Deutschland, Europa

Beerfelden: Picknicken unterm Galgen

Irgendwo in Odenwald, am Rande von Beerfelden, befindet sich ein Hügel. Auf diesem Hügel, von weithin sichtbar, steht ein Gerüst, dessen schwarze Konturen sich fragend vom strahlend blauen Himmel abheben. Hier, zu diesem Hügel, steuere ich mein Auto hin.

Der Galgen in Beerfelden aus dem 15 Jahrhundert ist der größte und besterhaltene in Deutschland. Noch lange vor dem Jahr 1597, ehe eine hölzerne Konstruktion einem steinernen Galgen weichen sollte, wurden an dieser Stelle Menschen gerichtet. Ich steige aus dem Auto und nähere mich dieser Stelle, die nun als Sehenswürdigkeit des Ortes hin und wieder ein paar Besucher anzieht. Aber nicht heute, denn es ist Montag Mittag und trotz des blendend guten Wetters zieht es kalt über den Hügel. Ich wickle den Mantel enger um mich und laufe ein bisschen um den Galgen herum. Hier gibt es eine kalte Feuerstelle, ein paar Bänke und viel grünen Rasen, der zum Pausieren und Picknicken einlädt. Getränke, Pausenbrote, Grillwürstchen – und dem entspannten Wochenendausflug mit  Gruselfaktor steht nichts mehr im Wege.

An diesem Mittag bin ich hier allein. Nur wenige Menschen sind irgendwo auf Feldwegen mit ihren Hunden zu sehen. Ein Vogel singt laut die gleiche Sequenz, immer und immer wieder. Auf dem Moos, der die Baumstämme umgibt, krabbeln Käfer in der Sonne herum und zarte Krokusblüten zeigen sich bereits.

Der sog. dreischläfrige Galgen besteht aus rotem Sandstein und besitzt drei Säulen. Eiserne Hacken hängen herunter – das Ganze war so konstruiert, dass mehrere Verurteilte zu gleichen Zeit exekutiert werden konnten. Früher wurden die Menschen gehängt aus Gründen, die man sich heute wohl kaum nachvollziehen kann; so wurde das letzte Todesurteil über eine Zigeunerin gesprochen für den Diebstahl eines Huhns und zwei Leibe Brot. So zumindest die Legende. Wie viele Menschen hier verurteilt und gehängt wurden, weiß niemand, denn bei einem großen Feuer 1810 wurden neben 180 Häusern alle Akten zerstört.

Grausamkeit oder Gnade; jedenfalls wurde die Richterstätte an einem wunderschönen Ort errichtet. Der Hügel bot dem Delinquenten einen Rundum-Ausblick über die Wälder und sanften Hügel des Odenwaldes, wohl um ihm zu zeigen, welch wundervolle Gabe das Leben selbst sein konnte. Vor dem Galgen ist ein Kreuz aus Sandstein in der Erde eingelassen, darauf knieten die Verurteilten, um ihre letzten Sakramente zu erhalten. Dann wurden sie auf ein Podest gestellt, welches, nachdem die Schlinge um den Hals hing, weggezogen wurde. Diejenigen, die etwas mehr Glück hatten, starben durch Genickbruch, andere erstickten.

Die Vollstreckung von Todesurteilen war früher so etwas wie ein Stadtereignis; in einer Welt, in der nicht viel Spannendes passierte, suchte man nach Zerstreuung. Alle Anwohner versammelten sich; je größer die Zuschauergemeinde, umso höher der Faktor der Abschreckung – könnte man zumindest meinen, doch die Armut trieb die Menschen immer wieder zum Stehlen. Die Gehängten wurden anschließend am Galgen gelassen, bis sie verwesten und waren, sobald man sich der Stadt näherte, schon von weitem zu sehen. Danach hat man die Toten in den umliegenden Feldern verscharrt, was archäologische Ausgrabungen gezeigt haben. Unwillkürlich halte ich nach bleichen Knochenresten Ausschau.

Nicht viele Galgen haben sich erhalten; im 18 und 19 Jahrhundert gab es viele Aufrufe, die Richterstätten abzubauen, doch in Beerfelden hatte man es wohl versäumt, dem Folge zu leisten. Die letzte Hinrichtung der Zigeunerin fand 1804 statt. Unfassbar, denke ich mir – eine Todesstrafe wegen zwei Leiber Brot (und des Huhns, das Huhn nicht vergessen!), harte Urteile wegen Bagatellen, während der Adel die Menschen tagtäglich legal bestahl, mit Gesetzen auf seiner Seite, die niemals für den Pöbel gemacht worden waren.

Ich bleibe nicht allzu lange. Ich fühle mich schwermütig, trotz der gleißenden Sonne. Fürs Picknick ist es wohl doch nicht die optimale Stelle.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
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