Soroca, die Stadt im Nordosten des Landes, ist sozusagen die inoffizielle Hauptstadt der Roma. Tatsächlich, viele von ihnen leben hier; sie stellen mit über 27000 (Zählung 2021) eine der größten Minderheiten in Moldawien. Der Name „Soroca“ stammt aus dem Slawischen und bedeutet übersetzt „Die Elster“. Die achtgrößte Stadt Moldawiens liegt am Flussufer der Dnister an der moldawisch-ukrainischen Grenze.
Abends nach guten zwei Stunden Fahrt von Tipova komme ich in Soroca an. Zu dieser Fahrt will ich noch ein paar Worte verlieren. Je weiter nach Norden, umso leerer werden die Straßen, umso einsamer die Gegend. Es gibt so gut wie keinen Verkehr, und wenn, dann entgegenkommend, als wolle alles und jeder jene verwunschene Ecke des Landes verlassen. Nur selten überholt mich jemand, dann fahre ich wieder lange Zeit alleine.
Die Straßen sind in recht gutem Zustand. Die Dreißigerzonen in den Dörfern werden mit sechzig durchquert, die Einheimischen ignorieren jegliche Geschwindigkeitsregeln, mit Polizei ist nicht zu rechnen. Kontrollen finden statt im Raum Kischinau, aber nicht hier. Was sich findet, sind Warnschilder am Straßenrand, die vor Wildunfällen warnen. „Achtung, Reh“: welche Berechtigung die Anhäufungen jener Schilder haben, kann ich selbst erleben. Im Rückspiegel kann ich gerade noch sehen, wie ein großes Reh die Straße quert, nachdem ich passiert haben. Ich fahre nicht eben schnell, das gibt die Beschaffenheit der Fahrbahn gar nicht her – aber dieses Reh hätte ich nicht gesehen.
Gegen achtzehn Uhr komme ich in Soroca an, an meinem Hotel. Mein erster Eindruck: Soroca ist eine schattige Stadt. Alte, ausladende Bäume sind in der gesamten Stadt verteilt, säumen die Straßen, bilden Alleen, spenden wohltuenden Schatten. Nicht zum ersten Mal fällt mir auf, dass Moldawien in ihren Städten wie ganz selbstverständlich auf „grün“ setzt.
Mein Hotel. Ich halte am Straßenrand an, weil ich verwirrt bin. In der Front steht mir ein altes Gebäude mit zerschlagenen, blinden Fenstern gegenüber, in staubigen Buchstaben steht „Dacia“. Früher eindeutig ein schöner Bau, doch nun lebt dort keine Seele mehr. Ich reibe mir die Augen, schaue aufs Navi, reibe mir die Augen. Das Navi sagt: „Du bist da.“ Das ist jetzt nicht wahr. Mein leises Flehen wird prompt erhört, denn nach ein paar Schritten taucht ein neuwertiges Hotel auf, just rechts von mir um die Ecke. Das Hotel, das ich nicht sah, weil ich direkt darunter stand.
Die Dame an der Rezeption ist eine nette, russischsprachige, ältere Frau. Mir fällt während meines Aufenthaltes hier auf, dass Soroca fast komplett russischsprachig ist. Du kommst mit Russisch weiter, mit Englisch – überhaupt nicht. Hast du hingegen eine Translate-App mit der Möglichkeit, auf den Wortschatz einer Sprache auch offline zuzugreifen, bist du gesegnet. Doch hier, an der Rezeption, mit meinen Polnischkenntnissen und ihrem langsam gesprochenen Russisch verstehen wir uns. Schließlich sagen wir beide einstimmig: „Dogadamy sie“ (polnisch für: wir kommen klar, wir verstehen uns). Die Frau gibt sich viel Mühe – wie sich überhaupt andere Menschen Mühe geben, um auf mich einzugehen. Ich bekomme mein Zimmer.
Neben mir steht jemand, der sich ebenfalls mit einer Übersetzer-App quält. Es ist ein belgisches Paar, das hier in Moldawien unterwegs ist. Am nächsten Morgen sehe ich sie beim Frühstück wieder und wir kommen ins Gespräch. Schließlich halte ich es nicht aus und frage: „Was machen Sie hier in Moldawien? Wie kommen Sie darauf, hierher zu reisen, warum gerade dieses Land?“ Ungeachtet dessen, dass ich schließlich auch hier bin, brennt es mir in den Fingern, zu erfahren, wieso noch jemand außer mir auf eine solche Idee kommt. Es gibt doch diese typischen Urlaubsdestinationen, Spanien, Italien und wie sie alle heißen.
Der Mann scheint von beiden der Initiator dieser Reise zu sein, denn er sagt: „Es war schon immer in meinem Kopf.“ Die beiden haben sich zwei Wochen Zeit genommen, um sich das Land anzuschauen. Mit meinen sechs verfügbaren Tagen – weil es hier ja „nix gibt“-, bin ich dezent neidisch. Moldawien hat sich als vielfältiger entpuppt als anfangs gedacht. „Zu lang sind zwei Wochen auf gar keinen Fall.“ Sagen die beiden einstimmig. Das Land hat viel zu bieten, man glaubt es gar nicht.
Die freundliche Dame von der Rezeption bringt mir einen Korkenzieher und sogar ein Glas für meinen 2009er Merlot, den ich nun verköstigen werde. Leider kann ich das Geschenk der Weinkellerei in Milestii Mici nicht ins Flugzeug nehmen, da ich nur mit Handgepäck verreise. Gerne hätte ich ihn mit der Familie geteilt. Doch – so schreibe ich meinem Onkel – er wird sich schon nicht verschwenden.
Es ist Wochenende, vor meinem Fenster schreien Kinder und lärmen Jugendliche. Es wird bis in die Nacht hinein so gehen. Aber das macht nichts, ich hab ja den Merlot. Mein Wochenende kann kommen.
Am nächsten Morgen treffe ich das niederländische Paar beim Frühstück. Serviert werden die leckeren Köstlichkeiten von einer grimmig aussehenden Dame, die nochmal nachfragt, ob wir das Frühstück auch tatsächlich bezahlt haben. Beim Essen komme ich mit dem Paar in ein längeres Gespräch, nach dem für mich eines feststeht: ich habe mir zu wenig Zeit für dieses Land genommen. Umso mehr ein Grund, um zurück zu kehren. Falls mich nicht der Rest der Welt in Anspruch nimmt.
Wohin werde ich fahren? Was werde ich unternehmen? Diese Gedanken schwirren durch meinen Kopf, während mich meine Füße bereits automatisiert zum Auto tragen. Infrage käme natürlich das Erkunden der näheren Umgebung, insbesondere der Innenstadt von Soroca, doch auch ein wenig außerhalb hat der Ort interessante Plätze, die ich nicht missen will. Ich drehe zwei Runden durch die schattigen Straßen, ehe ich auf die richtige Spur gelange, und verlasse das Zentrum. Der Weg führt mich vorbei an Gipsys Hill, dem berühmten „Zigeunerhügel“, wo sich die Minderheit der Roma (die in Soroca wohl die entscheidende Mehrheit stellt) prunkvolle Häuser erbaut hat. Ich fahre vorbei an großen Palästen mit goldenen Dächern. Manche davon sehen bezugsbereit aus, manch andere wirken so, als wäre jemanden während des Bauens das Geld ausgegangen. Es sind nicht allzu viele Menschen auf den Straßen zu sehen. Ich halte nach dem selbsternannten „Zigeunerbaron“ Ausschau, der vor seinem Haus steht, auf Touristen wartet und sie gegen eine Spende in seinem Zuhause herumführt. Es steht tatsächlich jemand da, auf den die Beschreibung zutreffen könnte, doch ich halte nicht an. Ich werde auf dem Rückweg hierher zurückkommen, jetzt ist das Ziel ein anderes.
Candle of Gratitude
Wir verlassen nun kurz diesen Ort und spulen die Zeit ein wenig vor, bis zu diesem Moment, in dem ich das Auto anhalte und die Scheiben herunter lasse. Ich stehe in einer Reihe mit anderen geparkten Fahrzeugen im Schatten grüner Bäume vor einer kleinen Kirche, die bis zum Anschlag voll ist und aus der lauter Gesang dringt. Schick gekleidete Menschen haben sich traubenförmig um den Eingang versammelt, drinnen wird die Messe gelesen. Dieser Anblick ist es, der mich zum Anhalten bringt. Bis zu meinem Zielpunkt ist es nur noch ein kleines Stück, welches ich gut zu Fuß gehen kann. Vorbei an einem Friedhof voller alter Bäume, an der Kirche und ihren Betenden, weiter den staubigen, trockenen, unbefestigten Weg entlang.
Die Kirche steht mitten in einem kleinen Dorf. Die Anwohner schlafen wohl noch – oder es hat sich alles, das noch atmen kann, an der Kirche versammelt. Jedenfalls ist niemand zu sehen, weder an den schön gestrichenen Häusern, noch an den üppig blühenden Gärten, am Dorfbrunnen nicht, an dem ein Eimer an einer Kette hängt und auch nicht an den Kirschbäumen, deren Äste sich tief nach unten beugen und an denen einladend tiefrote Kirschen glänzen. Nur ein Hund bellt mich an. Hunde sind die natürlichen Alarmanlagen der östlichen Länder. Sie lassen sich kaum beschmusen oder bestechen. In den ländlichen Gebieten Osteuropas ist es fast unmöglich, sich als Fremder unbemerkt durch einen Ort zu bewegen.
Ich bin froh, zu Fuß auf diesem unbefestigten Weg unterwegs zu sein. Schneller wäre ich mit dem Auto auch nicht voran gekommen, ohne mich um die Reifen sorgen zu müssen. Die letzten Häuser bleiben hinter mir zurück und noch immer begegnete mir in dem urigen Dorf keine Menschenseele. Die Sonne brennt immer heißer vom Himmel herab. So völlig losgelöst von der Realität kommt mir ein Gedanke, der sich irrational anfühlt: hey, ich spaziere hier mitten durch moldawische Pampa. Realität, das ist Deutschland, Fachwerk, Bäcker, was man so kennt. Realität ist nicht, am anderen Ende Europas zu sein. Das hier ist surreal.
Schon von Weitem sehe ich die Spitze dieses Baudenkmals. Ich hätte vermutet, alleine hier zu sein, doch der Zugang zur Kapelle ist umringt von einer Schar Kinder im Schulalter. Ein älterer Mann kommt zwei Schritte auf mich zu. „Sind sie hier, um Eintrittstickets zu verkaufen?“ Frage ich ihn in meinem perfektesten „Hand und Fuß“. Nein, antwortet er, nachdem er mich einigermaßen verstanden hat. Er sei hier so etwas wie der Wächter. Auf der anderen Seite, im Schatten der Bäume, sitzen bekopftüchelte Frauen, die Souvenirs verkaufen.
Die Kerze der Dankbarkeit ist ein Denkmal und eine kleine Kapelle zugleich, die sich auf einem felsigen Hang oberhalb des Flusses Dnister befindet. Von hier oben schaut der Besucher auf umliegendes Land. Der Dnister bildet die Landesgrenze zu Ukraine, und hinter dieser Grenze sind ganze Dörfer bestehend aus kleinen Legosteinhäusern zu sehen. „Ukraine, wow!“ Ertönt halblaut aus Kindermündern, während die russischsprachige Schulklasse um mich herum an der niedrigen Mauer klebt und auf die andere Seite starrt. Auch für mich ist es ein besonderer Moment. Schon seltsam, denke ich mir. Hört man die Nachrichten, produzieren sich Bilder im Kopf. Etwas in mir hätte erwartet, dass hinter der Grenze, hinter den grünen, sanften Landen Moldawiens alles grau ist, rauchend, zerbombt, verbrannt. Selbstverständlich ist es nicht so. Hier in diesen Zipfel, wo sich das ukrainische Land wie eine Biegung in die moldawische Landkarte schmiegt, kam der Krieg nicht an. Es ist ruhig, friedlich, genau wie auf dieser Seite auch.
Die Kinder recken die Köpfe. Die Kinder machen „wow“. Ich höre russisch um mich herum. Warum ist die Ukraine so faszinierend? Erzieherinnen lassen ein Gruppenfoto mit der schnatternden Schar machen. Ich ziehe mich zurück. Dann lehne ich mich an die niedrige Mauer und spähe zu den Orten auf der anderen Seite in der Hoffnung, dort Menschen zu sehen. Stattdessen sehe ich die Biegung des Flusses und die Farben des osteuropäischen Sommers, Grün und Sepia. Denke über den Krieg nach inmitten der friedlichen Landschaft.
Was ist die Kerze der Dankbarkeit und wofür wurde sie erbaut? Die Kapelle – denn nichts anderes ist sie in Wahrheit – wurde errichtet zum Andenken und zu Ehren all jener bedeutsamen Persönlichkeiten, die sich in der Vergangenheit dafür einsetzten, die Kultur und Traditionen Moldawiens zu erhalten. Da ich selbst keine passenderen Worte gefunden hätte, übernehme ich die Erläuterungen von „HalloMoldowa“:
„Die Kerze der Dankbarkeit, dieses Denkmal ist eine Hommage an alle unbekannten Helden, an die Menschen, die die Sprache, Kultur und Geschichte unseres Landes Moldawien in der bunten Palette der menschlichen Zivilisation bewahrt haben. Das Denkmal verewigt auch die Erinnerung an den großen unbekannten Dichter, der die Ballade „Mioritsa“ schrieb.
Hier, mit den Fundamenten als Ausdruck, liegen all der Schmerz, der Fleiß und die Hoffnungen vieler Generationen unserer Landsleute begraben. Dieses Denkmal ist ein außergewöhnliches Werk des Bildhauers. Es ist allen zerstörten Elementen der moldawischen Kultur gewidmet.“
Spannend! Umso mehr, als ich diese Ecke Europas nicht kenne. Danke für die Einblicke, die du uns gewährst!
Soroca war ein kleines Highlight dieser Reise. Und der alte Mann hatte mich tatsächlich verflucht, fürchte ich… ach warte, war das die nächste Folge?
Möge ihm beim nächsten Fluch die Zunge abfaulen 😇!
Jawohl! Gib ihm! 🙂
Wieder ein toller Beitrag über Moldawien von Dir. So langsam bekomme ich auch Lust da hinzufahren.
Oh, das freut mich. Eben darauf zielen die Geschichten ab: Lust auf das Land zu machen.