Ich weiß nicht, was mich erwartet. Nein, wirklich nicht. Denn das erste Mal, als ich den kleinen, süßen Ort im mittleren Schwarzwald besuche, denke ich genau daran: an einen kleinen, süßen Ort. Ein paar schmucke Häuser, ein verschlafenes Inneres. Genau das.
Genau das ist Gengenbach nicht. Doch, die süßen Häuser treffe ich an. Doch alles andere? Mitnichten. Gengenbach ist längst mehr als nur ein Geheimtipp geworden. Menschen strömen in das Städchen, um Teil an dessen besonderem Flair zu haben. Ungeparkte Fahrzeuge kreisen, wie ich, durch den Ort, um irgendwo ein schönes, schattiges und vor allem: erlaubtes Plätzchen zum Niederlassen zu finden. Der Kampf um die Parkgelegenheiten ist hart.
Siegreich ist derjenige, der es nicht scheut, länger als zehn Schritte zum Zentrum zu gehen. Am Friedhof, am Rande der Ortschaft, lässt sich wunderbar parken. Nur noch den Parkschein… pardon: die Park-App aktivieren, schon kann es losgehen.
Ich muss gestehen, ich bin nicht zum Spaß hier. Eigentlich bin ich dienstlich unterwegs und habe gut zu tun. Warum „eigentlich“? Weil ich schon bald mein Ziel vergesse und wie ferngesteuert auf den pittoresken Marktplatz mit dem schicken Rathaus zugehe. Es ist Maria Himmelfahrt und auf dem Platz gleich neben dem Marktbrunnen hat sich ein mittleres Gedränge an Menschen gebildet, als gäbe es etwas umsonst zu holen. Erst beim Näherkommen entdecke ich die Ursache für den Tohuwabohu: eine Männerkapelle hat sich im Halbkreis aufgestellt und spielt unter Anleitung von Dirigenten lange, geschnitzte Alpenhörner. Es ist ein Anblick, den man nicht alle Tage zu sehen bekommt, insbesondere dann nicht, wenn man, wie ich, nicht aus der Gegend stammte. Insofern hat der kleine Andrang an Touristen schon Recht damit, dass es was umsonst gibt. Gegen eine Gratisvorstellung habe auch ich nichts einzuwenden.
Doch die Pflicht ruft, lauter als das Alpenhorn. Nach ein paar Pflichtfotos (ihr wisst schon, was nicht fotografiert wurde, ist nie geschehen) steuere ich den nächsten Kunden an. Und während ich im Inneren darauf warte, an die Reihe zu kommen, spähe ich sehnsüchtig durch die Scheibe. Wenn ich wieder rauskomme, wird die Kapelle aufgehört haben zu spielen, doch das ist schon okay. Ich habe sie gesehen, es war ein schönes Erlebnis. Ein Konzert mit Überlänge wäre mir bei aller Liebe auch zu viel gewesen.
Nach dem Kundenbesuch schlendere ich durch die Stadt. Die Spieler haben ihre Instrumente zusammengepackt und ziehen davon. Die Menschentraube beginnt, sich aufzulösen. Sonnenschein kommt durch die Wolken und badet Menschen und Dächer in Wärme. Schnell ist das Zentrum des Ortes durchlaufen und ich begebe mich in die malerischen, mit Fachwerk beschmückten Seitengassen der Altstadt. Versonnen schlendern Menschen vor sich hin, die Kamera im Anschlag, und machen einander auf die spannenden Details an den Hausfassasen aufmerksam. Hier ein verwinkeltes Gässchen, dort ein geheimnisvolles Tor. Reihenweise schmiegen sich Fachwerkhäuser aneinander, umrankt von leuchtend grünem Weinlaub. Üppig blühende Blumenkästen, ein leise plätschernder Brunnen. Ich bin hier, laut Eigenaussage, in einem der schönsten „Städtle“ Deutschlands gelandet.
Der Obertorturm lässt sich begehen. Eine recht steile Treppe führt nach oben, doch der Zugang zum Inneren ist leider verschlossen. Dafür erhält der Besucher einen Blick von oben auf das bunte Treiben auf dem Platz. Er wurde nach der Zerstörung 1689 mit einem nachgebildetem Stahlgitter wieder aufgebaut. Der Blick fällt auf die flanierenden Menschen und die reihenweise angesiedelten Restaurants und Cafés. Gengenbach ist auch ein Ort für Gourmets.
Geschichte
Gengenbach am Ausgang des Kinzigtals ist ein überaus alter Ort. Vermutlich gehen seine Anfänge auf eine römische Siedlung zurück; ein römischer Ofen aus dem 2ten Jahrhundert n.Chr., der zu einem Gutshof gehörte, wurde bereits in den Achtzigern entdeckt. Durch den Einfluss der Benediktinerabtei erhielt der bäuerliche Ort im Mittelalter Stadtrechte und wurde 1366 Reichsstadt.
Während des Dreißigjährigen Krieges erlitt die Stadt Plünderungen, Teile der Stadtmauer wurden gesprengt und während der Pfälzischen Erbfolgekriege fast vollständig zerstört. Nach dem Wiederaufbau in den folgenden Jahren machte 1789 ein Großfeuer während der Fastnachtszeit fünfzig Häusern den Garaus. Der historische Stadtkern wurde nach den Zerstörungen wieder aufgebaut; das heutige Stadtbild geht größtenteils auf das 17 Jahrhundert zurück. Teile der zerstörten Stadtmauer dienten den Fachwerkhäusern als Fundament.
Das liebevoll gestaltete Zentrum der Stadt bildet der Markplatz mit seinem Marktbrunnen. Die Ritterfigur ist frei erfunden und wurde, wie auch der Brunnen selbst, 1582 von Max Spranger gestaltet. In seinen Händen trägt er das Stadtwappen und die Reichsstadtprivilegien.
Der Klostergarten
Das Kloster von Gengenbach ist ein untrennbarer Teil der Stadt und spielte eine bedeutende Rolle bei der Verleihung der Stadtrechte. Einst eine Benediktinerabtei, beherbergt sie heute einen Franziskannerinnenorden.
Was mich interessiert, ist der Kräutergarten des Klosters. Denn die Sommerzeit ist in Ortenaukreis Zeit der „Offenen Gartentür“; abwechselnd geben Gartenbesitzer Einblick in ihre grünen Oasen. Heute ist u.a. das Kloster in Gengenbach dran, und wenn ich schon mal da bin.
Der Kräutergarten existiert in seiner jetzigen Form erst seit 1993. Früher an anderer Stelle angelegt diente er Apothekern zur Arzneimittelherstellung und zur Zeiten der Reichsabtei der medizinischen Versorgung der Stadt. Heute finden sich hier zwischen getrimmten Hecken sowohl Heil- als auch Zierpflanzen. Wobei der Übergang hierbei ziemlich fließend ist, wie man an alten, überaus intensiv duftenden Rosensorten unschwer erkennen kann. Und auch die eine oder andere Giftpflanze fand ihren Weg hinein in den Garten, wie der leuchtend rot blühende Aronstab.
Das hübsche Zentrum der kleinen Gartenoase bildet der in der Hitze plätschernde Franziskusbrunnen. Gerne möchte ich mich im Schatten der Bäume niederlassen an den Gartenstühlen und Tischen, doch die Uhr tickt und mein Parkticket läuft bald ab. So reicht der Besuch nur noch für das Kloster selbst und es lohnt sich. „Lasst mich bloß in Ruhe mit eurem religiösem Scheiß!“ Brüllt ein Mann vor dem Kloster herum. Ich spitze die Ohren und höre eine zweite, leisere Stimme, die in ruhiger Tonlage gegenzuhalten versucht. Gemäß der Weisheit, sich nicht in anderer Leute Dinge einzumischen, ziehe ich den Kopf ein und betrete das Kloster.
Was sofort auffällt, sind die farbenfroh bemalten Säulen. Decke und Wände tragen Muster aus Rot, Gold und Blau, Silhouetten von Engeln und Heiligen schweben über dem Altar und die hohen, spitzen Buntglasfenster wirken sehr alt. Die Decke ist ein einziges, kunstvolles Ornament, bestehend aus religiösen Szenen und sich schlingenden Pflanzen. Als ich endlich den Mund schließe und mich umdrehe, erblicke ich eine prachtvolle Orgel.
Kurz denke ich über den Wüterich dort draußen nach. Auch ich möchte nicht missioniert werden – was bereits häufiger vorgekommen ist, doch nicht innerhalb unserer Religionsbreiten. Doch ich stehe auf sakrale Kunst. Da hat jemand versucht, seinen Glauben in Schönheit zu verwandeln und davor habe ich Respekt. Oder der Künstler wurde schlicht für sein Werk fürstlich entlohnt, wer weiß das schon. Es hat lange gedauert, doch mit den Jahren hatte sich aus einer Aversion zum Katholischen Glauben, in dem ich erzogen wurde, eine Art Neutralität entwickelt. Ich habe Frieden geschlossen mit Menschen, die überzeugt von schwangeren Jungfrauen sind und den Leib ihres Erlösers aufessen. Jedem das seine, solange es selig macht.
Als ich wieder nach draußen trete, ist der Wüterich nicht mehr da.
Ich Reihe mich nahtlos ein in den Kreis derjenigen, die noch nie etwas von Gengenbach gehört haben. Dank dir ist das nun anders 😎. Wieder eine Bildungslücke geschlossen! Für meinen Geschmack ein wenig zu fachwerkslastig, aber natürlich sehr hübsch anzusehen mit diesem harmonisch geschlossenen Stadtbild. Mal einen Nachmittag hindurchschlendern könnte auch ich mir gut vorstellen. Ja, die Wüteriche dieser Welt … Ich weiß auch nicht, was in sie gefahren ist. Jedenfalls ruhte das Exemplar, dessen Ausbruch du live erleben durftest, nicht in sich selbst. Ich habe solche Typen auch schon öfter in Action erlebt, zuletzt im vergangenen Jahr in Salt Lake City, der Hauptstadt der Mormonen. Man kann dort auf deren Gelände weitgehend frei herumlaufen, wird dann aber eventuell freundlich von Kirchenmitgliedern angesprochen. Ein ebenso freundliches „Nein, danke“ wird aber immer respektiert. Und schon ist der Fall erledigt ohne Eklat oder Ausraster.
Ja, an dein Erlebnis in Salt Lake City musste ich bei der Gelegenheit sofort denken. Der Wüterich hatte wohl einen persönlichen Kreuzzug mit der Kirche am Laufen und wollte wohl nicht zu Kreuze kriechen… oder so ähnlich 🙂
Gengenbach war mir bis dato auch unbekannt, aber in der Tourismuswelt ist das scheinbar anders. Jedenfalls ist das kleine Örtchen gut besucht und ist wirklich recht hübsch. Wenn auch voller Fachwerk – muss man mögen 🙂
Hi Kasia,
ich finde es immer schlimm, wenn „Geheimtips“ nicht mehr geheim sind – denn dann passiert genau das, was ich persönlich hasse: Massen von Menschen, die einem auf jedem Schritt im Weg stehen, sich vor allen möglichen Sehenswürdigkeiten postieren um ein tolles Foto auf Instagram zu posten, die meisten dazu noch lebende Müllmaschinen auf 2 Beinen, die ihre leer gefutterten Pommesschalen einfach auf den Boden pfeffern, oder die Cola-Dosen in die nächste Hecke schmeissen.
Ich liebe die Ursprünglichkeit solch wunderschöner Orte, die aussehen als wäre dort drum noch eine Dornröschen-Hecke. Und um Dornröschen nicht zu wecken – denn ich bin nun mal nicht der gutaussehende Prinz, denn diese Schönheit verdient hat – gehe ich einfach weiter und behalte das Geheimnis für mich..
Ich wünschte mir nur, das würden mehr Menschen tun.. 😉
Bleib gesund! Covid ist wieder unterwegs..
CU
P.
Hi Peter,
ich soll als Reiseblogger was für mich behalten? Oh je… 😉 Die größten Treiber bei solchen Dingen sind einschlägige Instagramkanäle – gedankenlos reisen Menschen vermeintlich vereinsamte Plätze ab und treffen dort auf Massen anderer Menschen, die das gleiche tun. Wenn eine Masse an Menschen an einem ehemals beschaulichen Ort eintrifft, dann ist es nicht mehr schön anzusehen. Nichts bleibt mehr so, wie es war. Dennoch gibt es Regionen (jetzt nicht der Schwarzwald, ist klar…), die mehr Tourismus verdient hätten und diesen auch wollen. Durch eine bessere Verteilung der Besucherfrequenzen ließe sich das Bild „entzerren“. Nur leider spielen da die Menschen nicht so mit, es ist wie mit einem Bienenschwarm, einer folgt dem anderen, ein sich selbst verstärkender Mechanismus. Dazu muss man auch sagen, dass besonders rege besuchte Orte deshalb so beliebt sind, weil sie nun mal etwas Besonderes sind. Komplex, das Thema – ich habe da noch keine goldene Mitte gefunden, fürchte ich.
Glücklicherweise bin ich – toi toi toi – bisher von der Seuche verschont geblieben 🙂
Lg Kasia
Hallo Kasia, als ich deinen Beitrag las habe ich mir vorgenommen dir zuraten mal in der Adventszeit hinzufahren. In den Kommentaren habe ich jetzt gesehen, dass auch noch anre die Idee hatten. Gengenbach ist ein schönes und gemütliches Städtchen.
Liebe Grüße, Harald
Hallo Harald, ich werden euren Rat beherzigen. Ich hoffe, ich komme dazu, den Weihnachtsmarkt dort zu sehen. Lg Kasia
Sieht wirklich schön aus! Ich war mal in der Adventszeit dort, da öffnen sie am Rathaus jeden Abend ein Fensterchen.
Sind Alphörner nicht eine Schweizer Spezialität? Vielleicht ein Gastspiel…
Alphörner, ich weiß auch nicht… aber ich vermute, dass sich Bräuche wie diese nicht an Landesgrenzen festmachen lassen (*wer hat’s erfunden…?*) Oder es war wirklich ein Gastspiel.
Das mit dem Rathaus wusste ich nicht, noch ein Grund, demnächst einen Ausflug dorthin zu wagen… dienstlich natürlich 😉
Natürlich!
Ich hatte noch nie von dieser Stadt gehört und werde sofort nachschlagen, wo sie genau liegt. Es ist in der Tat ein wunderbarer Ort zum Entdecken. Deine Fotos haben mich sehr inspiriert Kasia!
Liebe Grüße,
Rudi
Ich freue mich, dass ich etwas Neues zeigen konnte. Ich kenne selbst noch so viele Ecken nicht, ich beginne erst, den Schwarzwald zu entdecken. Dazu habe ich sicher demnächst Gelegenheit. Und dann nehme ich euch alle mit 😉