Deutschland, Europa

Eine Stadtführung durch Wernigerode

„Die Hexe kann nicht kommen.“ Die Nachricht verbreitet sich schnell wie der Pestfloh. „Dafür wird es einen Teufel geben.“ Zugegeben, ich hätte eine Kostümierung erwartet, doch den Teufel, der da ersatzweise einspringen sollte, hatte man auf dem falschen Fuß erwischt. Denn er kam in Anzug. Souverän, wie nur der Höllenmeister es kann, begann er zu erzählen.

Für heute hatte sich unsere Firma etwas Besonderes ausgedacht. Wenn wir schon einmal vier Tage am Stück auf Tagung sind und unsere grauen Zellen tagsüber zum Glühen bringen, dürfen wir uns an einem der Abende etwas amüsieren. Nach einer ausgiebigen Eisrunde bei Wiecker, der den besten Kuchen in Wernigerode haben soll, (ach warum habe ich nicht den Kuchen bestellt…) und ein wenig Schlendern an den schmucken Fachwerkhäusern der Altstadt vorbei versammeln wir uns am Hauptplatz vor dem Rathaus. Die Stadt Wernigerode im Harz kenne ich bereits aus der Vergangenheit, als Stefan und ich uns beim Schokoladenfestival den Bauch vollgeschlagen hatten.

Irgendwann taucht ein Mitarbeiter der Wernigeroder Stadtführungen auf und beginnt zu erzählen. Dabei lobt er beiläufig die Mitarbeiter der Pflege und ihren harten Job. Wir sehen uns an. Nein, keine Pflege, Pharma… wir haben unsere Seelen längst an den Teufel des Profits verkauft.

Zunächst fällt mir das Zuhören schwer. Mein Kopf raucht und immer wieder entferne ich mich kurz, um ein Foto zu machen. Doch was er über die Stadt zu berichten hat, ist spannend. Zum Beispiel über das Rathaus. Wusstet ihr, dass das schmucke Gebäude, welches wir heute bewundern, nur eine vorübergehende Lösung war, als das eigentliche Rathaus – das nur ein paar Meter versetzt ebenfalls am Markt stand – bei einem großen Stadtbrand 1528 zum Opfer fiel?

 

Stadtgründung

Wernigerode ist über tausend Jahre alt. Im 9 Jahrhundert rodeten Benediktiner ein Stück Land; der Ausgangspunkt befindet sich unmittelbar am heutigen Marktplatz. Daher leitet sich auch die Namensendung „-rode“ ab, was darauf hinweist, dass erst gerodet werden musste. Zunächst gab ies hier nicht viel: um 1100 standen hier fünf Ritterhöfe, ein Grafenhof und die unvermeidliche Kirche. Der Ort lag ziemlich genau an jenem Punkt, an dem sich zwei wichtige Handelsrouten kreuzten: Goslar-Quedlinburg und Braunschweig-Erfurt. Das zog vor allem Handelsleute in die neu gegründete Ortschaft. Schon zu Beginn des 12 Jahrhunderts fand Wernigerode zum ersten Mal Erwähnung und erhielt prompt in April 1229 die Stadtrechte verliehen.

 

Das Rathaus

Der Bau wurde bereits um 1420 errichtet und erfüllte die Funktion eines Spielhauses. Um 1427 ging es von gräflicher Hand in den Besitz der Stadt Wernigerode über und wurde weiterhin als Spielhaus für Fastnachtsspiele genutzt, darüber hinaus wurde hier gehandelt und gerichtet. Die beiden spitzen Erker, die die besondere Form des Gebäudes ausmachen, kamen erst in den vierzehnhundert-neunziger Jahren dazu.

Die Figuren am Rathaus

Die sogenannten Knaggen zeigen wahlweise Heilige; Patronen, die die Stadt schützen sollen. Zumindest was das Erdgeschoss betrifft. Hingegen die Knaggen unter dem Dach sind näher an den „normalen“ Bürgern orientiert; da das Rathaus mal ein Spielhaus war, stellen sie Spielleute, Narren und Trinker dar, zum Teil aber auch arbeitende Menschen.

 

Die Straßen

Der eigenwillige Humor der Wernigeroder aus jener Zeit, was die Namensgebung für die Stadtteile und Straßen betrifft, ist hinlänglich bekannt und entlädt sich an ungewöhnlichen Stellen in trockener Ironie. So war es nicht selten der Fall, dass die Namen der Straßen genau das Gegenteil dessen bedeuteten, was dort tatsächlich vor sich ging. Am Straßennamen selbst erkannte man dies nicht, wenn man die Hintergründe nicht kannte. Nehmen wir zum Beispiel die „Demutsgasse“… Hm, aber darauf gehe ich später nochmal ein.

 

Die St. Sylvestrikirche

Über ein Kopfsteinpflaster nähern wir uns der St. Sylvestrikirche. Große Kastanienbäume spenden Schatten. Die ursprüngliche Kirche auf dem Klint, dem ältesten Teil der Stadt, ist weitaus älter als ihr romanischer Nachfolger, den wir heute sehen und der immerhin 1100 erbaut wurde. Vormals soll es hier eine von den Benediktinern errichtete Kapelle gegeben haben. Ihre Fundamente wurden gegenüber dem heutigen Kirchenbau gefunden. Im Laufe der Zeit wurde die Kirche zur Basilika.

 

Die Demutsgasse

Von dem Kirchhof schräg gegenüber der St. Sylvestriskirche führt eine enge Gasse, die Demutsgasse genannt. Doch die Geschichte dahinter ist erheiternd und hat gar nichts mit Demut zu tun. Auf der anderen Seite der alten Fachwerkhäuser mit den noch älteren Holzbalken, die bereits hunderte von Jahren überdauert haben, zieht eine überdachte, enge Gasse unsere Blicke und unsere Neugier auf sich. Eine pikante Erzählung besagt, dass diese Gasse Priestern und hohen Würdenträgern zugleich Tür und Tor zur Sünde war. Es soll vorgekommen sein, dass die gar nicht demütigen Stiftsherren durch eben jene Gasse des Nachts Damenbesuch empfingen. Die leicht ironisch gemeinte Bezeichnung als Demutsgasse zeugt vom feinen, schwarzen Humor der Wernigeroder. Auch „Rosmarin-„, oder „Rosengasse“, ebenfalls für die Demutsgasse gebräuchlichen Bezeichnungen, wiesen eher auf die mangelnden hygienischen Verhältnisse und einen schlechten Geruch als auf einen wie auch immer gearteten Rosenduft hin.

Das schiefe Haus (die badenden Damen)

Das Schiefe Haus in der Klintstraße 5 stammt von 1680. Es beinhaltete früher eine Walkmühle der Tuchmacher, die ihrerseits den Platz einer alten Mühle aus dem 13 Jhd. eingenommen hatte. Ab Mitte des 19 Jhd. wurde es eine Mehlmühle, ab Ende des 19 Jhd. ein Wohnhaus. Der kleine Bach, der die Mühlen betrieb, fließt noch heute; in diesem heißen Sommer etwas spärlicher als sonst.

Ein kleiner, öffentlicher Hahn symbolisiert einen pikanten Hintergrund und gleichzeitig die mir schönste Begründung, weshalb das Schiefe Haus, das heute ein Museum ist, so schief wurde. Die Legende geht so, dass unten früher eine Badestelle war, wo sich die Damen an bestimmten Tagen in der Woche waschen konnten. Damit sie dabei ungestört blieben, mussten die Herren drinnen im Haus auf sie warten. Da so ein Herr natürlich fürsorglich ist und nicht will, dass seiner Angebeteten beim Baden etwas geschieht, will er dennoch auf sie aufpassen und ein Auge auf sie werfen. Und da natürlich alle Herren der Stadt sehr fürsorglich waren, wenn es um ihre Damen ging und ein Jeder einen Blick riskierte (aus reinem Beschützerinstinkt heraus selbstverständlich), standen so viele Herren an den Fenstern zur Badestelle, dass sich das Haus mit der Zeit gefährlich zur Straße hin zu neigen begann.

Das älteste Haus

Das älteste Haus der Stadt befindet sich in der Hintergasse 48. Das „Schierstedtsche Haus“ mit dem Brunnen im Hof stammt nach heutigen Erkenntnissen von 1456, sogar noch dreißig Jahre älter, als die bisherigen Vermutungen (und die angebrachten Infotafeln) vermuteten. Das beweisen Untersuchungen an Holzbalken, von denen manche Mitte des 15 Jhd. gefällt und bearbeitet wurden. Heute befindet sich darin eine 90m² große Ferienwohnung, die auf Wunsch angemietet werden kann.

Das kleinste Haus

Gerade einmal 4,2 Meter hoch und 2,95 Meter breit; so groß ist das kleinste Haus in Wernigerode. Die Tür, in deren Türrahmen ich mich für ein Foto stelle, misst gerade einmal 1,7 Meter. Kasia passt eben so rein. Das Haus diente bis 1976 als Wohnhaus und soll von einem Oberschaffner samt Familie bewohnt worden sein. Wohnraum war knapp zur damaligen Zeit, also quetschte man das Haus in die Lücke zwischen zwei andere Häuser. So sparte man sich Giebeln und zwei tragende Wände.

Das Haus ist heute ein Museum und zeigt die damaligen Wohnverhältnisse.  Bis zu elf Personen sollen hier gewohnt haben. Die Küche war im Flur und die Wohnstube im Erdgeschoss, weiter oben der Schlafraum. Leider bleibt keine Zeit für uns, das Haus von innen zu besichtigen.

 

Ein langer Spaziergang

Noch bevor sich der Teufel zu seiner Stadtbesichtigung blicken lässt, lässt man uns wiederum kurz von der Leine. Etwa eine halbe Stunde Zeit haben wir nach unseren Kuchen- und Eisbechern, um die Altstadt so gut es geht alleine zu erkunden. Für mich eine willkommene Abwechselung, mir abseits vom Trubel eigene Eindrücke zu verschaffen. So lasse ich mir die Sonne auf den Kopf scheinen, schlendere vorbei an alten Geschäften, Auslagen, die Kuchen bewerben („Egal, wieviel Kuchen du isst, die Schuhe passen immer“. Charmant!) und massiven, bunt bemalten Türen. Jahreszahlen, in Balken geritzt wie ein Geheimnis. Manche Fachwerkbauten so schief, als hätte der Baumeister ordentlich einen sitzen gehabt. Und sobald man sich von den Grüppchen Touristen entfernt hat, die jedes Gebäude mit ihrem Handy bedrohen, tauchen auch schon die ersten Bewohner verschämt aus dem Schatten auf, um ihren Hund an den prominentesten Hundebäumen der Stadt vorbei zu führen.

Es ist faszinierend, zu sehen, wie lange allein schon das Holz überdauert hat, welches das Gerüst des Fachwerkbaus bildet. Fachwerkhäuser sollen über ein gutes Raumklima verfügen: im Sommer kühl, im Winter warm. So ein Fachwerk erfordert Kunstfertigkeit. Doch dann, richtig erbaut, hält es ewig.

Ein kleines, interessantes Detail haben wir zudem noch zu den berühmten Kopfsteinpflastern erfahren. Mancherorts, in historischen Stadtkernen, sind die Kopfsteinpflaster gar nicht so original, wie es den Anschein hat. Mit leichtem, schiefen Grinsen erzählt uns der Guide, wie die Stadt nach der Wende ihre Kopfsteinpflaster für vergleichsweise wenig Geld an Gemeinde im Westen verkauft hat. Und wie sie sie danach, Stein für Stein, für den doppelten Preis abkaufte. Das soll wohl sowas wie eine Lehre sein: würdige das, was du besitzt. Du weißt nicht, wann es wertvoll werden könnte…

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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6 Kommentare

  1. Ja, Wernigerode ist wirklich total schön. Und der Hang zur Ironie kommt mir auch sehr entgegen 😁.

    1. Die Ironie kriegt man so ja nicht mit, wenn man die Vorgeschichten zu einigen der Stadtteile nicht kennt. Auch deshalb ist so eine Führung mal ganz nett. Obwohl ich normalerweise nicht so der Fan bin 🙂

  2. Sehr schön! Es gibt so viele sehenswerte Orte und so wenig Zeit…

    1. Wir werden vermutlich eh nicht alles sehen können, aber was man hat, das hat man 😉

  3. Danke für’s Mitnehmen auf diese Reise. Man könnte meinen, dass die Zeit stehen geblieben ist. Die Geschichte mit den badenden Frauen gefällt mir.

    1. Ja, mir auch. Auch wenn man nicht genau weiß, ob sich das wirklich so zugetragen hat, charmant ist die Erzählung allemal.

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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