Anarchie auf den Straßen
Die Anarchie hat sich gebessert. Ja wirklich. Noch vor wenigen Jahren war das Überholen auf Landstraßen in Form gefährlicher Manöver Gang und Gäbe. Wie oft passierte es, dass ich im Überholvorgang nochmals, in „zweiter Reihe“ sozusagen, überholt wurde. Gab die Fahrbahn das her? Nicht wirklich. Doch es wurde ausgereizt, was ging. Seit das Autobahnnetz in Polen dichter geworden ist, hat sich die gefühlte Situation auf Landstraßen beruhigt. Was blieb, ist die erhöhte Geschwindigkeit. Du denkst, da ist fünfzig und du fährst auch deine fünfzig? Kannst du machen. Selbst wenn jeder, der kann, an dir vorbei zieht. Mit siebzig. Doch du, dich an die Regeln haltender Ausländer, du kannst beruhigt deine Wunschgeschwindigkeit fahren, denn es herrscht…
…Toleranz im Straßenverkehr
Grundsätzlich werden kleinere und langsamere Fahrzeuge nicht unter Druck gesetzt. Es gibt (noch) nicht jene aggressive Grundhaltung, wie ich sie von Deutschland aus kenne. Doch wehe, du befindest dich in Polen auf dem linken Streifen, obwohl der rechte frei ist. Dann kann ein Weißroter auch mal ungehalten werden. Fahr schön wieder auf deine rechte Spur, dann ist auch alles gut.
Generell habe ich aggressive Ausfälle anderer Auto- oder Lkw-Fahrer, so wie es hierzulande oft der Fall war, drüben noch nicht erlebt. Da kann jedes Großmütterchen zusammenfahren, was es kann und möchte. Der Pole schaut sich das an, schüttelt kurz den Kopf und überholt bei der nächsten Gelegenheit.
„Wolnoc Tomku w swoim domku“
Was so viel bedeutet wie „My home is my castle“ oder „zu Hause bin ich König.“ Speziell, was das Landleben betrifft, ist die Akzeptanz aller möglichen Marotten groß. Ebenso wie der Wunsch nach Privatsphäre. Dichtes Laub, hohe Zäune, dichte Gardinen. Damit auch jeder tun kann, was er will. Man bleibt für sich und mischt sich nicht ein. Die hierzulande rege gelebte, deutsche Vorliebe, andere zu belehren und zu maßregeln, ist in Polen unbekannt, denn ein solches Verhalten gilt als unhöflich, denn…
…man belehrt andere nicht
Ich mag euch. Ja, sehr sogar. Was mir jedoch noch heute seltsam anmutet, ist die deutsche Lust am Maßregeln anderer. Und daran musste ich mich erst gewöhnen. Wie schockiert ich war, als unsere Nachbarn (alte, griesgrämige Damen, vermutlich gibt es sie längst nicht mehr…) begannen, uns ungefragter Weise zu belehren. In Polen würde ein solches Verhalten als grobe Taktlosigkeit empfunden werden. Man korrigiert/belehrt/maßregelt andere Erwachsene nicht. Das tut mal einfach nicht. Wie bereits oben beschrieben, man bleibt für sich und mischt sich nicht ein…
„Lächle mal!“
Ich weiß es noch wie heute. In meiner Anfangszeit hier in Deutschland im Alter von zarten zwölf Jahren schlitterte ich von einem Kulturschock in den nächsten. Die Menschen sprachen anders, sie meinten es anders, und sie machten fast die gesamte Zeit über etwas Seltsames mit ihren Gesichtern. Ich glaube, man nennt es „Lächeln“. Als Reaktion auf das Fehlen von Selbigem in meinem Repertoire an Gesichtsausdrücken wurde ich des Öfteren gefragt, was denn los sei. Ob etwas los sei. Ob ich traurig sei. Oder krank. Oder beides? Was mich zusätzlich verunsicherte. Genauso wie die gut gemeinten, deutschen Aufforderungen: „Lächle doch mal.“ Ähm, wieso, hast du gerade einen Witz erzählt, den ich verpasst habe?
Nicht falsch verstehen, wir Polen lächeln auch mal. Ja, auch in zwischenmenschlichen Beziehungen kommt es vor, als Indiz für (echte) Zuneigung. Oder auf einer Feier. Da sind wir glücklich, da gibt’s Wodka. Aber im öffentlichen Raum, im Berufsleben oder einfach so? In einem solchen Kontext wird ein Lächeln bestenfalls als unnötig, schlimmstenfalls als unseriös empfunden. „Nur ein Trottel lächelt ohne Grund“. Oder, um den Lieblingsspruch meiner Großeltern zu zitieren: „śmieje się jak dziad do jaja“, was wörtlich übersetzt „Er/sie lächelt wie ein Penner zum Ei“. Alternativ gibt es den Spruch auch in der „…wie ein Dummer zum Käse“-Variante, die vielleicht etwas weiter verbreitet ist. Doch die Botschaft beider ist eindeutig, sie umschreiben jemanden, der sich grundlos freut, grundlos lächelt oder grundlos übertrieben fröhlich ist. Ihr merkt schon, die kulturellen Unterschiede können groß sein, selbst wenn man nur eine Grenze weit voneinander entfernt wohnt.
Schwarzer Humor
Obwohl der Pole eher sparsam mit seinen Gesichtsmuskeln umgeht, bedeutet es lange nicht, dass er humorlos ist. Bei Weitem nicht. Der Pole hat in der Regel einen rauen, sehr schwarzen und feinen Humor. Politisch unkorrekt und ungeheuer böse. Dieser Humor zeigt sich oft in unerwarteten Momenten und gleitet meist in Sarkasmus ab. Meine Freunde und Bekannten hauen sich Sprüche um die Ohren, dass mir selbige Schlackern – mehr als einmal dachte ich: das würde in Deutschland nicht durchgehen. Vorgetragen werden die „Feinfühligkeiten“ mit einem seriös-ernstem Gesicht, so dass nur die Eingeweihten imstande sind, den Witz sofort zu erkennen. Das toternste Gesicht lässt schwarzen Humor noch schwärzer werden und noch besser zu Geltung kommen. Und nun zu mir und meinen Kulturschocks. Der polnische Humor kommt an einer deutschen Schule nicht an. Schon gar nicht, wenn da ein Lächeln fehlt. Ich sag mal so… die Lehrerin unseres Vertrauens muss mehr als einmal ernsthaft besorgt gewesen sein… 😉
Gemeinschaft
Eine folge des „für-sich-Bleibens“, welches ich weiter oben beschrieb, ist ein hohes Maß an Autonomie und Selbstbezogenheit. Da, wo sich die Deutschen in Vereinen organisieren, sei es, um etwas zu bewirken oder um Gleichgesinnte zu finden, mit denen man seine Interessen teilen kann, fehlt dieses Gemeinschaftsgefühl bei den Polen. An diese Stelle tritt ein starkes „geht-mich-nix-an“. Vielleicht wird sich das irgendwann mal ändern, doch das Gefühl, zusammen mit anderen für etwas verantwortlich zu sein, lassen meine Landsleute manchmal vermissen.
Des Polens Preisbewusstsein
Geiz ist geil? Aber ja. Natürlich gibt es auch in Deutschland ein Preisbewusstsein, das insbesondere seit Beginn des Krieges und der darauffolgenden Inflation größer geworden ist. Doch in Polen ist das Sparen irgendwie Tradition, und das schon seit Jahren. Ob im Radio, im Fernsehen oder in den Supermärkten, überall schreit es einem laut „Promocja!“ („Angebot!“) entgegen. „Viel und billig“ verkauft sich wesentlich besser als „qualitativ hochwertig“. Und natürlich kann man sich beklagen, dass die örtliche Wirtschaft in ausländischer Hand ist, natürlich kann man bemängeln, dass alles aufgekauft wird und die „eigenen Leute zu kurz kommen“. Wenn man anschließend seinen Bedarf fröhlich online beim Chinesen bestellt. Hier ist sich jeder selbst der Nächste.
Sicherheitsfirmen
Die Security-Firmen haben Hochkonjunktur. Ungebrochen erfreuen sich die Sicherheitsunternehmen großer Beliebtheit. Was auch verständlich ist, denn trotz eines höheren Lebensstandards ist die Zahl der Einbrüche noch immer hoch. Kriminelle Organisationen erspähen Zeiten der Abwesenheit und schlagen bevorzugt zu, wenn die Bewohner nicht zu Hause sind. Was man hierzulande nicht kennt, ist in Polen ganz normal: den Sicherheitscode eingeben, sobald man das Haus verlässt und auch wieder betritt, um den Alarm frei- bzw. abzuschalten. Wie effektiv eine solche Vorrichtung ist, hatte mir mein Onkel vor Jahren einmal vorgeführt, indem er absichtlich den Alarm auslöste. Sofort wird Meldung an die Sicherheitsfirma gemacht und eines der Fahrzeuge, die sich in der Nähe aufhalten, ist in spätestens zehn Minuten vor Ort. Der Hausbesitzer wird per Handy kontaktiert. Das System funktioniert.
Regeln am Zebrastreifen
Bis zum 1 Juni 2021 hatte ein Fußgänger nur dann Vorrang beim Überqueren eines Zebrastreifens, wenn er sich bereits darauf befunden hatte. Ein Fußgänger, der sich dem Zebrastreifen näherte und seine Absicht signalisierte, selbigen zu betreten, musste warten, bis ihn die motorisierten Fahrzeuge passieren ließen. Diese Regelung wurde novelliert; nun hat ein Fußgänger auch dann Vorrang, wenn, sagen wir: bereits ein Fuß über der Fahrbahn schwebt (nicht mein Wortlaut – das steht buchstäblich so auf autostrady.com.pl). Betritt der Fußgänger unerwartet den Zebrastreifen oder wechselt abrupt die Richtung, so wird im Falle eines Zusammenstoßes mit einem motorisiertem Fahrzeug er die Schuld am Unfall tragen. Der Fußgänger hat sich zu vergewissern, dass keine Gefahr droht und er unbeschadet die Straße queren kann. Doch zu selbstbewusst würde ich in Polen trotzdem nicht auf den Zebrastreifen treten, denn viele Fahrzeuge fahren mit überhöhter Geschwindigkeit und bremsen vor einem Fußgängerüberweg nicht ab.
Zu Fuß laufen – „Hat die kein Auto?“
Die Vorzüge der Zu-Fuß-Bewegung sind noch nicht mal hierzulande in jedes Eckchen vorgedrungen. Geschweige denn in den kleinen Provinzstädten Polens. Wenn ich hierzulande forschen Schrittes meinen Weg gehe, denken die Leute höchstens (wenn sie denn überhaupt etwas dabei denken…), „sie läuft, weil es gesund ist/weil sie es will.“ Bin ich hingegen in ländlichen Polen unterwegs und marschiere mit Wanderschuhen durch die Pampa (keine touristische Berglandschaft oder markierte Wanderwege wohlgemerkt), dann schauen sie mich an mit diesem Blick, der da stumm zu sagen scheint: „Die Arme. Bestimmt ist ihr Auto in der Werkstatt…“
ich glaube tief im inneren bin ich auch ein Pole… was den Humor angeht zu 100% und bei meinem Nachnamen in dem von A-Z alles an Buchstaben enthalten ist, mit Sicherheit auch.
Ich komme damit aber ganz gut klar – was die Belehrungen angeht und das für sich sein – dito. Größere menschenansammlungen mag ich so gern wie eine darmspiegelung und andere Familienmitglieder sehe ich am liebsten auf deren Beerdigungen – da bin ich wenigstens sicher, dass sie kein dummes Zeug erzählen..
Wenn das so weitergeht werde ich bald wohl beim träumen polnische Untertitel eingeblendet bekommen..
Bleib gesund!
CU
P.
Ja, es klingt, als wenn ein kleiner Pole in deiner Seele steckt… was du erzählst, hört sich sehr nach mir an. Bleib gesund!