Als wir an unserem Bestimmungsort ankommen, ist es bereits dunkel.
Unser Camp für die Nacht befindet sich an einem Ort, wo sich blendend weiße Dünen an hohe Felsen schmiegen. Links das türkisene Meer, rötlich die zackig aufsteigenden Felsen wie ein ausgefranster Fächer. Ein unwirklicher Ort. Leider kommen wir erst in der Dämmerung an.
Bis die Zelte aufgebaut sind, ist es dunkel. Morgen früh Abfahrt, Frühstück soll es bereits um sechs geben. Ungünstig organisiert; diesen schönen Ort können wir nicht nutzen.
Das Meer frisst sich an vielen Stellen über schmale Kanäle in den Sand und ins Land hinein. Ich überspringe das fließende Wasser, meine Ausrüstung in den Händen. Diesmal legen die Guides beim Aufbau der Zelte wieder eine Hand mit an. Das liegt an der unebenen Beschaffenheit des sandigen Bodens. Schließlich wollen wir es in der Nacht möglichst bequem haben.
Als alles steht, lasse ich es mir nicht nehmen, einen kleinen Spaziergang im Dunkeln zu machen. Mit meiner Taschenlampe gehe ich in Richtung Meer. Die hinter mir aufragenden Dünen sind längst nicht mehr zu sehen, dafür ist Leben an den Strand getreten. Viele große, weiße Geisterkrabben geistern vor mir herum, fliehen vor dem Licht der Taschenlampe. Mit ihren Stielaugen spähen sie misstrauisch zu der unbekannten Lichtquelle.
13 März 2023
Dünen, die sich an Berge schmiegen. Licht- und Schattenspiele auf Sand. Türkisblaues Wasser. Naturquellen, die von oben aus den Bergen kommen, durch das Gestein gefiltert ins Meer fließen, lange Rillen im Sand hinterlassend. Geisterkrabben am Strand, eine eingespielte Einheit auf Rückzugsmission wie eine Division kleiner Roboter. Ein einsamer Reiher.
An diesem Morgen stehe ich bereits um vier auf. Rechnet man die Zeitverschiebung dazu, ist es in Deutschland noch mitten in der Nacht. Und ich offiziell Reise-irre. Das tue ich jedoch, um herum zu wandern, Aufnahmen von der Szenerie zu machen. Nur ein einziger von unserer Crew ist auf und wuselt in seinem roten Crew-T-Shirt lautlos herum. Kurze Zeit später steckt Gerti II den Kopf heraus und schält sich aus dem Zelt. Sie will die große Düne erwandern, die sich direkt an unserem Camp an die Felswände schmiegt und an die dreihundertneun Meter misst. Entfernungen verzerren hier die Wahrnehmung, die Dimensionen sind ganz andere als es auf den ersten Blick scheint. Die Dünen sind sehr hoch. Das sehe ich erst, als ich Gerti als kleinen Strich im Sand aufwärts gehend verschwinden sehe.
Der Himmel, der sich langsam färbt, wirkt dramatisch. Ein tiefes Violett, welches nur langsam ins Helle übergeht und alles um mich herum in sanftes rosa Licht taucht. Links und rechts an die Felsen geweht die zwei weißen Dünen, wie Zwillinge. Dazwischen eine recht große Höhle im Fels, von der ich mich frage, was dort ist – und die bei genügend Zeit gut fußläufig zu erreichen wäre. Das ist es, was ich täte, wenn ich länger Zeit hätte – hinauf klettern, auf der Jagd nach unentdeckten Geheimnissen.
Mit jedem Schritt wird das Camp immer kleiner, die Düne wirkt aus der Ferne wie ein perfektes Dreieck. Die Felsspitzen verschwinden in den weichgezeichneten Wolken. Meine Schritte wenden sich dem Meer zu. Das rauchige Wasser, die rauchgrauen Gebirge, die Wellen fangen die intensive Färbung des Himmels auf. Ein Rauschen umgibt mich. Steinbrocken, groß und klein, schwarz wie Mohnkörner, im Sand verstreut. Geier kreisen lautlos über dem Meer. Das von den Felsen herabfließende Wasser formt ganze Bäche im Sand; man muss sich eine passende Stelle suchen, um trockenen Fußes hinüber zu gelangen. Oder man zieht seine Schuhe aus und watet. Ein Stück weiter oben, wo sich das Süßwasser in die Landschaft ergießt, eher es das Meer erreicht, ist die Vegetation ungewöhnlich grün und kräftig. Gräser, blühende Pflanzen, kleine Bäume – so viel Leben zwischen den Steinen.
Eine Zeit lang gehe ich meiner Lieblingsbeschäftigung nach: den Wellen dabei zusehen, wie sie ans Ufer schlagen. Ganz sanft und leise. Dann, in einem zarten, fast schüchternen Rot, zeigt sich die Spitze der Sonne über dem Wasser. Ein blutroter, kleiner Tropfen zwischen den taubengrauen Wolkenfetzen, der eben noch nicht da war. Und wie sehr ich mich auch bemühe, dieses intensive Rot des kommenden Tageslichts kann ich mit meiner Kamera nicht einfangen. Ich seufze frustriert und senke die Kamera. Es wird einfach nicht so, wie meine Augen es sehen.
Die ersten gehen am Strand spazieren. Das Rot wird zu Orange. Daraus schält sich langsam die türkisene Farbe des Meerwassers heraus. Ein Fest der Farben, dieser Morgen. Ganz oben, für das bloße Auge kaum zu sehen, steht Gerti II auf der Spitze der dreieckigen Düne, die zu erklimmen sie sich vorgenommen hatte.
Auch Michael, unser Botaniker aus Leidenschaft, ist in seinem Element; er lichtet am Strand alle ihm unbekannten Blümchen ab. Das steckt mich sogar an. Die Pflanzenwelt hier ist einzigartig. Überhaupt ist hier so vieles einzigartig. Die Sandspuren eines kleinen Vogels, wie Reifenspuren im Miniaturformat. Diese beiden Höhleneingänge über uns, von denen ich nur zu gerne gewusst hätte, ob sie einst bewohnt waren und ob dort Siedlungsspuren zu sehen sind. Ein Geröll aus Felsbrocken führt nach oben, dazwischen fände sich bestimmt ein Weg. So sinniere ich vor mich hin, während ich auf das Frühstück warte.
Das Frühstück ist für sechs Uhr angesetzt, doch zu dieser Uhrzeit hängt unsere Crew noch immer verkatert in den Seilen. Eine böse Stimme sagt etwas von „zu viele Katblätter gekaut“, und ich bin geneigt, dem zuzustimmen. Denn um sieben ist das Frühstück noch immer nicht vollständig auf dem Tisch. Wir fahren gegen halb acht los, zu regulären Zeit, kann man sagen. Zeitplan hin, Zeitplan her – doch ich hätte es Gerti gleich getan und die Düne erklettert. Ich habe nichts gegen unerwartete Planänderungen, ich muss es nur vorher wissen. Am besten Stunden vorher. Spontanität mit Ansage ist doch etwas Tolles. Und ich bin Tourist, ich habe Zeitdruck. Ich habe tausend Hummeln im Allerwertestem, die im Chor summen: du kommst nie wieder hierher, nutze jeden Augenblick.
Der Sonnenaufgang spiegelt sich im klaren Wasser der Zuflüsse. Die Fahrt dauert nicht allzu lange, und währenddessen hänge ich, auf alles pfeifend, aus dem Autofenster, um die Bergdünen und diesen fabelhaften Puderzuckerstrand auf Chip zu bahnen. Die Farben der See entfalten sich mit jedem Millimeter steigender Sonne. Sie werden zu einem leuchtendem, fluoreszierendem Türkis. Hell vom Licht bestrahlt heben sich Häuser und Boote ab. Lange währt unsere Fahrt über dem Strand jedoch nicht; ein geplatzter Reifen macht unserem Zeitplan zum wiederholtem Male den Garaus. Ich segne die spitzen Steine auf unseren Wegen und ich segne den geplatzten Reifen. Glücklich springe ich aus dem Wagen, froh, doch noch ein paar unerwartete Augenblicke hier am Strand stehlen zu können. Währenddessen macht sich die Crew daran, ein weiteres Mal die Prozedur „Radwechsel“ zu einem erfolgreichen Ende zu bringen (wo haben sie den Ersatzreifen schon wieder her?).
Wir stöbern in alle Richtungen auseinander, jeder seine Kamera in der Hand. Na, vielleicht außer Guide Gerti, sie bannt die faszinierenden Bilder um sich herum auf ihre Netzhaut und in ihr Gedächtnis.
Schmutzgeier kreisen schwerfällig über uns. Ich weiß nicht, wonach die großen Vögel Ausschau halten. Vermutlich nach Krabben oder auch, dass einer von uns stolpert und nicht wieder aufsteht. Noch ist es nicht soweit.
Seltsame, dreieckförmige „Pyramiden“, aus Sand errichtet, bilden am Strand ganze Siedlungen. Der ganze Strand, soweit das Auge reicht, ist voller spitze Dreiecke aus Sand, was ihm das Aussehen eines skurrilen Panzers verleiht. Es sind Wohnsitze der Geisterkrabben, die in Scharen auf das Meer zu – und dann vor einer Welle fortrennen, gleichförmig, die ganze Kolonie. Vor und zurück, vor und zurück: wie ein einstudierter Tanz sieht das aus. Mit ihren allzeit überrascht guckenden Stielaugen sind die Tierchen irgendwie echt süß.
Möwen versuchen, ein einzelnes Tier zu erwischen. Das Tageslicht hat nun vollends die Kontrolle übernommen, doch noch immer bleiben die oberen Bereiche der Felsen zu unserer linken in zarten Wattebäuschen von Wolken verhüllt. Die einzelnen Strahlen, die hindurch dringen, lassen die Wasserfläche schimmern und malen lichthelle Punkte auf dem Sand der Dünen. Ich nehme eine der allgegenwärtigen Muscheln in die Hände. Sie ist größer als der Kopf einer Katze. Welch ein Glück, dass diese Ökosysteme noch nicht zerstört, diese Muscheln noch nicht aufgesammelt sind. Und dann sehe ich – nanu? – sogar Guide Gerti macht Bilder.
Ja, schade, dass ihr erst so spät am Abend an diesem paradiesischen Fleckchen Erde gelandet seid. Aber immerhin konntest du das grandios Morgenlicht in dieser tollen Landschaft einfangen. Deine Fotos sind klasse geworden, auch wenn du selbst ein wenig damit haderst. Klar, mir fehlen halt die Eindrücke vor Ort zum Vergleich. Nun, mit der Spontaneität ist das tatsächlich so eine Sache! Die Jungs hätten dir zuliebe wirklich vorher ankündigen können, dass das Frühstück katerbedingt nach hinten verschoben wird 😅. Im Ernst: eine Wanderung auf die Düne wäre sicherlich toll gewesen. Aber immerhin kam die nächste Reifenpanne ja gerade zur rechten Zeit. Die Fotos am Schluss dieses Beitrags habe ich auch sehr genossen. Erwähnte ich schon, dass diese Reise von mir aus ewig so weitergehen könnte 😎?
Ich musste mich entscheiden: Düne erklimmen, Strand erwandern, Sonnenaufgang, Krabben, ach, es gab da so viel. Mein deutsches, pünktliches Herz hat geblutet ob der Tatsache, dass wir alle brav am Tisch saßen, und die Sokotris UNPÜNKTLICH waren… Zucht und Ordnung muss doch sein *schnief*
Danke für das Kompliment zu den Bildern. Aus der Zeitperspektive gefallen sie mir immer besser. Inzwischen bin ich etwas entspannter geworden, was das Fotografieren betrifft. Eine Bekannte sagte mir mal: „Willst du fotografieren oder dokumentieren?“ Und für mich ist klar, ich will dokumentieren und erleben. Eine große Kamera hätte nur gestört.
Ein Bisschen geht die Reise noch 😉
Wiedermal sehr interessant, Danke fürs Zeigen und liebe Grüße,
Roland
Vielen Dank, lieber Roland. Ja, es war ein tolles Fleckchen Erde.
„Ich habe nichts gegen unerwartete Planänderungen – Ich muss es nur vorher wissen“
Das ist der Spruch des Tages, sehr geil!!!
Na, ist doch wahr. Mit entsprechender Vorlaufzeit bin ich ein sehr spontaner Mensch 😉
Ich schließe mich dem an. „Spontanität mit Ansage“ hat was!