Am heutigen Tag wird Strecke gemacht. Es geht in das rund vierhundert Kilometer entfernte Al’Ulla, und dafür würde unser Bus etwa sechs Stunden brauchen. Doch trotz alledem werden unsere Guides dafür sorgen, dass wir uns während der Fahrt nicht langweilen. Und zu sehen gibt es so vieles.
Früh aufstehen ist angesagt, das Frühstück ist um sieben. Als ich Stefan um halb sieben aus dem Bett werfe, ist er not amused. Er murmelt etwas über „sowas von keinen Bock“. Seine Bandscheiben haben gestern beim Abendessen nach dem Sitzen auf dem Boden einen wirren Tanz mit ihm veranstaltet, die unbequeme Sitzposition war Gift für den angeschlagenen Rücken. Er schaffte es kaum zum Bus und am Hotel rannte ich ihm mit einer heißen Kompresse entgegen.
Die Gruppe versammelt sich in der Lobby und läuft dann geschlossen zum Frühstück in das gestrige, fußläufig erreichbare Lokal. Alle außer Stefan; ich verspreche, ihm was leckeres mitzubringen.
Diesmal ist das Erstaunen über unser Auftauchen nicht mehr ganz so groß, doch trotzdem müssen Gäste bei unserer Ankunft ihre Plätze räumen. Der große Tisch in der Mitte des Raumes wird freigemacht. Weil wir reserviert hatten? Ich weiß es wirklich nicht. Das Frühstück ist sagenhaft lecker wie immer und die Portionen wieder a la Hatim. Die staunenden Blicke anderer Gäste gibt es gratis dazu.
Zurück im Hotel packen wir unsere Siebensachen zusammen, checken aus und steigen in den Bus. Jetzt ist erstmal fahren, fahren, fahren angesagt. Doch ich bin wach und aufnahmefähig, ich sauge alles in mich auf, was uns unterwegs begegnet.
Wir verlassen Ha’il. Ich beobachte die sich wandelnde Landschaft, während Stefan schläft. In unserem Bus ist jede Menge Platz, so dass jeder einzelne gleich zwei Sitze belegen kann. Bereits am Flughafen in Riad haben wir gerätselt, welches Gefährt denn unsere Reise begleiten soll. Wir haben (typisch deutsch und so…) damit gerechnet, uns zu zehnt in eine kleine Gurke quetschen zu müssen. Als sich der Riesenbus näherte, meinte einer scherzhaft, dies sei sicher unser. Doch ihm verging schnell das Lachen, denn das große Monster, ein Doppeldecker, war wirklich unser Privatbus. Gut, dieser hier, mit dem wir nun fahren, ist etwas kleiner, doch noch immer könnten wir drinnen ungestört Tänzchen aufführen. Wenn wir das denn wollten.
Wir kommen vorbei an verstreuten Orten, Raststätten, Moscheen. Die Landschaft dahinter zeigt sich bergig; die verwitterten, abgetragenen Berge erheben sich inmitten von Sandverwehungen wie Schiffe auf einem Meer voller Nebel – oder als erwuchsen sie aus vergossener Milch. Ich staune über die Landschaft, denn sie ist abwechslungsreich in ihrer Schlichtheit. Sanddünen. Wüste. Dann wieder flaches, sandiges Land, plattgedrückt, weit und fern. Lange Zeit fahren wir durch dieses Nichts.
Irgendwann erwachsen aus diesem Nichts massive Monumente, Felsen, Monolithen, die aussehen, als hätten Riesen mit Murmeln gespielt. Bizarre Formationen in allen erdenklichen Formen: Pferd, Löwe, Gesichter. Abstrakte Kunst der Natur. Es ist ein wenig wie Wolken gucken, sage ich zum inzwischen erwachten Stefan. Da, eine arabische Großfamilie, zur Stein erstarrt. Als wir weiter fahren, wirkt alles einfach nur wie eine krasse Mondlandschaft. Doch dazwischen tauchen Häuser auf, kleine, grüne Oasen, welchen aus tiefen Senken grüne Dattelpalmen emporschießen, überall da, wo Wasser zu vermuten ist. Pflanzen, bewässert mit Sprinkleranlagen. Auch das ist die arabische Wüste.
Das Wetter ist heute trüb und melancholisch, über der sandigen Weite hängen graue Wolken. Wenn ich es nicht besser wüsste, vermutete ich, dass sich noch heute etwas daraus ergießt. Als dann tatsächlich feine Regentropfen die Frontscheibe des Riesenbusses benetzen, ist mir das sogar ein Foto wert.
Für ein wenig Erheiterung sorgt ein weißer Wagen mit abgefahrener, hinterer Stoßstange, hinter den sich ein Polizeiauto gestellt hat. Wir witzeln, denn es besteht der Verdacht, dass es die Polizei selbst gewesen sein könnte, die für das kaputte Blech verantwortlich ist. Denn einen zweiten Wagen, der mutmaßlich in den Unfall verwickelt sein könnte, sehen wir nicht, und die Frontstange am Polizeiauto sieht mehr als beeindruckend aus.
Die zweite, kleine Sensation sind die ersten, von uns erblickten Kamele. Die Dromedare laufen frei durch die Steppe, doch es gibt keinen Zweifel daran, dass sie ausnahmslos jemandem gehören. Manchmal sind die Herden eingezäunt, manchmal erfreuen sie sich ihrer temporären Freiheit. Wir erfahren während der Reise, dass der weggeworfene Plastikmüll, der durch die Wüste treibt, ein großes Problem darstellt. Die Dromedare fressen alles, Tüten, Becher, Schnüre, ganze Zeltplanen. Es seien schon meterlange Seile in Mägen der verendeten Tiere gefunden worden. Wer es sich leisten kann, lässt seine Tiere operieren, denn, da ihre Mägen mit unverdaulichen Müll gefüllt sind, verhungern die Kamele schließlich.
Wir sehen verstreute Nomadenzelte. In der Ferne entdecke ich jemanden, der gemächlich auf einem seiner Dromedare reitet. Und schließlich bekommen wir Gelegenheit, die Tiere aus der Nähe zu sehen.
Der Bus hält. Bewegung kommt in die Gruppe. Wir stellen uns auf den Seitenstreifen der Schnellstraße und unsere beiden Guides wollen uns über die Straße lotsen, denn dort, auf der anderen Seite, stehen die Dromedare nebst ein paar Beduinenzelten. Endlich einen Kamel aus der Nähe sehen, wir wollen losstürmen hin zu den Objekten unserer Begierde.
Doch da ist noch der Polizeiwagen, der ebenfalls ein Stück hinter uns auf dem Standstreifen hält. Laute Rufe lasen uns mitten im Gehen innehalten, der Polizist kommt zu uns rüber. Er will wissen, was wir da machen. Wasim erklärt es ihm. Dann diskutieren sie miteinander. Nach einigem Hin und Her gibt der Polizist sein ok, doch sein Partner hinten im Wagen ist noch immer nicht überzeugt. Jetzt diskutieren die beiden Polizeibeamten miteinander. Schließlich dürfen wir und stürmen los auf die Kamele, die uns aus ihren großen, langwimprigen Augen anblicken.
Und es dauert nicht lange, da kommen auch schon die Eigentümer um die Ecke, sehr erstaunte Beduinen, die wissen wollen, was denn das Tohuwabohu an ihren Zelten zu bedeuten hat und was wir von ihren Tieren wollen. Die Verwunderung muss groß gewesen sein über die Europäer, die sich heuschreckenähnlich über Kamele, Schafe und Ziegen hermachen, sie von allen Seiten fotografieren und Selfies mit ihnen machen. Und zunächst wissen die Hirten nicht recht, was sie davon halten sollen, doch dann haben sie ihren Spaß an der Situation. Ich mache ein paar Selfies mit dem Dromedar, während ein anderer versucht, Marco die Haare vom Kopf und sein Handy aus der Tasche zu fressen. Einer der Beduinen gibt mir die Schnur seines Tieres in die Hand, während ich für das Bild posiere. Ach danke sehr, danke für das Geschenk! Wie schade, dass das Kamel nicht in den Bus gepasst hat.
„Küss mich!“ Sagt Stefan zum Kamel und spitzt die Lippen. Das Kamel dreht sich schleunigst weg…
Marco fragt einen der Männer, was denn so ein Kamel kosten würde – nur um einen groben Richtwert zu erhalten. Wasim übersetzt. Der Hirte überlegt kurz. Etwa tausend Euro, sagt er. Viertausend Rial. Wir hätten alle mit mehr gerechnet, doch wie uns erklärt wird, seien dies hier keine Rennkamele; mehr sowas wie Hausvieh. Die Preise für Rennkamele, für die in S.A. und den Emiraten regelrechte Schönheitswettbewerbe veranstaltet werden, können in Millionenhöhe schießen.
Als wir uns zur Genüge mit ihren Tieren amüsiert haben, wollen nun die Nomaden als Ausgleich Bilder mit den Touristen machen. Auch für sie war das ein noch nicht dagewesenes Erlebnis, diese Westler, die sich so sehr über Viecher freuen. Wir alle sind in Hochstimmung. „Sie werden noch eine Woche lang darüber reden.“ Sage ich.
Die Polizeistreife, die die ganze Zeit über auf dem Standstreifen blieb und alles beobachtet hat, hupt nun kurz zum Abschied und verlässt uns. Vermutlich mussten sich auch diese Jungs die Augen reiben. Am Folgetag wird uns Wasim erzählen, warum die Diskussion mit den Beamten so lange gedauert hatte. Als die Polizei fragte, was wir da tun, sagte Wasim, wir wollen zu den Kamelen. Das konnte der Polizist nicht begreifen und fragte immer wieder: „Was?“ „Wir wollen rüber, die Kamele angucken.“ „W-as??“ Nach dem fünften oder sechsten Mal wurde den Männern klar, dass wir das wohl wirklich ernst meinten und uns nicht etwa einen Scherz auf Kosten der staatlichen Polizei erlaubt hatten.
Erheitert fahren wir weiter. Doch dies soll nicht der letzte Stopp bleiben, den wir einlegen. Bei dem Schild etwa, welches vor freilaufenden Dromedaren warnt und so etwas aussagt wie: „Achtung, Dromedar kreuzt!“ schwärmen wir aus dem Bus wie ein Schwarm Bienen, um es zu belagern und abzulichten. Das gleiche am Schild: „Achtung, Sandsturmzone! Gefahr!“ Ich muss mich zurückhalten, um nicht die ganze Zeit zu lachen über unser überaus touristisches Verhalten, und dabei schwöre ich hoch und heilig, mich nie wieder über chinesische Reisegruppen lustig zu machen, die in Europa jeden Scheiß ablichten.
Die Wüste ändert von Zeit zur Zeit ihr Aussehen. Lange, flache, sandige Passagen wechseln sich ab mit Felsansammlungen. Unzählige Öltrucks kommen uns entgegen; schließlich ist S.A. ja für sein Öl bekannt geworden. Doch es werden auch andere Dinge transportiert wie etwa riesige Mengen Heu. Heu in einem Land, in dem kaum was wächst? Ich vermute, es wird eigens für die Kamele importiert.
Als wir zwecks Reiseverpflegung an einer der weit verstreuten Raststätten halten, wo große, dicke Trucks ihren Zwischenstopp einlegen, da parkt auch unauffällig ein (derselbe?) Polizeiwagen hinter uns. Später frage ich Marco, ob die Herren uns wohl im Blick behalten wollen…
Das Innenleben dieser „Beduinen- und Reisender-Verpflegungsstätten“ ist spannend anzusehen, die große Auswahl an Brauchbaren ist was, was ich mir kaum zur Genüge anschauen kann. Hier besorge ich ein paar Leckereien für die Reise, die supergünstigen Nussmischungen und mit Kokos bestäubte „Pralinen“ aus Dattelfleisch in Kugelform, von denen ich mir später im Bus immer mal wieder welche in den Rachen werfen werde. Welch Wunder, dass ich nach diesem Urlaub ein paar Kilo mehr aus der Wüste nach Hause fliegen würde…
Ich und ein paar der Mädels suchen die öffentlichen Toiletten auf, die nahe der Raststätte an der Moschee lokalisiert sind. Herrenlose Hunde kläffen uns an und laufen uns nach, vermutlich in der Hoffnung auf ein paar Snacks. Als ich knapp an den Mülltonnen vorbei komme, gibt mir jemand zur Verstehen, dass ich aufpassen soll. Ich schaue vor die Füße. Fast hätte ich ein kleines, armseliges Tier zertreten, das zitternd und von Krankheiten zerfressen mit großem Appetit an einem Knochen nagt. Das Ding ist so winzig, dass ich kaum erkennen kann, ob es ein Welpe oder ein kleines Kätzchen ist, doch es hat jetzt schon den Kampf um das Leben verloren. Das Ding würde bald sterben, wenn nicht an dem, was seine Augen zerfrisst, dann an unachtsamen Menschen wie mir.
Wieder im Bus. Seltsame Felsformationen fliegen an uns vorbei, große, ausgewaschene Felsbrocken aus porösem, brüchigem Sandstein. Etwas derartiges hätte ich hier nicht vermutet; stellenweise sieht die Welt vor unseren Scheiben fast außerirdisch aus. Stefan betrachtet fasziniert die Brocken, die einzelnen Schichten, die komprimiert über Jahrmillionen wie feine Streifen aufeinander liegen. Felsplateaus, die aussehen, als sein man in Colorado oder in Arizona. Man kann den waagrechten Verläufen der Steinschichten ansehen, dass all das einmal Meeresgrund gewesen war.
Der nächste Fotostopp stößt auf breite Zustimmung. Abermals schwärmen wir aus, diesmal, um die Mondlandschaft einzufangen.
Die Landschaft gefällt mir. Ich mag es ja gerne karg und gleichzeitig abwechslungsreich. Und Kamele finde ich auch faszinierend. Witzig, dass die Polizei da erst so einen Aufriss gemacht hat! Aber die Leute müssen sich halt wohl erst mal an die Aliens und ihr seltsames Verhalten gewöhnen 😅. Jedenfalls hatten letztendlich alle ihren Spaß, wie man unschwer an dem Gruppenbild mit Dame erkennen kann.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ein junger Typ aus dem Kuwait, der mir in Nepal begegnet ist, an einem Stein stehen blieb und den fasziniert anstarrte. Am Stein war grünes Moos. Das kannte er nicht. So etwas gab es wohl in Kuwait nicht – Moos auf Steinen. Ich glaube, auf die Polizei vor Ort müssen wir ähnlich seltsam gewirkt haben…