Europa, Polen

Bartschtal in Niederschlesien – Märchenland der tausend Teiche (I)

August 2021

Wie in einem Horrorfilm legen sich die feinen Fäden der Spinnweben langsam auf meine Haut. Es werden mehr und mehr und dennoch sehe ich sie nicht, noch weiß ich nicht, wo sie herkommen. Nur dass das kein Horrorfilm und auch kein böser Traum ist. Es ist eigentlich ein ganz schöner Ausflug. Ich wandere zwischen hohem Schilf und Gräsern, zwischen mit Tautropfen benetzten und von unzähligen Spinnen besetzten Pflanzen. Der Zauber der Natur. Ich befinde mich im Bartschtal.

Das schöne Bartschtal

Das niederschlesische Bartschtal ist für seine weitläufigen Wasserlandschaften und Teiche bekannt. Uralte Bäume säumen die Alleen und rundherum sind die Rufe unzähliger Vogelarten zu hören. Gut, das Märchenland der tausend Teiche beinhaltet derer nicht wirklich tausend; dafür wurden die meisten davon bereits im Mittelalter angelegt und wurden zur Fischzucht genutzt. Heute noch wird hier der beste Karpfen gezüchtet, doch außerdem dienen sie noch als Rückzugsort diverser Tierarten. Es ist die größte, zusammenhängende Teichlandschaft in Europa, und trotzdem nicht so berühmt wie die Masurische Seenplatte. Was seine Vorteile hat. Das Bartschtal ist bei weitem nicht so überlaufen wie die üblichen polnischen Reisedestinationen. Ein perfekter Ort, um zu entspannen und um Tiere zu beobachten.

Und um sich todesmutig zwischen tausende lauernde Spinnen zu begeben, so wie ich. Doch wie bin ich hierher geraten, frage ich mich, mit einem Zweig um mich herum wedelnd (hoffentlich bleiben die Spinnweben am Zweig und nicht an mir hängen…). Tja, vermutlich so wie mit dem Auto in den tiefen Wald gestern Abend. Durch Abenteuerlust gepaart mit Arglosigkeit. Wie dem auch sei. Die Natur heißt mich schon zum zweiten Mal willkommen…

 

Reset

Früh am Morgen, in der Winzerei de Sas. Eine frisch aufgewachte Reisende reibt sich die Augen. Einmal strecken, nochmal gähnen, fertig. Zeit zum Aufstehen.

Die frühe Stunde hat etwas magisches an sich. Ist es Raureif dort draußen, zwischen den Birkenstämmen? (Ist es nicht…) Das Frühstück fällt aus, in Ermangelung eines getätigten Einkaufs. Gleiches betrifft den Kaffee. Die Reisende ist ziemlich schnell fertig und bereit, zu reisen. Eine Wanderung steht an; durch das schöne Bartschtal.

Früh am Morgen ist niemand zu sehen an diesem Sonntag. Alles schläft tief und fest, und nicht einmal die Streichelkatze vom Vortag lässt sich blicken. Still führt der Weg durch Birkenwälder. Nahe der berühmten Milickie Teiche bringt die Reisende ihr Auto zum Stehen. Das Einparken führt durch eine tiefseegroße Schlammpfütze, was in schockierender Weise Erinnerungen an das gestrige Malheur im Wald (…durch den Wald?) erinnert. Doch auch dies ist überstanden. Aussteigen, Schuhe wechseln, noch einmal kurz dem scheinbar vogelkundigem Mann mit Hut und Fernglas hinterher schauen, der im Dickicht verschwindet. Wahrscheinlich wird er sich irgendwo auf die Lauer legen und Stunde um Stunde im nassen Gras ausharren. Was die Leute so für ihre Leidenschaft tun.

Die gut ausgeschilderten, deutschen Wanderwege gewohnt bin ich hier leicht aufgeschmissen. Es gibt zwar Markierungen, doch sind diese eher an Radfahrer gerichtet. Das Bartschtal hat ein engmaschiges, weitläufiges Netz aus Radwegen, welche an den schönsten Attraktionen und Landschaften vorbei führen. Und dieses Angebot wird rege genutzt; so etwas wie „wandern“ hingegen scheint eher unüblich zu sein. Ebenfalls sehr in Mode ist das „spazieren gehen“ oder „Flanieren“ auf gut ausgebauten Flaniermeilen. Dies ist eine beliebte Sonntagsbeschäftigung mit den Kindern oder mit den Freunden. Ich bin mit meinen Wanderschuhen zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen.

Doch noch bekomme ich von alldem nichts mit, denn ich bin vollkommen alleine. Die Sonne versteckt sich noch schüchtern hinter Bäumen und die hohen Schilfgräser glitzern von Tau. Ich halte mich an die Markierung und beschließe ansonsten, meinen gesunden Menschenverstand zu benutzen (nicht so wie gestern…). Der vorgebliche Vogelkundler ist längst im Dickicht verschwunden. Ich orientiere mich an den Milickie-Teichen, die ich bisher noch nicht sehen, jedoch hören kann. Über eine halb vermoderte, alte Holzbrücke geht es in den ausgewiesen Naturreservat.

Schon bald verlasse ich den ausgeschilderten Weg und begebe mich auf eine taufrische Wiese, wo ein Weg aus kurz gemähtem Gras mitten in die Natur führt. Na das ist wunderbar – vielleicht kann ich, scheues Reh, am frühen Morgen ein süßes, scheues Reh entdecken?

Das kurzgemähte Gras benetzt meine Füße mit einer feinen, nassen Schicht. Ich fühle mich wie der Entdecker vor dem Herrn. So ursprünglich habe ich kaum eine Landschaft erleben dürfen! Und wenn man bedenkt, dass dieses „ursprüngliche“ Biotop einst von Menschenhand geschaffen worden ist…

 

Die Milickie-Teiche

Die Milickie-Teiche wurden bereits im 11 Jahrhundert angelegt. Günstig hierfür war die Lage und der Verlauf des Flusses Bartsch (Barycz…), der es ermöglichte, in seinen Seitenarmen größere Wasserreservoirs anzulegen. Auch begünstigt wurde das durch seine Lage in einer natürlichen Vertiefung im ansonsten flachen Terrain. Perfekte Bedingungen für die Fischzucht, die schnell als solche erkannt und genutzt werden.

Die Milickie-Teiche werden das erste Mal im 11 Jahrhundert erwähnt. Doch ihre Blüte erlebten sie XIII mit der Ankunft der Zisterzienser-Mönche, die den Begriff des Fastens, also des Verzichtes auf Fleisch, prägten. Im Mittelalter galt Fisch nicht als „Fleisch“, insofern erfreuten sich die von dem Mönchen eingeführten Karpfen großer Beliebtheit. Am intensivsten wird die Fischzucht im XVI und XVII betrieben; die Teichanlagen erreichen zur damaligen Zeit eine Größe von gut und gerne mehreren Tausend Hektar. Doch mit der Zeit wird der Anbau von pflanzlichen Nahrungsmitteln rentabler. Und da zu hohe Wassermengen für die Fischzucht entnommen werden, beginnt der Fluss Bartsch zu versanden. Nach und nach werden die Teiche wieder zugeschüttet und die wiedergewonnen Gebiete als Felder für den Gemüse- und Getreideanbau genutzt.

Heute wird in den Milicer Teichen weiterhin Karpfen gezüchtet, allerdings in kleinerem Maßstab. Eine neue Zuchtmethode (mit der ich euch und mich nicht langweilen will) bedingt es, die Teiche in kleinere Areale aufzuteilen. Auch wurde das Gebiet aufgrund seines Tier- und Pflanzenreichtums zum Naturreservat erklärt und unter Schutz gestellt. Bereits in 1963 entstand das Reservat „Milickie-Teicher“ Es ist ein beliebtes, doch noch immer von vielen Polen unterschätztes, Erholungsgebiet.

 

Auf dem Schoße der Natur

Frohen Mutes wandere ich los. Doch ein Seitenpfad, der mitten ins hohe Schilf und auf eine Lichtung führt, erregt meine Aufmerksamkeit. Ich weiche vom Weg ab wie der sprichwörtliche Spatz auf der Suche nach Brotkrümeln (…gibt es so ein Sprichwort überhaupt? Nein? Dann muss ich eins erfinden…). Am Wegesrand locken schwarze, glänzende Brombeeren. Jetzt ist Brombeer-Zeit; ich lasse eine nach der anderen im Mund verschwinden. Nur eines irritiert mich, und das ist dieses seltsame Gefühl auf der Haut. Wie tausend kleine, feine Spinnwebenfäden, die sich auf meine nackten Arme legen. Je weiter ich gehe durch dieses taufeuchte Gebiet, umso stärker wird der Eindruck, als wenn gleich eine riesenhafte Mutterspinne über mich herfällt. Altweibersommer, tröste ich mich und bewundere weiter die Schönheit der verlassenen Destination. Keine Wanderer außer mir. Keine Menschen außer mir. Stattdessen Tierpfade, die mitten durch die Büsche und das hohe Gras führen. Ausgetretene Stellen, niedergewälztes Gras, welches mir zeigt, dass sich just vor einem Moment etwas Großes hier aufgehalten hat. Was war es gewesen? Ein Hirsch? Ein Wildschwein? Die Wiese ist voll von diesen Spuren.

Insektenmangel. Vom Insektensterben kann hier keine Rede sein, denn sie sind überall. Und sie sind so viele mehr als es in Deutschland auf irgend einer Wanderung den Anschein hatte. Hier umschwirren sie mich, klammern sich an meine Hosenbeine, fliegen mir um und beinahe in den Mund. Insektensterben? Von wegen.

Weiße Fäden im Gras. Hellgraue Netze, bereit, zu fangen, was immer sich in sie verirrt. Wunderschön anzusehen mit ihren tausend Tautropfen. Wie vergessene Schleier, verlassen wirkend. Ich genieße die Nähe zur Natur. Und zwar genauso lange, bis ich beinahe in so einen weit aufgespannten „Schleier“ hineinlaufe. Die Mutterspinne sitzt mittendrin.

Ein unterdrückter Schrei zerreißt die Stille. Es ist der meine. Ich hüpfe zurück. Schaue. Gehe vorsichtigen Schrittes um das große Muttertier herum.

Ein genauer Blick offenbart mir, dass es hier von diversen Spinnen nur so wimmelt. Am häufigsten sehe ich die gemeine Kreuzspinne, vielleicht nur deshalb, weil sie groß und gut sichtbar platziert ist. Doch auch größere und kleinere Exemplare verstecken sich unter Blättern und in Gräsern, spinnen ihre langen Weben mitten in den Weg. Ich besorge mir ein „Schwert“; einen langen Zweig (der seinerseits auch voller Spinnweben ist) und wedle damit um mich herum. Das sieht sicher lustig aus. Stellt euch mal vor, eine einsame Wanderin, die wie Storch im Salat durch das Gras stampft, sich beim Anblick von jeder Spinne einnässt, einen Hüpfer vollführt und ein leises Kreischgeräusch von sich gibt. Und um sich wedelt. Nein, ich habe es nicht auf Video. Doch ich weiß eines. Dass ich in diesem Moment die Schnauze voll von der Natur habe. Und inständig darum bete, dass mir keines dieser Viecher von irgendwo oben auf den Kopf fällt.

Auch der Zweig in meiner Hand kann nicht verhindern, dass sich weiterhin feine Fäden um meine Arme legen.

Doch ich komme nicht umhin, die Schönheit dieses Areals zu bewundern. Es ist wie in einer verwunschener Welt, sie ist Märchen und Horrorfilm zugleich. Aus dem dichten Schilf dring das Geschrei von Wasservögeln an mein Ohr; ich höre Enten, Gänse und sehe hin und wieder einen schneeweißen Reiher beim Flug. Es ist wunderschön hier. Nur möchte ich ganz gerne die Natur Natur sein lassen und sie in einem gesunden Abstand bewundern.

Also geht es wieder zum ausgewiesenen, befestigten Wander… pardon: Radweg.

Es gibt übrigens kein einziges Foto von den Horrorspinnen. Meine Versuche, sie auf Chip zu bannen, sind unscharf geblieben.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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4 Kommentare

  1. Natürlich unscharf! Mit zitternden Händen kann man nichts anderes erwarten. 😉

    1. Vor Angst haben die gezittert… jawohl 🙂

  2. Wirklich eine schöne Gegend, die wir den Mönchen verdanken. Schön zu hören, dass es noch Orte gibt, an denen die Insekten sehr gut gedeihen. Vielen Dank, dass Sie uns diesen besonderen Bereich bei Kasia gezeigt haben.

    1. Insekten gab es dort viele. Zumindest meinem Gefühl nach. Es gibt sie noch, diese naturbelassene Oasen. In Deutschland habe ich wirklich den Eindruck, es werden immer weniger…

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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