31.06.2024
Das Frühstück heute: reichhaltig. Die Spiegeleier esse ich, die drei dicken, gebratenen Wurstscheiben packe ich mir ein für später. Der Hausherr versucht jeden Tag, mir eins- bis zwei neue Wörter auf rumänisch beizubringen.
Pünktlich um acht klopft es an meine Tür. Ich höre den Hausherrn rufen. „Ich komme!“ Antworte ich und trete nach draußen in das taufeuchte Gras. Die frische Sonne spielt mit dem Laub der Obstbäume und der Duft von Jasmin liegt in der Luft. Mein Frühstück steht, ebenso wie das Abendessen am Tag zuvor, auf dem Tisch im Schutz eines Pavillons für mich bereit. Im Übrigen musste für das „Hühnchen“ gestern kein Huhn sterben, zunmindest keines aus der hiesigen Haltung. Das Gericht entpuppte sich als ein Hühnerleberteller mit Kartoffeln. Wie gut, dass ich zu den Menschen gehöre, die so ziemlich alles essen – es war lecker. Dazu gab es hausgemachten Wein.
Das Frühstück bereitet der Besitzer den Gästen eigenhändig zu, in einer Sommerküche, die sich in den niedrigen Gebäuden gegenüber dem Haupthaus befindet. Da steht er mit Küchenschürze gerüstet und mit Pfanne bewaffnet und rührt und brät und schnippelt. „Multumesc!“ Rufe ich, als mein Gastgeber wieder an mir vorbei läuft. „Forte gusto!“ Er nickt zufrieden. Der Unterricht läuft.
Der geänderte Tagesplan heute beinhaltet einen morgentlichen Besuch der Hauptstadt. Nach reiflicher Überlegung und einem Hin- und Herschieben der Pünktchen auf meiner Route beschließe ich, den umfangreichen Ausflug in die autonome Republik Gagausien auf einen anderen Tag zu verschieben. Pünktlich um fünfzehn Uhr soll bereits die Besichtigung der Weinkellerei beginnen. Also geht es in das nahe gelegene Chisinau.
Chisinau
Der Russe im Auto vor mir muss mich für bescheuert halten. Genauso wie der Mann vor ihm. Und der feiste, grimmig dreinblickende Parkplatzwächter. Dabei bin ich keine schlechte Fahrerin. Nein, auch im Ausland nicht. Ich blicke gerade nur das System nicht. Zur Erklärung: du fährst rein, wo eigentlich „Ausfahrt“ steht. Denn die „Einfahrt“ zum Parkhaus ist vollständig zugeparkt. Doch da, wo „Ausfahrt“ steht, fahren Leute auch raus. Hier gilt es, sich zu einigen. Doch nach fünf Minuten warten auf die unentschlossene Frau in ihrem Kia Picanto wird selbst der zuvorkommendste Russe oder Moldawe irgendwann mal ungeduldig. Verständlich.
Bist du erst einmal hinein gelangt, folgst du den anderen Fahrzeugen scharf um eine 180 Grad Kurve. Lässt dich einweisen. In die Parklücke. Oder vielleicht auch anderswo, den Blicken der Leute nach zu urteilen.
Ansonsten? Ich muss sagen, dass die Moldawen trotz des dichten Verkehrs und des hin und wieder scharfen Gehupes recht rücksichts- und verständnisvolle Fahrer sind. Man überlebt dort ganz gut als „hilflose“ Frau, auch wenn man sich unüblicher Weise an die Geschwindigkeitsvorschriften hält. Erleichtert überlasse ich mein Auto den vertrauensvollen Händen des grimmigen Parkhausmitarbeiters, dessen Gesicht aussagt, ich möge doch bitte kein motorisiertes Fahrzeug mehr besteigen, um des lieben Himmels Willen. Dann marschiere ich los, um der Quelle der eben im Vorbeifahren belauschten, fröhlichen Festtagsmusik auf den Grund zu kommen. Bunte, leuchtende Lampions in tiefgrünen Baumkronen ziehen mich wie magisch in den nächsten, städtischen Park. Schneller, sicherer Schritt, nicht zu viel in die Gegend schauen. Bislang klappt es recht gut, mich als „Einheimische“ zu tarnen.
Chisinau – oder Kischinau – ist eine grüne Stadt. Ja, natürlich ist es wie erwartet und die vielen Gebäude aus der Sowjetzeit haben bereits den Zahn der Zeit verspürt. Natürlich verfällt hier und dort mal etwas vor sich hin. Und natürlich ist es… wäre es grau, wenn die vielen Bäume, die vielen Blumen und die vielen Parks nicht wären. Einige alte Villen wurden bereits mit EU-Geldern saniert, es gibt Luxushotels und am Stadtrand wachsen neuwertige Wohnhäuser aus dem Boden.
Ich muss in einen nationalen Feiertag geraten sein. Bei meiner Ankunft höre ich Musik, sehe Tänze und jede Menge schick gekleideter Menschen. Vor allem Kinder im Schul- und Jugendliche im Studentenalter haben sich herausgeputzt: weiße Bluse oder Hemd, dunkle Hose oder Rock. Die älteren Schüler und Studenten tragen beige, feierliche Kleider, mit roten Schärpen über der Brust drapiert.
Es ist Anfang Juni, der letzte Schultag heute in Moldawien, und die Älteren sind Schulabgänger. Das erinnert mich an meine polnische Schulzeit Mitte der Neunziger, die, zugegeben, nicht allzu lange gedauert hat. Der erste und der letzte Schultag waren immer etwas Besonderes. Schicke, weiße Blusen, ein schwarzer oder roter Faltenrock. Gesänge, Reden, vorgetragene Gedichte auf einer Bühne in der Turnhalle. Vorgesungene, patriotische Lieder, das Ganze zweimal im Jahr. Wie verwundert- und enttäuscht ich war zu Beginn der fünften Klasse an einer Heppenheimer Schule, als es dann hieß, man solle einfach erscheinen, ein Bisschen da bleiben, und nach einem kurzen Gespräch wieder nach Hause gehen. Wo ist mein schicker Rock? Wo sind die Lieder und Gedichte, wo ist meine Feier?
Als ich das Prozedere „Parking“ hinter mich gebracht habe, hat sich die Schulfeier scheinbar bereits aufgelöst. Es sind keine Lieder mehr zu hören. Dafür werden die Parks und Cafés immer voller. Manche Lokale haben ihren Eingang mit Schleifen und Blumengirlanden geschmückt. Dort lassen sich die Schüler nieder, um den feierlichen Tag ausklingen zu lassen.
Mein „Parking-Desaster“ hatte mich in das Stadtzentrum geführt, so dass ich direkt in den Ștefan cel Mare Park stolpere. Dieser Name wird mir noch öfter in Moldawien begegnen, sei es in Gedenkstatuen oder in Park- und Straßennamen wie hier. Deshalb ist es an der Zeit, sich vorab mit dieser im Land berühmten und verehrten Persönlichkeit zu beschäftigen.
Stefan cel Mare
Eine Traube Menschen posiert für ein Gruppenfoto. Positioniert haben sie sich um die Statue eines Herrschers, der sein Schwert erhoben trägt. Das sieht ja spannend aus, denke ich mir und komme näher, als die Menschen bereits wieder weiter sind. „Stefan cel Mare“, lese ich. Welch eine Überraschung. Ein Name, der sich wiederholt. Das hat seinen Grund.
Stefan cel Mare, oder: Stefan der Große war ein Wojewode in Moldawien des 15 Jahrhunderts. Er widersetzte sich erfolgreich der Bedrohung aus Richtung Ungarn, das in Konkurrenz mit dem Königreich Polen stand. Beide versuchten, immer wieder Einfluss auf die südeuropäischen Staaten auszuweiten und Moldau unter ihre Kontrolle zu bringen. Stefan der Große zog gegen den ungarischen König Matthias Corvinus in die Schlacht und besiegte ihn vernichtend. Mehrfach widersetzte er sich auch den Osmanen, mit denen er zu Beginn eine Vereinbarung schloss und die Moldawien mehr und mehr unter Druck setzten. In der Schlacht bei Vaslui besiegte sein Heer, das nur 40 000 Mann zählte, die osmanischen Streitkräfte, die mit 120 000 Kämpfern in die Moldau einfielen.
Doch es sind nicht nur ausgefochtene Kämpfe, die sich in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Nation brannten. Zur Zeit des Stefan cel Mare erfuhr das Land eine große kulturelle Entwicklung. Kirchen und Klöster, die er erbauen ließ, befinden sich heute unter der Schirmherrschaft der UNESCO. Da nach seiner Regentschaft und unter osmanischem Einfluss keine weiteren Festungen in Moldawien erbaut werden durften, sind die vorhandenen Ruinen fest mit dem Namen Stefan cel Mare verbunden und erinnern die Menschen an die glorreiche Vergangenheit des Landes. Die Figur des Wojewoden wird idealisiert und er selbst als Nationalheld verehrt. Alle Jahre wieder finden Feierlichkeiten anlässlich seines Todestages statt. Sein Name steht symbolisch für die Unabhängigkeitsbewegung der Republik, zuletzt für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Der Platz um sein Denkmal wird als Ort für Versammlungen und Proteste genutzt. Viele Straßen, die ehemals die Namen der sowjetischen Persönlichkeiten trugen, wurden nun nach dem Nationalhelden benannt. Das ist der Grund dafür, dass mir der Name „Stefan cel Mare“ überall begegnet. Man braucht nicht viel oder auch nichts über ihn zu wissen, und doch spürt man bereits bei der Ankunft in dieser Hauptstatt, in diesem Land, dass es sich um jemand Bedeutsames handeln muss.
Regierungsviertel
Von hier aus bewege ich mich in Richtung Triumphbogen. An einer Menge repräsentativer Gebäude vorbei passiere ich das Parlament mit vergoldeter Fassade und sichtbarem Wachschutz. Auch wenn viele der Bauten aus sowjetischer Zeit so langsam nicht nur den Zahn, sondern das Gebiss der Zeit spüren, strahlt das Gebäude in neuem Glanz. Das Weiß und Gold der Fassade reflektiert die Sonnenstrahlen und blendet meine Augen. Ach, Moldau.
Vor einer kleinen Kirche sitzt eine alte, bekopftuchte Frau und schaut mich erwartungsvoll an, als ich näherkomme. Ich begnüge mich mit einem Foto von außen. Gern hätte ich das Innere der Kirche gesehen und der Dame gar einen kleinen Obolus gegeben, doch ich habe mein Geld noch nicht getauscht.
Der Dendrarium-Park ist mein erklärtes Ziel, und dort: die Kaskadentreppe. Er ist eine der größten Grünanlagen der Stadt und soll, gerade zu dieser Jahreszeit, die schönsten Rosen von ganz Moldawien sein eigen nennen. Der Park ist im Westen der Stadt gelegen. Um ihn zu erreichen, sind viele Schritte über mal mehr, mal weniger brache Bürgersteige in steigender Hitze nötig. Aus Neugier wird Anstrengung, dann Erschöpfung. Graffiti an den Wänden, sobald ich mich in eine Seitengasse vertiefe. Der Lärm des Verkehrs hallt in meinem Kopf und ermüdete mich zusätzlich zu der auf dem Kopf brennenden Sonne. Die Hauptwege lassen sich passabel begehen, dafür sind die Seitenstraßen voller Löcher.
Nach langem Suchen – die Entfernungen in Chisinau sind nicht zu unterschätzen – finde ich den Eingang. Der Park ist kostenpflichtig und obgleich der zu zahlende Betrag mit umgerechnet vier Euro lächerlich gering ausfällt, habe ich nicht mal diese – nicht in Moldawischen Lei. Ein ATM muss dringend her. So vieles habe ich über Manipulationen von Geldautomaten im öffentlichen Raum gelesen, insbesondere auf dem Balkan.
Wieder im Zentrum spreche ich jemanden an. Ich vertraue auf meinen Instinkt und mein Gespür für Menschen. Der Mann telefoniert gerade auf englisch, und da er sich, relativ gut gekleidet, in der Nähe eines großen Hotels aufhält, identifiziere ich ihn schnell als einen Berufsreisenden auf Dienstreise. Er versteht erstens meine Sprache, zweitens wird er sicher wissen, wo ich Geld abheben kann, schließlich muss er selbst irgendwie an die lokale Währung kommen. Der Mann bedeutet mir, kurz zu warten und startet ein neues Gespräch auf russisch. Als auch das beendet ist, zeigt er auf eine große, sehr elegante und von Security bewachte Bank, an der ich soeben vorbeigegangen war. Die Automaten befinden sich drinnen, auf der rechten Seite vom Eingang. Als ich reingehe, sind gerade zwei Polizisten dabei, ihren Transaktionsvorgang zu beenden. Diese zwei Bankomaten sind sicher, wenn sogar die Chisinauer Polizei hier verkehrt. Glücklich stolpere ich wieder ins Tageslicht. Ich habe moldawisches Geld.
Trotz der teilweise abgewrackten Fassaden um mich rum befinde ich mich scheinbar im schickeren Viertel der Stadt. Das merkt man an den Banken, Hotels – und an den Preisen. Ein für hiesige Verhältnisse sündhaft teurer Matcha Latte muss her – zur Feier des Tages. Ein Café, ein Tisch draußen im Schatten duftender Lindenbäume. Um mich herum Studenten, Reisende. Ich höre Chinesisch, Englisch, Rumänisch. Kischinau international.
Die schattigen Seitengassen der Stadt bieten so manche Überraschung, wie die gut versteckte, farbenfrohe und teils politisch motivierte Streetart. Nicht erhörte Positionen, die sich Bahn brechen wollen. Wie die, dass Moldawier keine Rumänen sind – falls ich das Graffito richtig interpretiere.
Meine letzte Station ist das Denkmal für die Opfer der sowjetischen Okkupation, welches aus einem einfachen, massiven Granitblock mit Innschrift besteht. Dann richte ich meine Schritte wieder zum Parkhaus, wo mich der grimmige, massive Parkwächter auf Anhieb wiedererkennt. Man muss der Frau natürlich aus der Parklücke helfen. Wie ich so lange ohne männliche Unterstützung überlebt habe..?
Danke für diese Einblicke in ein ganz besonderes Land abseits der üblichen Touristen-Ströme.
Gerne, ich freue mich über dein Interesse.
Beruhigend ist ja schon mal, dass du dort garantiert nicht dem Hungertod geweiht warst. Dann schon eher dem Untergang im Parkhaus 🤣. Und kaum bist du ohne deinen Stefan unterwegs, gibt es schon gleichnamigen Ersatz, der dir in der Stadt offenbar auf Schritt und Tritt folgte. Schöne Street Art haste entdeckt!
Es gibt Schlimmeres als von bedeutenden Persönlichkeiten verfolgt zu werden 😉 Und Hunger? Nicht mal annährend, für ein solides Frühstück war immer gesorgt, gepaart mit ein wenig Sprachunterricht.
Die Streetart zeigt, wie jung die Stadt eigentlich ist. Und ich war überrascht davon, wie grün sie ist, wie auch andere moldawische Orte. Man stellt sich da immer postsowjetische Betonwüsten vor, doch das ist oft nur ein Teil des Gesamtbildes.
Ja, oft bekommt man in den Medien nur die Klischees präsentiert.
Richtig 🙂