Es ist das erste Mal seit Jahren, dass ich diesen alten Schulweg laufe. Eigentlich seit Jahrzehnten. Und es ist, als würde ein Bann brechen. Wie oft verfolgte mich dieser Weg in meinen Träumen, all die langen Jahre, die ich in Deutschland war. Bis heute. Bis heute gehe ich nachts, wenn ich schlafe, in meinen Träumen hier entlang. Ziehe mein Fahrrad hinter mir her oder gehe zu Fuß. Mal bin ich alleine, mal ist jemand bei mir. Ich kenne hier jede Biegung, jede kleine Erhebung, die der Weg bildet. Ich kenne jede tiefere Pfütze. Und dort, dort befindet sich der Hof des „bösen“ Bauern, eines von jener Sorte, die unsereins aus reiner Mutwilligkeit zur Rückkehr zwingen konnten.
So habe ich es mir damals eingeredet, denn Tatsache ist: ich habe diesen Bauern nie getroffen. Nur sein großer, schwarzer Hund war immer präsent und bellte immerzu, wenn man vorbei lief. Er war angekettet, doch meine Angst vor den örtlichen Dorfhunden war omnipräsent. Ich konnte jedes Haus und jedes Gehöft in damaliger Zeit nach seinen Hunden aufzählen.
Das verlassene Gehöft
Soweit ich es nun sehen kann, ist der Hof des Bauern noch mehr zugewachsen als er es damals bereits war. Hohe, alte Bäume, dichte Büsche, Flieder. Vorsichtig nähere ich mich, jederzeit darauf gefasst, dass der große, schwarze Hund, vor dem ich Angst hatte, zu bellen beginnt. Und dabei schelte ich mich eine Närrin, denn es ist über fünfundzwanzig Jahre her. Der große, schwarze Hund ist längst tot. Der Bauer vielleicht auch.
Ich komme näher und schaue neugierig hinein. Noch bellt der große (tote!), schwarze Hund nicht. Der Feldweg verläuft direkt neben dem Gehöft. Drinnen erspähe ich noch mehr Gebüsch. Junge Bäume wachsen mitten aus der Erde. Hier lebt schon lange niemand mehr. Ein paar alte Ruinen stehen noch da. Sollte das wirklich wahr sein? Ich bleibe stehen, ungläubig in Angesicht dessen, wie gnadenlos der Zahn der Zeit doch zugeschlagen hat. Der Hof ist verlassen.
…wirklich?
Als mir nach ein paar zögerlichen Schritten ein Hase, Hacken schlagend, vor meinen Füßen wegrennt, verfliegt jeder Zweifel. Meine anfängliche Angst verwandelt sich in euphorische Begeisterung und ich beginne, immer noch ungläubig, jeden Winkel dieses verlassenen Areals zu erkunden.
Viel zu erkunden gibt es nicht. Nur wenige Ruinen haben sich erhalten, und davon nur die Mauern. Die Fenster sind blind oder nicht mehr vorhanden und anstelle von Türen klaffen Löcher in der Wand. Es gibt keine alten Möbel, keine erhaltenen Räume. Hier wurde alles abtransportiert und der Rest dem Verfall überlassen. Irgendwann kommt sicher jemand hierher, jemand, dem das hier gehört, und macht sich daran zu schaffen, aus dem alten Grundstück etwas neues zu machen.
Rissige Fensterrahmen sind noch da, rostige Gitter. Stücke einer alten Mauer, die vielleicht zur Scheune, vielleicht zum Haus gehörte. Einige Teile der Gemäuer wirken relativ neu. Einige sehr alt. Die Grundstruktur des Hofes ist noch zu erkennen.
Als ich meinen Kopf aus einer dieser klaffenden Türlöcher ziehe, entdecke ich im Türrahmen einen Vogel, der regungslos in seinem Nest hockt. Die vielen Löcher in der Mauer sind den Federtieren eine willkommene Nestmöglichkeit. Der Vogel starrt mit verängstigten, schwarzen Glupschaugen vor sich hin und an mir vorbei. Hoffentlich, so wird er wohl denken, entdeckt mich dieses große, seltsame Tier nicht. Wenn ich mich nur so leise verhalte wie irgend möglich.
Noch nie hatte ich ein bewohntes Vogelnest direkt vor der Nase. Dies, und die Tatsache, dass es hier keinerlei frischer Spuren menschlicher Anwesenheit gibt, zeigt mir deutlich, wie verlassen dieser Ort tatsächlich ist. Hier, so weit auf dem Land, verirren sich nicht einmal Jugendliche oder Betrunkene her. Wie sonst können sich Hasen und gefiederte Nestbauer so wohl fühlen?
Ich schaue noch kurz fasziniert hin und ziehe mich dann zurück. Das hätte mir noch gefehlt, dass das Federvieh vor lauter Angst seine Eier verlässt. Geordneter Rückzug also, nicht ohne vorher ein paar Aufnahmen zu machen.
An der ehemaligen Viehtränke vorbei, die nur noch aus einem Grundriss aus Beton besteht, verlasse ich das Gelände. Sehr weitläufig ist es nicht, vielmehr ein kleines, überwuchertes Paradies zum entdecken. Draußen pflücke ich noch etwas von dem überbordend wachsendem Flieder, dessen Sträucher fast bis zu den Baumkronen reichen. Der ganze Fleck Erde hier ist ein einziger Busch.
Von Lerchen und Rehen
Die Weite der Felder, der Geruch der Felder; es ist alles so wie damals und katapultiert mich in die Zeit meiner Kindheit. Der kräftige Wind bläst warm um meine bemützten Ohren und bringt einen schwachen Rapsgeruch mit sich. Ansonsten, Wärme, Erde, Landleben… ungreifbar, unbeschreiblich, wie so viele Dinge gleichzeitig in einer Windböe, in einem vertrauten Geruch gespeichert werden können.
Jeder Blickwinkel, jedes Haus, das alles ist mir so vertraut. Hier, entlang dieser Felder war ich, im Sommer wie im Winter, immer unterwegs. Und war mal der Weg unpassierbar, wurde das Fahrrad geschoben. Ansonsten gab es immer so etwas wie eine Offroad-Rallye. Immer wenn ich in Deutschland diese Sportgelände sehe, die man zum Offroadfahren nutzen kann, bleibe ich stehen und denke mir; ja, ich könnte das auch. Hatte ich doch in meiner Kindheit ausreichend Zeit zum üben.
Hoch oben über mir ertönt der Gesang einer Lerche. Manchmal nahe, manchmal aus der Ferne. Ihr Lied leitete schon seit jeher den Frühling ein. „Lerchen? Jetzt ist es doch zu spät für Lerchen.“ Wird meine Mutter später einwerfen. Doch die Lerchen sind da. Und ich kann sie hören.
Der Wind, die Felder, der Geruch.
Und wie ich ihn so gehe wie in Trance, den ewigen Weg meiner Kindheit, da springen drei flinke Rehe über die schwarze Erde, vielleicht dreihundert Meter von mir entfernt. Ich zücke meine Kamera, doch bin nicht schnell genug. Rehe, wo zum Henker kommen diese Rehe her? Der nächste Wald ist doch Kilometer entfernt? Die Rehe rennen in riesigen Sprüngen über das Feld, passieren den Feldweg, auf dem ich gerade laufe und verschwinden hinter dem nächsten Gebüsch. Rehe. An dieser Stelle. Zu dieser Zeit. In all jenen Jahren, in denen ich tagtäglich diesen Weg ging, sah ich keinen einzigen von ihnen.
Ich schaffe es, ein kleines Video zu machen. Später, als ich die Stelle passiere, fällt mir ein kleiner Hufabdruck in der feuchten Erde auf. Hier, genau an dieser Stelle, sind sie auf und davon. Erst dieser verlassene Ort, dann diese Begegnung. Was habe ich heute ein Glück.
Das ist für dich ja ein ganz besonderer Lost Place mit so vielen teils schaurigen Erinnerungen. Wunderbar, dass die Natur, und ganz besonders die Fauna ganz unbeeindruckt vom Verfall – oder besser gesagt gerade wegen des Verfalls und dem damit verbundenen Verlassensein des Ortes – profitiert. Die Fotos von dem Vogel, der sich dort häuslich niedergelassen hat, sind dir sehr gut gelungen! Genauso das Video von den sprintenden Rehen 😎.
Dass der Hof aufgegeben wurde, war eine echte Überraschung. Und dass dort alles generell so wild ist. Ich hätte nie gedacht, in diesen Breiten mal Rehe zu sehen. Aber anscheinend nutzen sie solche grünen Oasen als Zufluchtsorte. Der Vogel, was soll ich sagen, fast hätte ich ihn übersehen. Und er hat wohl gehofft, dass ich ihn übersehe 🙂
Liebe Kasia,
ich kann mich auch an einen Hund aus meiner Kindheit erinnern. Bei uns im Mühltal war ein Haus, vor dem ein Hund laut bellend hinter dem recht niedrigen Tor lief. Als ich dort vorbeiging, rief sein Besitzer, er würde gleich den Hund loslassen, wenn wir nicht weitergingen. Meine Freundin und ich hatten große Angst und sind schnell weg.
Die alte Realschule, die ich besuchte, ist heute selbst ein Lost Place. Es gibt sogar Videos von ihrem Innenleben bei Youtube. Das ehemalige Ursulinenkloster Marienberg ist aus dem 12. Jahrhundert. Das Gebäude hat viel erlebt. 1981 wurde es an die Maharishi-Organisation verkauft. Danach hatte es wechselnde Besitzer und verfällt vor sich hin. Seit 40 Jahren tut sich nichts. Es ist ein Jammer! Ich war dort im Kindergarten und in der Schule. Vor dem inneren Auge sehe ich den wunderschönen Kreuzgang und die Kapelle oder meinen Schulraum.Decken sind eingestürzt.Irgend wann wache ich vielleicht nachts auf und das ganze Gebäude stürzt krachend zusammen.
Liebe Grüße
Renate
Liebe Renate,
das ist echt ein Jammer mit deiner alten Schule. An sich mag ich ja verlassene Orte, nur wird es diesen schönen Ort mal nicht mehr geben, denn die Zeit frisst alles ziemlich schnell auf, wenn man nichts tut. In deinen Gedanken ist die Schule sicher noch so, wie sie früher einmal war. Hast du sie seitdem in ihrem jetzigen Zustand besucht?
Euer Nachbar scheint ein echter Kinderfreund gewesen zu sein…
Liebe Grüße
Kasia
Oh – die Rehe sehen ja cool aus – ich sehe immer nur Nachts welche am Strassenrand stehen….zum Glück stehen.
Lach, irgendwie habe ich nachts noch keines gesehen 🙂 bei mir kommen die nur tagsüber raus 😉
Da wir ja so früh arbeiten sind sie öfter mal zu sehen – dafür sehe ich sie weniger Tagsüber, da zuviel Verkehr ist. 😁
Liebe Kasia,
die Schule ist abgeriegelt. Ich kenne die Innenräume nur noch von einem Lost Places-Video. Alle Fenster sind kaputt und überall bröckelt es. Leider.
Liebel Grüße
Renate
Das ist schade. Hoffentlich kümmert sich bald jemand drum…
Sehr einfühlsam … und eine so romantische Ruine (ohne Hund) 🙂 .. geniesse weiter deine Zeit —
Liebe Traudl, vielen Dank. Die Ruine war wildromantisch und geheimnisvoll. Leider bin ich wieder zurück. Obwohl ich einerseits auch froh bin, wieder in Mannheim zu sein. Es ist halt eine andere Welt dort drüben 🙂
Hallo Kasia,
wenn ich es aus deinem Bericht richtig herauslese, ist es eine ziemlich einsame Gegend die du im Moment besuchst. Auf der einen Seite kann ich verstehen, dass die Höfe aufgegeben werden. Wer will heute noch als Bauer wirtschaften. In der Fabrik verdienst man sein Geld sicherer. Schade ist nur, dass das was bleibt verfällt.
Dass der Mensch nicht mehr „stört“ merken natürlich auch die Tiere. Wir haben kürzlich auch zwei Rehe gesehen, obwohl direkt eine Schnellstraße vorbeiführt. Ich denke die Tiere arrangieren sich damit.
Liebe Grüße Harald
Hallo Harald,
es ist eine ziemlich unattraktive Gegend zum Leben. Dort gibt es nichts, der nächste Laden ist kilometerweit entfernt. Erschwerend kommt eine neue Regelung der PIS hinzu: du kannst deinen Hof und dein Land nur an jemanden verkaufen, der in derselben Gemeinde lebt. Aaber: du kannst deinen Grundbesitz auch der Kirche spenden. Gut, davon hast du dann zwar nicht so viel, aber dein Seelenheil ist gerettet 😉
Die liebe Kirche: Wo es was zu holen gibt ist sie immer zur Stelle. 😟
Das ist wahr… es gibt bei uns noch immer Leute, die lieber der Kirche was spenden, anstatt ihren Kindern vernünftige Schulsachen zu kaufen. Hat mir meine polnische Freundin so berichtet. Durch die aktuelle Politik wird die Kirche einerseits immer stärker, andererseits wächst im Land auch die Wut gegen sie. Bei den Neujahresbesuchen (Priester der Gemeinde besucht die Menschen einmal im Jahr zu Hause, um sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen) wurden sie mancherorts verjagt, früher undenkbar. Ich denke, da tut sich was und bin gespannt, in welche Richtung das noch abdriftet…
Tolle Eindrücke, tolle Fotos! Du wirst feststellen: die großen, schwarzen Hunde Deiner Kindheit sind alle tot! Sie leben nur noch in Deinen Erinnerungen. Wenn man sie nicht mehr fürchtet, dann findet man schöne und verzauberte Orte, so wie den verfallen Hof. Du entdeckst eine Vogel in seinem Nest. Für ihn bist Du der große schwarze Hund…
Wie schön gesagt. Aber ich protestiere, ich habe weder gebellt noch nach dem armen Vieh geschnappt 😉 Die Hunde sind heutzutage größtenteils eingesperrt, das liegt an den strengeren Auflagen. Früher rannten sie noch frei rum und ärgerten Kinder und mit dem Rad vorbeifahrende Großmütter 🙂
Die Fotos der Ruine sind eigentlich sehr schöne Urbex-Aufnahmen.
Das Treffen mit dem Reh war etwas ganz Besonderes, vielen Dank für die Videobilder, die Sie gemacht haben.
Urbex, ja, daran habe ich auch gedacht. Auch wenn nicht mehr viel übrig war von dem ursprünglichen Haus. Trotzdem war es sehr spannend, dort umherzustreifen.
Schöner und erlebnisreicher Spaziergang und kannst du jetzt deine Albträume damit ablegen? Du hast ja nun gesehen, dass da nicht ist, was dich weiterhin bedrohen könnte, auch keine „böser“ Bauer und kein schwarzer Hund.
Liebe Grüße
Roland
Lieber Roland, Albträume waren das nicht, eher ein Gefühl des Verlorenseins und ein Umherstreifen auf alten Wegen. Ich zog damals ziemlich plötzlich dort weg. Trotzdem hoffe ich, dass jetzt Ruhe ist mit der Träumerei 🙂