshalle brennt irgendwo gedämmtes Licht; ich stoße die Tür auf. Doch um uns unschlüssig umzuschauen bleibt uns beiden keine Zeit, denn sogleich stehen wir einem großen Mann von üppiger Statur gegenüber, der wie aus dem Nichts auftauchte (Eigentlich kam er einfach nur aus dem Nebenraum gelaufen, aber pssst!). Der Mann trägt graues Haar und einen weißen Kittel um seinen mächtigen Bauch (…Koch? Metzger? Wo ist das Messer und die Blutflecken?). Er begrüßt uns und nimmt uns in Empfang. „Sie haben reserviert? Auf Täge, stimmts? Dann kommen Sie mal mit.“ Und obwohl er vor uns läuft und wir ihm hinterher, fühlen wir uns sogleich an die Hand genommen.
Er führt uns an einer zweiten, größeren Halle vorbei, an Hirsch- und Eberköpfen, die präpariert und in Rahmen an den Wänden hängen und mit mattem Blick an uns hinunter schauen, so dass ich mich um Jahre zurück versetzt in einer Jagdhalle wähne (in der ich mich höchstwahrscheinlich auch befinde). Es geht eine Treppe hinauf. „Sie können sich eines der Zimmer aussuchen.“ Der Mann öffnet beide Türen. Er redet und redet und seine robuste, burschikose Art ist mir lieber als das weichgespülte, samtglatte Lächeln, mit wir von Angestellten bekannter Hotelketten sonst immer empfangen werden. „Ich habe schon in den Bewertungen gelesen, dass sie hier einen sehr netten Hotelchef haben.“ Wird Stefan später sagen, sobald wir wieder alleine sind. Aha, ein Hotelchef ist der Mann also?
Die Zimmer sind zweckmäßig eingerichtet im charmanten Stil der 90er Jahre. Dem Hotelgebäude selbst sprach Stefan einen „morbiden Charme“ zu. „Vor allem das Telefonhäuschen da draußen.“ Sagte er. „Das ohne Fenster.“ Ich stelle mir darin eine Folterkammer der CIA vor. Eines der beiden Zimmer ist groß und gemütlich; zunächst befürchte ich, dass das altbackene Bad Stefan stören könnte. Doch das Vorhandensein der Badewanne ist nicht zu verachten. Zweites Zimmer – kleiner, mit Wellnessdusche und vielen kleinen, bunten Lichtlein, die beim Duschen angehen. Doch wir entscheiden uns für die Badewanne.
Essen würde es heute Abend keines mehr geben, da der Hotelchef, im Rahmen einer Großbestellung anscheinend, bereits alle seine Küchenvorräte geplündert hatte. Macht ja nichts, denke ich mir und befühle unauffällig den Winterring um meine Hüften. Man muss ja schließlich nicht ständig essen.
Doch nachdem wir eine Runde geschlafen hatten und nun so beim Zeitunglesen dasitzen, meldet sich der kleiner Hunger und wird immer größer. Wie war das mit „man muss nicht ständig essen“? Hast du das gehört, Bauch? „Gehst du Döner holen?“ Frage ich Stefan. Der schaut mich an und grinst. Wir sind hier oben jenseits von Gut und Böse, hier wird es in nächster Nähe nichts Essbares geben. „Iss Lebkuchen.“ Sagt er und zeigt auf die Tüte auf dem Tisch. Lebkuchen und Red Bull. Das perfekte Hotel-Essen mitten in der Nacht.
Am nächsten Morgen. Nach dem Frühstück laufe ich wieder so leise wie möglich die knarrende Treppe hoch. Die toten Säue verfolgen von der Wand aus mit ihren Blicken meinen Weg und der Falke am Telefonhäuschen der CIA schwebt unbeweglich mit seinen ausgebreiteten Schwingen auf ewig über mir. Draußen, vor dem Fenster des Frühstücksraumes, ziehen Nebelschleier am Boden des ausgestorbenen Gartens entlang und verfangen sich in den kahlen Büschen. Eine einzelne Gartenlaterne gibt ihr restliches, schwaches Licht preis. Eine Stimmung zum Schlafen. Und wir wollen heute hoch auf den Brocken…
Am nächsten Tag
Kleine Seen, Teiche, immer wieder Häuser mit Holzplatten oder Schindel verkleidet… Ich glaube, hier werden die ganzen Bergbau-Universitäten sein. Das mit der Schindelverkleidung habe ich bereits oft in Belgien gesehen. Wir fahren an einer Talsperre vorbei. Ich sehe kleine Holzkirchen, die mich sehr an Polen erinnern. Der Nebel wird immer dichter, ganz so, als würde man in eine Wolke hineingleiten. Und Talsperren – ja, irgendwie kommen uns hier immer wieder welche unter…
Stefan will mit mir heute morgen ursprünglich zum Brocken hoch. Er weiht den Hotelbesitzer beim Auschecken in seinen Plan ein. Halb registriere ich den Smalltalk der beiden, halb betrachte ich die massive Holzbar.
„Zum Brocken, hoch auf den Gipfel?“ Der Mann macht dabei ein Gesicht, das mir irgendwie nicht gefällt. Wie hieß nochmal dieser Ausdruck… Skepsis, ja, genau. „Es lohnt sich heute nicht.“ Da stelle ich meine Lauscher auf und komme näher an den Tresen heran. Der Chef telefoniert kurz mit der Wetterstation. „Hey, wie sieht es da oben bei euch aus? Ich hab hier eine Reisegruppe, die sich auf den Weg zum Gipfel macht…“ Er wirft einen beiläufigen Blick auf uns beide „und sie wollen wissen, wie das Wetter da ist… Neblig? Ah, ja okay, alles klar.“ Er legt auf, dreht sich zu uns um. Ich bin indessen noch am Schmunzeln darüber, als „Reisegruppe“ bezeichnet worden zu sein. Es ist sehr neblig, sagt er, und es fällt feiner Nieselregen. Ich vermisse den Schnee. wir nehmen uns vor, im Sommer mit dem Motorrad wieder hierher zu kommen.
Wir halten an, mitten im Wald. Stefan steigt aus, und ich verstehe zunächst nur: Man hört die Wäsche zwitschern.
„Was sagst du da?“ Frage ich, er schaut mich an, nimmt das Papier zum Drehen einer Zigarette aus dem Mund und spricht ein wenig lauter. „Ich sagte: Man hört die Bäche plätschern.“ Okay, das ergibt Sinn. Ich steige auch aus. Es rauscht und plätschert überall. Zwischen den Bäumen auf den Baumkronen liegt ein feiner Nebelschleier über der verschlungenen Straße.
Alte Stollen, die man besichtigen kann. Spitze, zwischen den Bäumen aufragende Felsbrocken. Kirchen mit hohen, nadelspitzen Türmen.
Eine Dampflock fährt dampfend vorbei, zum Brocken hoch; es fehlt nur noch das Tüt tüüüt! Ich verliebe mich in die Gegend hier. So viel Charme! Goslar mag bekannt sein, doch all die kleinen Orte hier sind nicht minder schön, ich wage sogar zu behaupten: noch schöner. Die Kirchen ahmen mit ihrem Baustil den Stil der französischen Kathedralen nach, und überhaupt erinnert mich hier alles ein wenig an Elsass, wo wie vor kurzem erst gewesen sind.
Eine blätterlose, braune Hecke in Niedersachswerfen, die in Form einer Dampflock geschnitten ist. Eine schöne Hausfassaden-Reihe in Nordhausen. Riesige Abraumberge in gleisendem Licht, Türme, die spitz aus dem Nebel herausschauen. Ein Erlebnis-Bergwerk. In den Momenten, wenn die Sonne den Himmel aufbricht, blenden uns nicht nur ihre Strahlen, sondern auch die nasse, gleißend glänzende Straße, die uns ihr Licht in die Augen wirft. Wir sind auf dem Weg nach Erfurt.
Die Wälder sehen mangels Schnee rostbraun gekleidet aus, die nackten Stämme ragen wie Pfeiler empor. Die Felder; die ganze Welt ist mit Nebel überzogen, das Licht dahinter, welches versucht, sich seinen Weg zu erkämpfen; es sieht alles sehr unwirklich aus. Als würden gleich Geisterwesen aus dem Nebel steigen; als würden gleich Aliens landen, als hätte Stephen King selbst seine Finger im Spiel gehabt. Und das Ende unseres nebligen Weges verliert sich im Licht… nur die Bäume auf beiden Seiten zeichnen sich schwarz von der Weite des Feldes ab.