Wie spontan bist du?
Eben diese Frage fällt, und zwar aus meinem Munde, in einem Anflug aus Übermut und Abenteuerlust. Wir sitzen am Mannheimer Hauptbahnhof, meine liebe Freundin Janine und ich, in einem neuen Lokal, welches sie eigens für uns ausgesucht hatte. Wir sitzen da und springen von Thema zu Thema, und irgendwie kommt die Rede, wie immer, auf das Reisen. Vorwiegend auf Orte, die wir noch nicht besuchten. Wo wir noch hinfahren könnten. Viele Optionen sind nicht offen. Es ist Anfang Dezember, es ist früher Nachmittag, und was eignet sich da besser für einen besuch als die vielen Weihnachtsmärkte. So mancher mag es oder nicht, doch der Dezember ist für mich Weihnachtsmarktzeit.
„Warst du schon mal in Straßburg?“ Frage ich sie. Tatsächlich ist der Straßburger Weihnachtsmarkt nicht einmal so weit weg und einer der schönsten im Umkreis. Schleierhaft kann ich mich noch daran erinnern, wie ich vor Jahren mit einer Motorradgruppe glühweinselig und glücklich durch die Gassen der Stadt gewackelt bin. Mit dem Bus fuhren wir damals hin, was auch notwendig war bei einer so großen Gruppe Leute.
Ich war noch nie auf diesem Weihnachtsmarkt, sagt meine Freundin bedauernd. Überhaupt sei sie noch nie in Straßburg gewesen. Unglaublich, dabei liegt die Elsässer Hauptstadt geradezu um die Ecke und ist mit anderthalb Stunden Anfahrt relativ schnell erreichbar. Eine Idee keimt in meinem Kopf auf. „Wie spontan bist du?“ Frage ich meine Freundin. Die guckt mich an und meint: „Ich müsste nur einmal kurz aufs Klo, dann können wir…“
Der Weihnachtsmarkt in Straßburg zieht sich durch die ganze Altstadt. Von 27.11 bis 27.12 öffnet der marché de noël. Was ich vom letzten Mal noch gut in Erinnerung habe, sind überbordende Dekorationen, viele Lichter, Girlanden und riesige Teddybären, die auf Fensterbänken schmaler Fachwerkhäuser hocken. Und der sagenhaft gute Glühwein. Gerade am Glühwein, habe ich mir damals gesagt, merkt man, dass man in Frankreich ist.
Wir beginnen unseren Rundgang am Museum für moderne Kunst. Hier parke ich mein Auto, wenn ich in der Stadt bin, denn in die Altstadt ist es von hier aus nicht weit. Einmal über die überdachte Brücke, die über die Ile auf die andere Seite führt; die im 17 Jahrhundert errichtete Barrage Vauban. Heute ist Vauban eine Sehenswürdigkeit und wird von historischen Steinskulpturen bevölkert. Durch La Petit France, das ehemalige malerische Gerberviertel, arbeiten wir uns vor bis die ersten Weihnachtsständen in den Seitenstraßen auftauchen. Es ist düster und das Wetter kalt und neblig, doch schon bald wird das Grau des Tages Dunkelheit und hellen, warmen Lichtern weichen.
Die Elsässer haben eine Vorliebe für ausgeschnittene Papier- und Pappdekorationen. Solche sehe ich immerzu an den Grenzübergängen, und sie werden passend zur Jahreszeit ausgewechselt. Jetzt bewundere ich die von Kinderhand bemalten Herzen und Sterne aus Papier, die die links und rechts aufgestellten Weihnachtsbäume schmücken. Die ersten Stände tauchen auf, und ich schaue mich schon mal nach einem Glühwein für mich um. Ein einzelner soll es sein, damit er bis zu unserer Rückfahrt wieder „verdunsten“ kann. Meine Freundin kann meiner Vorliebe für Glühwein nicht viel abgewinnen. Honigmet sollte es sein, wie es sich für eine Wikingerin im Geiste gehört. Die Käsespezialitäten locken, und langsam meldet sich der kleine Hunger.
Je dunkler es wird, umso heller leuchten die sternförmigen Dekorationen. Wenn das Tageslicht schwindet, kommt Stimmung auf. Wir sind genau zur rechten Zeit gekommen. Lichtgirlanden hängen in Baumkronen inmitten verwelkter Blätter. Wir nähern uns dem Zentrum. Das Menschenaufkommen wird höher. Ein kleiner Kunst- und Antiquitätenmarkt ist zu sehen. Die Galerie Lafayette strahlt in allen Farben wie ein weihnachtliches Las Vegas. Wir sind am Place Kleber angekommen, wo ein meterhoher Weihnachtsbaum alles in seiner Nähe überragt und die Blicke der Menschen fesselt – nicht zuletzt aufgrund seines wechselnden Farbenspiels. Der große Weihnachtsbaum wird Jahr für Jahr in den Wäldern der Vogesen geschlagen und nach Straßburg transportiert. Bereits ab Oktober kann die Öffentlichkeit seinen Weg verfolgen: Transport, Aufbau, Installation. Auf dem Platz rund um den Weihnachtsbaum sind jährlich gemeinnützige Vereine aktiv.
Am Fuße der Temple Neuf Kirche, am Place du Temple Neuf, ist es beschaulicher. Es verirren sich nicht ganz so viele Menschen hierher, was den etwas abgeschiedenen Platz noch magischer macht. Jenseits des Trubels ist es einer der wenigen, ruhigeren Orte, an dem man seinen Glühwein in beschaulicher Atmosphäre trinken kann. Die Dekorationen der Häuser hauen mich Jahr für Jahr um. Traditionell rechne ich mit riesigen Teddybären und ja, auch die sind da. Doch mit den pinkfarbenen Weihnachtsschweinen an der Hausfassade habe ich nicht gerechnet.
In der dazugehörenden Einkaufsstraße, der Rue du Temple Neuf, verirren wir uns in eine Schokoladenmanufaktur. Die süßen Stückchen locken mit ihrem Duft und lassen mich jegliche Abnehmvorhaben vergessen. Abnehmen, in der Vorweihnachtszeit? No way, Schwester. Meine Freundin hat solche Skrupel nicht und deckt uns gleich mal mit Süßkram ein.
Einige ukrainische Weihnachtsstände sind in diesem Jahr vertreten. Sie verkaufen landestypisches Essen, Süßspeisen, Geschenkartikel und Kleidung. Die mit Blumenmustern bestickten Blusen haben es mir angetan. Wie auch die Süßigkeiten. Ein wenig unterhalte ich mich mit der Verkäuferin, in einer Mischung aus Englisch, Deutsch und Polnisch. Ein paar ukrainische Mädels finden sich am Stand ein. In einer halben Stunde wird eine Messe in der Landessprache abgehalten, ob wir nicht kommen wollen. Wir versprechen es – ohne freilich zu diesem Zeitpunkt zu wissen, dass wir es nicht schaffen werden. Denn unser Hauptziel an diesem Abend ist das pulsierende Zentrum der Stadt, die gotische Kathedrale.
Und da taucht sie auch schon auf, die Kathedrale Notre Dame im Herzen der Altstadt. Wie ein monströses Artefakt aus einer anderen, düsteren Welt erheben sich ihre gotischen Mauern in der Dunkelheit, spärlich vom Schein der Weihnachtsbuden beleuchtet. Egal, wie oft ich hier in Straßburg bin, ich kann mich nicht an diesem Anblick satt sehen. Sie wirkt wie eine Vorlage für dunkle Märchen ohne Happy End. Meine Lieblingsmärchen also. Nichts für kleine Kinder.
Wir schaffen es gerade so hinein, zehn Minuten, ehe die offiziellen Einlasszeiten enden. Ich war bereits mehrmals in der Kathedrale, doch für meine Freundin ist es spannend. Aufgrund der späten Stunde hält sich das Besucheraufkommen in Grenzen. Im Mittelschiff auf der rechten Seite wurde eine große, detailreiche Krippe aufgebaut, und links und rechts des Ganges hängen Wandteppiche mit biblischen Szenen von der Decke runter.
Wieder draußen warte ich geduldig, während sich meine Freundin in diversen Souvenirläden verselbständigt. Ein Blick auf die Preise sagt mir, dass ich bereits genügend Kühlschrankmagnete habe. Ich versuche, mich zwischen den aufgehängten Weihnachts-Kuscheltieren unsichtbar zu machen, doch die Anzahl der Besucher hat inzwischen zugenommen und egal, wohin ich mich stelle, überall bin ich den Ellbogen der Schaulustigen ausgesetzt. So bin ich nicht unglücklich, als es endlich weiter gehen kann.
Wieder am Place Kleber angekommen lassen wir uns inmitten von Tannenzweigen nieder. Das Gebäck, welches uns meine Freundin wohlweislich eingekauft hat, will verkostet werden. Schwesterlich teilen wir die süßen Stückchen, während sich einige Meter weiter das Weihnachtskarussell im Kreis dreht. Sie schmecken unbeschreiblich.