„Und? Lohnt es sich?“ Frage ich die Radfahrergruppe, die eben vom Aussichtsturm herunter kam.
„Ja, es lohnt sich.“ Antwortet der Mann, und eine der Frauen lächelt. „Es gibt Enten zu sehen, und Schwäne, und ganz viele Vögel…“
„Aber sieht man auch die Teiche?“
Viel Hoffnung habe ich nicht und fast lasse ich diese hölzerne, zu touristischen Zwecken erbaute Vorrichtung, links liegen. Doch die Radgruppe versichert mir, dass es dort oben „schön sei“ (so die Frauen untereinander…), also klettere ich schnellen Schrittes hinauf. Und schon auf der ersten Ebene entfährt mir ein Zajebiste! (…sehr geil…). Die Augen wandern über den weitläufigen Teich. Es ist, als hätte man eine Drohne steigen lassen über diese Wasserlandschaft, nur ist man selbst die Drohne. Der Blick taucht auf aus dem Geschlängel der Schilfpflanzen und Gräser und der Geist überfliegt sie, schwebt über dem Wasser und streift die leuchtend weißen Federn der Schwäne, bleibt an den weißen Reihern hängen, mustert die vielen, quakenden Enten. Die Rufe der Wasservögel, die bislang nur zu hören waren, sind jetzt plötzlich erlebbar.
Die hölzerne, überdachte Beobachtungsplattform wurde vor kurzem erst errichtet. Seitdem zieht sie, wenn man der belauschten Unterhaltung der polnischen Radfahrer Glauben schenken will, in der Sommerzeit täglich Ausflügler an. Kein Wunder, hat man von hier oben einen herrlichen Blick über die weite Landschaft der Milicki-Teiche.
Schnellen Schrittes steige ich bis ganz nach oben. Das Holz des Häuschen ist an vielen Stellen zerkratzt, unzählige Menschen haben ihr „ich war hier“ hinterlassen. Es gibt Namen, Grüße, Flüche und Liebesbekundungen. Selbst an dem inzwischen wackeligen Holztisch, an dem ich meinen Rucksack abstelle, gibt es kaum eine freie Stelle.
Ich stelle mich an eine der offenen Lücken und werfe einen Blick auf das stahlgraue Wasser des Teiches. Stahlgrauer Himmel, stahlgraues Gewässer, nur durch jeweils helle und dunkle Flecken; das Gefieder der Tiere, unterbrochen. Über mir müssen sich Spatzen oder etwas Vergleichbares eingenistet haben, denn es zwitschert laut und vernehmlich im Gebälk über meinem Kopf. Es zwitschert auch von unten her, denn die Radfahrer haben längst nicht das Weite gesucht. Die Frauen erzählen in einem hohen Sopran, in einem schnellen Tempo und mit glockenklaren Stimmen von der Sorte, wie sie jedem vernünftigen Menschen nach einer halben Stunde Kopfschmerzen macht.
Nicht nur Spatzen haben hier oben ein Nest; auch die eine oder andere Hornisse umkreist mich neugierig. Doch denkt was ihr wollt, mit Hornissen kann ich irgendwie besser als mit Krabbelviechern; ich konzentriere mich auf das Geschehen unter mir. Die Sonnenstrahlen des Morgens verleihen der Szenerie kaum Farben, alles wirkt grau und metallisch. Wie hinter Milchglas bewegen sich die Gräser, der schneeweiße Reiher landet elegant inmitten vom Schilf und gibt einen Schrei von sich. Die ganze Wasserwelt ist in sanfter Bewegung.
Was bin ich froh, dass ich hier hinauf gekommen bin!
Die Radfahrer haben inzwischen weitere Ziele ins Visier genommen; ich höre, wie sich die hochfrequenten Stimmen langsam entfernen. Auch ich werde mich langsam entfernen, denn ich habe noch eine Wanderung vor mir.
Die Dörfer, verschlafen an diesem Sonntag Morgen. Hier und dort eine zerfallene Scheune, auf der ein Storchennest klebt. Storchennester sind in Polen in ländlichen Regionen keine Seltenheit; so begegnen mir alleine auf dem heutigen Trip mindestens zwei oder drei (ob man zwei übereinander gestapelte als eines zählen kann…?). Es riecht nach Scheune, nach Tieren und nach Mist; die halboffenen Tore offenbaren einen Einblick in das ländliche Leben. Die Geräusche und Gerüche vom Land erinnern mich an die Kindheit, wecken aber auch ein Gefühl der Trostlosigkeit. Das Krähen des Hahns, der unermüdlich den Morgen bekannt gibt, das Muhen der Kühe. Wollte ich heute noch auf einem Dorf leben, wo mich jeder kennt, wo es weder Anonymität noch Zuflucht, und schon gar nicht so etwas wie Zerstreuung oder Unterhaltung gibt? Wo Tratsch das Leben der Menschen ausfüllt und man kein Geheimnis, sei es noch so groß oder klein, für sich behalten kann?
Ich glaube, die Antwort ist klar.
An jeden Hof, an dem ich vorbei komme, begleitet mich das engagierte Gebell der Hofhunde. Es ist wie eine stets aktive Alarmanlage, die jeden deiner Schritte begleitet. Du kannst dich kaum unbemerkt durch ein polnisches Dorf bewegen; ob du es willst oder nicht, wird deine Anwesenheit sofort registriert und misstrauisch beäugt. Die Polen haben keine gute Meinung über ihresgleichen, wie ich schon oft in Gesprächen feststellen musste. Man traut keinem, man traut einander nicht. Und wahrscheinlich liegt es daran, dass dieses Grundvertrauen, sollte es das jemals gegeben haben, zu oft enttäuscht wurde. Und so sind es oft die Polen – zum Teil auch ich – die den willigen Reisenden vor zu sorglosem Agieren, zu großer Unbekümmertheit in ihrem eigenen Land warnte.
Schnell und unauffällig mache ich ein paar Aufnahmen, stets darauf bedacht, dabei unbemerkt zu bleiben. Im Hinterkopf die Gewissheit, dass die Menschen keine Sehenswürdigkeit und ihre Häuser, so malerisch sie für unsereins auch sind, kein Freilichtmuseum darstellen. Dass hinter jedem Fenster, hinter jedem Spitzenstore ein alter Mann, eine alte Oma sitzen und mich beobachten könnte, was sie vermutlich auch tut. Die halb verfallene Scheune, das alte Dach, die Malven, die an den Mauern lehnen – all das, so fotoaffin es auch wirkt, bedeutet für die vor Ort lebenden Menschen, dass wohl keine Mittel da sind, um das Dach abzudichten, das Gebäude vor dem Einsturz zu retten oder gar die „Preußische Mauer“, wie Fachwerk hierzulande genannt wird, zu restaurieren. Täuscht euch mal nicht, nicht alles, was hier nach Lost Place aussieht ist tatsächlich auch eines, denn oft ist die Umgebung gepflegt, der Rasen gemäht und die Schlösser neu. Oft lebt dort noch jemand.
Eine fleckige Katze lässt sich von mir nicht stören, schleicht weiter ihre Katzenwege.
Außerhalb der Dörfer säumen hohe, uralte Birken und Eichen den Weg. Die schattigen Alleen ziehen sich kilometerweit, führen von Dorf zu Dorf. Die dicken Stämme der alten Bäume lassen nur vermuten, wie diese von Menschen gestaltete Landschaft bereits ist. Bereitwillig begebe ich mich unter das schützende Dach der Blätter. Auf den weiten Wiesen stehen Gruppen von Wildgänsen; Reiher und Kanadagänse veranstalten gemeinsam ein Konzert. So viel Leben trollt dort draußen herum, so vieles, was das Auge nicht sieht.
Wie die Ringelnatter, die sich unbemerkt in den Gräsern sonnt. Wie ein geölter Blitz verschwindet sie, noch eher ich eine richtige Aufnahme von ihr machen kann. In den Gräsern rauscht und raschelt es. Was es alles ist, darüber kann ich nur spekulieren.
„Das Bartschtal wird jeden begeistern, wenn es gepflegt und nicht verschmutzt ist.“ Mahnt eine Tafel, eine von vielen, die hier unterwegs aufgestellt wurden. Leider ist dies notwendig, denn die „Ich lasse alles liegen, wo ich stehe“- Mentalität ist noch immer nicht aus allen Köpfen.
Für Informationen und Unterhaltung während einer Radtour sorgt der „Bunte Karpfenpfad“; vor jeweils einer Sehenswürdigkeit ist die blaue Karpfenfigur mit einer Erklärtafel zu sehen. Hier führt der Weg entlang einer ehemaligen Eisenbahnstrecke.
Langsam steigt die Sonne auf und langsam erwacht auch die Welt. Immer mehr Radausflügler kommen mir entgegen. Es ist strenggenommen eine Radstrecke, auf der ich mich bewege, doch diese, in Deutschland nur zu gut bekannte, Rechthaber-Mentalität findet hier kein Platz. Niemand sagt etwas, als ich mich leichtfüßig den Weg vorwärts bewege und ich wiederum versuche, immer am äußersten Rand zu laufen, wenn ein Radfahrer „in Anmarsch“ ist, damit er mühelos passieren kann. Jemanden zu belehren, das findet man bei uns äußerst selten. Selbst auf der Autobahn, so rasant die Fahrer unterwegs sind, wird man seltener angehupt als in Deutschland; die schnellen warten einfach ab, bis sich die „Schleicher“ fortgeschlichen haben. So einfach.
Nicht nur die uralten Baumbestände, auch tote Bäume sind hin und wieder zu sehen. Totholz wird hier nicht fortgeschafft. Man lässt es einfach liegen, als Zufluchtsort für kleinere Tiere. So finden sich unfassbar dicke, tote Baumstämme oder malerisch aufragende, kahle tote Bäume, die ihre Äste silhouettenartig in den Himmel strecken. Auf einem solcher umgefallenen Stämme finde ich einen ruhigen Sitzplatz. Sobald das Geräusch meiner Schritte verstummt ist, breitet sich eine unglaubliche Stille um mich herum aus. Kaum zu vergleichen mit Wanderungen in Deutschland, wo zumindest aus der Ferne irgendwoher immer Autos oder das Rauschen einer Autobahn zu hören sind. Hier – nichts. Kein Laut. Wenn man die Rufe der Wasservögel nicht mit einbezieht. Hier ist es komplett ruhig. So ruhig. Ich seufze und hole meine Wasserflasche raus. „Was für ein ruhiger Ort.“
Ein weiterer schöner Text voller interessanter Fakten, sowohl über die Gegend selbst als auch über Polen und ihre Denk- und Lebensweise. Der Aussichtsturm scheint mir der ideale Ort um Vögel zu beobachten, aber die Aussicht ist auch ohne Vögel wirklich schön. Diese Radstrecke würde mich reizen, habe ich das Gefühl 🙂
Es macht bestimmt großen Spaß, dort mal das Fahrrad auszuleihen und loszuziehen. Ich habe das Gefühl, das ist in Polen Freizeitsport Nr 1. Ich bin mehr fürs Wandern 😉
Sieht wirklich idyllisch aus.
Es ist ein schönes Fleckchen Erde, vor allem in Sommer 🙂