Gegensätze prallen hier heftig aufeinander. Prachtvolle Häuser und gleichzeitig eine unglaubliche Verwahrlosung. Durch die ganze Innenstadt verläuft eine verkehrsberuhigte Allee, so unendlich lang, dass man den Horizont und die tiefstehende Sonne zwischen den Häusern sehen kann.
Dezember 2015, Silvester
Das Silvesterfeuerwerk ist vom Küchenfenster aus schön anzusehen. Das ganze Haus ist dunkel und schläft, nur wir sitzen beide da und prosten uns mit dem restlichen Honigwodka zu. Stefan schmiert sich ein Butterbrot. Doch im nächsten Augenblick rennt er auch schon raus, die Kamera in der Hand.
Schon zehn Minuten nach zwölf hört man draußen die Polizeisirenen.
Stefan kommt zurück, wir trinken noch den Rest Wodka fertig. Nach einem Gläschen lebt es sich besser. Oder zwei, oder drei…? 😉
Meine Mama schläft tief und fest, der Opa ebenso. Eigentlich wollte sie um Mitternacht Sekt mit uns trinken, feiern, und, und, und… Doch als wir kurz vor Mitternacht in die Küche gehen, ist alles dunkel, niemand außer uns da. Also sitzen wir da, während das ganze Haus schläft, und erfreuen uns der Anwesenheit des jeweils anderen.
Prost!
Der Neujahrstag
Der nächste Morgen. Eisblumen am Auto. Draußen sind es minus sechs Grad. Beide sind wir in mehrere Kleidungsschichten eingewickelt. So machen wir uns auf den Weg nach Łódź.
Der Tag ist strahlend schön, die Straßen wie ausgestorben. Eine einsame Polizeistreife parkt in einer Seitenstraße, bereit, Alkoholsünder vom Vortag aus dem Verkehr zu ziehen. Doch wir werden nicht angehalten.
Nach und nach wird es im Auto wärmer. Das Mineralwasser, über Nacht unter dem Rücksitz gelagert, schmeckt spritzig-frisch, ein großer Eisklumpen schwimmt in der Mitte. Und hey… schon mal Eis mit Fleischgeschmack gegessen? Unsere gestern eingekauften Wurstwaren, die über die Nacht ebenfalls im Auto waren, sind heute mit einer feinen Eisschicht überzogen.
Łódź
Gegensätze prallen hier heftig aufeinander. Prachtvolle Häuser und gleichzeitig eine unglaubliche Verwahrlosung. Durch die ganze Innenstadt verläuft eine verkehrsberuhigte Allee, so unendlich lang, dass man den Horizont und die tiefstehende Sonne zwischen den Häusern sehen kann. Kunstvoll gearbeitete Häuser, – und überall bröckelnde Bausubstanz, fehlende Dachrinnen, Schimmel und feuchte Flecken an den Wänden, Risse im Mauerwerk. Nicht einmal die Kirche am Marktplatz im Zentrum der Stadt ist vom Verfall verschont geblieben. Bröckelnder Putz, stellenweise Schmauchspuren. Selbst die Straßenbahnen scheinen noch aus Zeiten des Sozialismus zu stammen, wie Stefan spöttisch feststellte. Das einzig gut erhaltene in Łódź scheinen die Kirchen zu sein, bis auf die eben beschriebene, vor der wir gerade stehen. Dabei ist es eine wirklich schöne Kirche. Hell, groß, mit einer ehemals weißen Fassade, die aber nun grau war, gezeichnet von der Zeit. Massive, alte, detailreich gearbeitete Holztüren, abblätternde Farbe. Wir nähern uns dem Eingang.
Menschen strömen heraus, es scheint, als sei gerade die Neujahrsmesse beendet worden. Ich fotografiere die alte Holztür, spüre dabei langsam den stechenden Schmerz in den vor Kälte starren Fingern. Stefan reibt seine Hände.
„Sollen wir rein?“ Doch wir wollen noch warten, bis alle draußen sind. Wie gerne würde ich ihm bitten, für mich die alten Damen zu fotografieren, die die Kirche soeben verlassen haben und jetzt auf der Straße stehen. Mit ihren runden Mützen, ihren langen Wollmänteln und den ehrfürchtigen Gesichtern sind sie so typisch für dieses Land, ein Teil dieser Landschaft.
Als die letzten das Gebäude verlassen haben, nähern wir uns der Tür. Doch sie ist verschlossen. Was, so schnell? Ich bin aufrichtig erstaunt.
Etwas unschlüssig stehen wir nun da. Die Menschen hier in dieser Stadt scheinen nicht so viel Sinn für Touristik zu haben. Auch die griechisch-orthodoxe Kirche mit den farbig gestalteten Wänden, die wir heute morgen gesehen haben, war abgeschlossen. So gerne hätte ich sie von innen gesehen.
Wir laufen die lange Allee entlang wieder zurück zum Auto. Bewundern die Hausfassaden, bedauern den Verfall. Dann steigen wir ein, und während der Fahrt entdecken wir Schilder mit dem verheißungsvollen Hinweis „Altstadt“ darauf.