Europa, Griechenland

Die große Balkantour – Kloster Agios Stefanos

„Komm, ich mache dir ein Foto neben dem Gruzovik.“

Ein so liebevoll betiteltes, „altes Schrotteil“ ist ein noch aus sowjetischer Zeit stammendes Fahrzeug, LKW aus einer vergangenen Ära sozusagen. Das russische Unternehmen Gruzovik liefert noch immer Ersatzteile für die älteren LKW Modelle. Wobei „Gruzovik“ umgangssprachlich einfach „Lastwagen“ bedeutet. Scheinbar sind sie robust, denn sie laufen und laufen, diese postsowjetischen Relikte. Überall sehen wir sie herumfahren, vor allem in den ehemaligen Ostblockstaaten, aber nicht nur. Manchmal eben auch hier, in Kalambaka.

Oder eben auch nicht. Beim näheren hinsehen entpuppt sich der „Gruzovik“ als alter VW-Bus, mit Logo und allem drum und dran. Platz eins für aufmerksames Lesen geht an den Sinnlos Reisenden.

Nach der nächtlichen Besichtigung schauen wir uns heute Kalambaka by day an. Wir drehen eine kleine Runde, ehe es für uns weiter geht. Viel gibt es nicht zu sehen, denn das Leben hier spielt sich vorwiegend entlang der Hauptstraße ab. Hier sind die Restaurants und die Shops, und von hier aus kann man die mächtigen Sandsteinfelsen über der Stadt aufragen sehen. Die Seitenstraßen wirken verwaist. Hier und dort dämmert ein malerisches Fotomotiv im Schatten eines alten Olivenbaumes. Wie dieser alte Roller mit rostigem Auspuff, der noch immer seine Dienste tut. Granatäpfel hängen rot und zum greifen nah an einem niedrigen Bäumchen just am Straßenrand. Und die Männer sind begeistert, denn sie entdecken einen, leider zu dieser Zeit noch geschlossenen, Weinladen, dessen ganzer Innenraum von einem einzigen großen Weinfass gefüllt zu sein scheint.

Schon nach kurzer Zeit sitzen wir wieder im Auto. Die großen Felsen tauchen vor uns auf, werden mehr und mehr. Die Höhenstraße führt uns zu den Klöstern. Ich hatte gestern erwähnt, dass sich die Familie das wohl am meisten besuchte Kloster Agios Stefanos (des heiligen Stefan) für eine Besichtigung ausgesucht hat. Was daran liegt, dass es sich um die am einfachsten erreichbare Anlage handelt. Als einziges Kloster verlangt es dem Besucher nicht ab, über Treppen oder gar irgendwelche Leitern zu steigen – die Anlage ist über eine kleine Brücke erreichbar.

Das wissen außer uns auch andere Besucher. Bereits am Vormittag ist der Seitenstreifen entlang der Höhenstraße dicht geparkt. Autos, Reisebusse, Motorräder. Die Luft flimmert vor Abgasen der laufenden Motore. Internationale Reisegruppen steigen aus oder wandern im Gänsemarsch in Richtung Kloster. Order passen auf, dass niemand zwanzig Mal rauf und runter fährt auf der Lauer nach einem frei gewordenen Parkplatz und so die Fahrbahn verstopft; auch wir werden gebeten, uns bis ans Ende der Autoreihe zu begeben. Kein Problem, und – wenn ich das so sagen darf – gut organisiert, das Ganze, Chapeau. Ich bin ja für das alleinige Entdecken. Es gibt in Meteora Klöster, die zwar schwerer zu erreichen sind, zu denen sich aber kaum jemand hin bequemt. Und sollte ich wieder kommen, so werde ich eine große, ganztägige Erkundungstour mitsamt meiner Wanderschuhe unternehmen. Reisegruppe bedeutet jedoch – nicht in allen Fällen, aber meistens – Besichtigung auf japanisch. Schnell rausspringen, da ein Foto, dort ein Foto. Das Große Ganze ansehen, statt in die Tiefe zu tauchen, dann weiter fahren. Ich denke, ich kann damit leben.

Wir kaufen Tickets und betreten die Gemäuer. Es wuselt nur so vor Menschen, alles ist schwarz vor lauter menschlicher Leiber. Macht Platz da, ihr doofen Touris, hier kommen Reisende. Das Kloster muss enorme Einnahmen mit dem Tourismussektor generieren, auf die es heutzutage gar nicht mehr verzichten wollte. Es wird seit 1961 als Frauenkloster genutzt. Es gibt für Besucher zugängliche wie auch private Bereiche. Die Besonderheit des Klosters ist, neben der Besucherfrequenz, der Kopf des heiligen Charalambous – eine Geschenkgabe, die als kostbare Reliquie gehütet wird. Ja, mit den Gliedmaßen der verstorbenen Heiligen wurde seit jeher reger Tauschhandel getrieben. Man darf nicht vergessen, dass eine solche Rarität für einen Zustrom an Pilgern und Gläubigen und somit für Einnahmen sorgte. Ich für meinen Teil habe noch nie vom heiligen Charalambous gehört. Sollte ich vielleicht, denn laut Legenden bekehrte er Sünder und tröstete Betrübte. Und selbst als man ihn mit 113 Jahren an einem Marktplatz gefesselt mit Messern traktierte, schaffte er es, ehe er starb, den gesamten Ort zum wahren Glauben zu bekehren. Vorbilder braucht der Mensch.

Auch der heilige Stephanus war eine bedeutende Leuchtgestalt. Und ebenfalls ein Märtyrer. Selbstverständlich. Der heilige Stephanus entstammt einer jüdischen Familie aus Griechenland. Er wandelte umher, „die Armen pflegend und Gutes tuend“, bis er für sein Bekenntnis zu den Lehren Christi gesteinigt wurde. Was waren das für Zeiten, als Selbstlosigkeit noch hoch gehalten wurde wie eine leuchtende Fahne, während heute ein selbstloser Mensch die psychologische Beratung eines Lebenshilfecouches angeraten bekommt, mit dem wohlgemeinten Ratschlag: „Denk doch auch mal an dich.“

Nichts gegen einen gesunden Selbsterhaltungstrieb. Aber heute scheint mir mehr denn je, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht, oder sein Bier braut, oder wie immer wir es zu nennen vermögen. Kurz gesagt, an sich zu denken ist nicht wirklich Mangelware in Zeiten von Selbstverwirklichung und Individualität. Es gibt nur wenig Bereitschaft, sich selbst zurück zu nehmen für etwas Größeres, Wichtigeres. Aber ich schweife ab. Wieder einmal. Nur zur Klarstellung: Selbstlosigkeit hin oder her, ich würde Abstand davon nehmen, mich steinigen zu lassen. So.

Nicht steinigen bitte 🙂

Wie in vielen orthodoxen Religionsstätten, so wird auch hier auf die entsprechende Bekleidung geachtet. Für Damen gelten bedeckte Schultern und ein langer Rock als angemessen, die Herren sollten von kurzen Hosen oder gar Shorts Abstand nehmen. Gosia und ich sind vorbereitet. Doch auch Besucher(innen), die die entsprechenden Kleidungsvorschriften nicht auf dem Schirm hatten, müssen nicht verzagen, denn am Eingang zum Kloster hängen bereits lange Röcke bereit, mit denen die Blöße des Körperlichen bedeckt werden kann.

Im Innern erwartet uns ein gepflegter Garten, plätschernde Brunnen und ein Wahnsinns-Ausblick auf Kalambaka und die umliegende Landschaft. Ein Garten voller Lavendel und blühendem Hibiskus, idyllisch und belebt zugleich. Zusammengequetschte Reisegruppen, die sich durch die spärlichen freien Flächen schieben. Hin und wieder huscht eine schwarz gekleidete Nonne vorbei. Wir tauchen in den Schatten der Arkaden unter, versuchen, uns nicht aus den Augen zu verlieren. Doch die reich bemalte Kirche muss ich sehen. Also schiebe ich mich zwischen all den Reisenden hindurch ins schattige Innere. Mein Onkel und die Kids sind auch irgendwo, und Tomek bleibt demonstrativ draußen sitzen. Sakrale Räume scheinen in ihm eine tiefe Abneigung auszulösen.

Idyllischer Garten

Die Anlage ist bestmöglich erhalten und hat umfangreiche Restaurierungen vorzuweisen. Aus dem 16 Jahrhundert, als die Kirche renoviert wurde, stammen die reichhaltigen Wandmalereien. Dieses Kloster erfreute sich seinerzeit der königlichen Gunst und profitierte von großzügigen Spenden. Die Bildnisse an den Wänden stellen Heilige und Szenen aus der Bibel da. Bis an die Decke ziehen sich die Verzierungen. Und wie ich so hin und her geschubst werde und versuche, niemandem im Weg zu stehen und das, was ich da sehe, zu bewundern, zieht eine ganz andere Szene unmittelbar neben mir meine Aufmerksamkeit an.

„Wir können den heiligen Stephanus um die Erfüllung unserer Wünsche bitten.“ Ich drehe mich um. Dieser Satz stammt von einer Reiseleiterin, die eine polnische Reisegruppe anführt. Es fällt mir schwer, abzuschätzen, wie sehr die scheinbar strenggläubigen Frauen an ihren Lippen hängen, doch unbeirrt referiert sie weiter: „Aber dafür müssen wir GLAUBEN. Denn wie können wir uns erdreisten, den Heiligen um irgend etwas zu bitten, ohne zu glauben?“ Redet die Dame weiter voller Inbrunst. Ich bin erstaunt, dass es solche Reisen gibt, aber warum auch nicht? Sie möchten von sakralem Ort zum nächsten sakralen Ort pilgern und sich von Bibelgeschichten berieseln lassen? Bitteschön, jedem das Seine.

Der massive Kronleuchter an der Decke sieht fantastisch aus. Für mich ist eine Kirche eben das: Kunst. Sakrale Kunst. Sehenswert. Noch einen letzten Blick werfe ich auf die verzierte Kirche. Ich muss hier raus, ehe ich mit einem unterdrückten Lacher jemandes religiöse Gefühle verletze. Draußen setze ich mich zu Tomek. Gerade jetzt kann ich ihn verstehen.

Ein letztes Foto von der Aussicht, dann verlassen wir die überfüllte Anlage. Es zieht uns weiter, an kargen Hügeln vorbei, immer geradeaus in Richtung Küste.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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8 Kommentare

  1. Ha! Mir ist auch sofort ins Auge gesprungen, dass es sich bei der ollen Blechkiste auf vier Rädern um einen VW-Bus handelt. Aber mit der Schnelligkeit eines Sinnlos Reisenden kann ich natürlich mal wieder nicht mithalten 🤷🏽‍♀️. Die Klosteranlage mag überfüllt gewesen sein. Aber sie ist eben auch wunderschön! Und die Aussichten waren auch nicht zu verachten. Gut, dass du dich explizit vom Gesteinigt-Werden distanziert hast. Klare Worte wirken Wunder 😁.

    1. Die Klosteranlage war so überfüllt, dass es mir getrost gereicht hätte, sie mir von Weitem anzuschauen. Es ist wie mit der Chinesischen Mauer: das Areal ist riesig, doch die Reisenden konzentrieren sich auf wenige einzelne Punkte. Aber ich kehre zurück und werde die Gegend wandernd erobern.
      Ja, der Sinnlos Reisende ist auf Zack 😉

  2. Wieder ein gaaaanz toller Bericht. Bei Dir fiebere ich von Kapitel zu Kapitel…

    1. Vielen Dank! 🙂

  3. Liebe Kasia, mir gefallen vor allem die schönen Fotos und der tolle Bericht. Ich überlege mir schön seit längerer Zeit selbst dorthin zu reisen. Liebe Grüße, Michael

    1. Hallo Michael, ich kann dich nur ermuntern, das zu tun und nicht so lange zu warten, wenn du die Gelegenheit hast. Wer weiß, was sonst noch m Leben dazwischen kommt. Lg Kasia

  4. Das sieht ja alles sehr schön aus! Ich fühle mich wieder bestätigt in meinem Plan, nächstes Jahr eine ähnliche Runde zu fahren, vielleicht über Ungarn, Rumänien, Bulgarien nach Griechenland.
    Der Gruzovik erinnert auf den ersten Blick an einen alten VW-Bus. Und von einem heiligen Charalambus habe ich auch noch nie gehört – ich kenne nur Scarabäus, aber das ist ein Käfer. Was aber nicht viel bedeutet, denn ich bin bis zur Blasphemie ungebildet in christlichen Dingen.

    1. Hallo Marco,
      gut aufgepasst. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was ich an diesem Foto so irritierend finde, und beim Vergrößern, ja, es ist ein alter VW-Bus. Platz eins für aufmerksames Lesen geht an dich.

      Zu der Route, es ist eine vielfältige und recht einfach zu bereisende Strecke, doch ich würde mir im Nachhinein mehr Zeit dafür nehmen als die eine Woche, die wir hatten. Eventuell kannst du nann noch die Adria Küste mitnehmen, die haben wir ein halbes Jahr später bereist.

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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