Europa, Polen

Zwischen Wiesen und Feldern

Es strahlt ein blauer, blasser Himmel über dem weitgezogenem Dorf. Goldenes Licht des Morgens lässt die Landschaft beinahe lieblich aussehen, anstatt der gestochen scharfen Scherenschnitte der Mittagssonne. Innerhalb des Hauses ist es kalt. Die Mauern haben den Winter über genügend Kälte gespeichert, um noch die folgenden Generationen zum frösteln zu bringen. Ich laufe in Wollpulli, Wollsocken und einer Jacke herum. Draußen heult der Wind.

Doch sobald ich das Haus verlasse und losmarschiere, merke ich, wie mir immer wärmer wird. Es ist wie verhext; die Kälte kommt von den Mauern. Der Wind, von dem so häufig gewarnt wurde, besteht aus warmer Fönluft. Zieh dich warm an, haben sie gesagt. Du wirst frieren, haben sie gesagt. Nach und nach werfe ich alle überschüssigen Klamotten von mir, als ich in Richtung Feldweg abbiege, und verstaue sie im Rucksack.

Unsere Feldwege sind nicht asphaltiert. Strenggenommen handelt es sich auch um keine richtigen Wege. Der „richtige“ Weg macht einen weiten Umweg, ehe er bei den Bahngleisen irgendwo nahe der Stadt endet. Will man schneller voran kommen, weicht man auf die (meist privaten) Feldwege ab. Wenn ihr mal bei uns unterwegs seid und euch so ein scheinbar unentdeckter, unbefestigter Feldweg anlacht, wo noch tiefe Pfützen vom letzten Regen glänzen und der weiche Schlamm sich in den von Traktorreifen ausgegrabenen, tiefen Löchern sammelt, dann denkt dran: es sind keine Wanderwege, wie man sie bei uns kennt. Es ist Privatbesitz. Ihr könnt dort entlang gehen (die meisten Leute machen es), es kann sogar sein, dass euch eine schöne Strecke erwartet. Aber es kann euch ebenso gut passieren, dass ein Bauer auftaucht und verlangt, dass ihr umkehrt. So wie es meiner Oma und mir einmal zu meiner Schulzeit passiert ist. Tja, dann kehrt ihr um.

Ich inspiziere eine Weile die Schilder, die die Stadt anzeigen. Es ist skurril bei uns; die gesamte ehemalige Straße Żukówka, die sich einst durchs Dorf zog, wurde nun auf ein Gebiet erweitert und zu einem Stadtteil zugehörend zu Błonie erklärt. Die gesamte Straße – bis zu diesem kurzen Stück, welches sich an unserem Haus und weiter vorbei zieht. So gehören wir noch zu einem anderen Kreis, während rund fünfzig Meter weiter die Stadt beginnt. Aber solche Zugehörigkeiten haben die Menschen hier nie besonders interessiert, außer wenn es darum ging, zu welcher kirchlichen Gemeinde man gehörte (doch auch das wurde mit der Zeit aufgeweicht und alle strömten nach Błonie in die Messe) und darum, sich einen neuen Ausweis ausstellen zu lassen.

Interessant wird es erst, wenn man feststellt, dass auf der städtischen Seite die Straße neu asphaltiert ist, auf der dörflichen jedoch ein Flickenteppich herrscht. Und das nur, weil sich eine einzelne Bäuerin darüber beklagte, dass ihr die Straße einen Teil ihres Feldes „gestohlen“ hätte. Man solle ihr doch bitte erst einmal den entstandenen Schaden ersetzen, bevor man sich ans asphaltieren mache. Daraufhin wurde es der Gemeinde zu bunt und sie gab das Projekt „Straßenerneuerung“ entnervt auf. Keine neue Straße, für niemanden.

Die Bäume sind neu. Entlang der asphaltierten Straße ehemals Żukówka steht rechts eine Baumreihe frischer, grüner Satzlinge. Na gut, ein bisschen groß für Satzlinge; die stehen hier schon ein paar Jahre. Alte Bäume entlang von Straßen und Feldwegen wurden früher gefällt, insbesondere wenn sie den Bauern dabei störten, seine schweren landwirtschaftlichen Fahrzeuge zu wenden. Selbst mein Opa hat seinerzeit zwei etwa hundertfünfzig Jahre alten Linden den Garaus gemacht. Der Pragmatismus der Polen erstreckte sich auf alles, was störte oder nicht richtig passte. Eine Portion Unwissenheit kam dazu. Glücklicherweise haben sich diese Zeiten längst geändert, denke ich mir, während ich die Satzlinge betrachte. Ein alter Spruch fällt mir ein, den meine Oma öfters zitiert hat. Ein Bauer sagte einst: „Schaut mal, der Fortschritt kommt. Sie fällen die Bäume.“ Jetzt, denke ich mir, müsste es eher heißen: Der Fortschritt kommt, es werden Bäume gepflanzt.

Als ich losgehe und an den ersten Nachbarshäusern vorbei laufe, versuche ich mich, soweit möglich, unsichtbar zu machen. Nein, aus keinem besonderen Grund. Ich möchte nur nicht als nicht hinzugehörend wahrgenommen und angestarrt werden. Hier kennt jeder jeden. Und soviel hat sich eigentlich nicht geändert, wenn ich mich so umschaue, bis auf Kleinigkeiten. Es sind noch immer dieselben Häuser, dieselben Höfe, dieselben Leute, die hier leben. Der Nachbar von gegenüber, der sein Haus erst sehr spät bezog. Lange Zeit in meiner Kindheit lag sein Grundstück brach und uralte Akazien umrankten es von der Straßenseite (die mussten übrigens auch dem „Fortschritt“ weichen). Sein Wasserbrunnen war voll mit Steinen und Unrat, den irgendwelche Jugendlichen dort hinein geworfen haben. Es war ein Lost Place, wie man das heutzutage sagt; und entsprechend hatten wir uns dort auch ausgetobt (ich nicht, niemals). Als Kinder sahen wir zu, wie er schließlich das Grundstück bezog, wie er mit eigenen Händen die großen und kleinen Steinbrocken aus dem Brunnen hob. Jetzt ist aus dem verwahrlosten Grundstück ein schöner Garten geworden, der sein Haus umgibt. Zwei große Hunde schlagen an, sobald ich am Zaun entlang laufe. Ein wenig trauere ich noch den riesigen Akazien nach. Und in meinen Träumen ist dieser Ort noch immer „lost“.

Auf den Feldweg abzubiegen ist ein spontaner Gedanke. Der angenehme Wind weht mir um die Nase und bringt den Geruch der Felder mit. Dieser ganz eigene Geruch meiner Kindheit. Oben am Himmel singen Lerchen ihr Frühlingslied. In Deutschland hört man sie kaum noch, hier hört man sie überall. Ja, auch noch jetzt, ende Mai.

Als ich an einem weiteren Haus vorbei komme, schlägt wieder ein Hund an. Die Leute halten hier Hunde, und die sind nicht zum Streicheln da. Als zuverlässige Alarmanlagen auf vier Beinen bewähren sie sich schon seit Jahrhunderten. Gehalten werden sie draußen, in Zwingern oder auf dem Hof. Ja, es gibt sowas wie artgerechte Haltung, denn soweit ich sehen kann, sind die Swinger groß und geräumig. Es ist fast unmöglich, unbemerkt an einem Haus oder Hof vorbei zu gehen, ohne von den Anwohnern registriert zu werden. Die Hunde schlagen an, sobald man sich nähert.

Dies hier war mein Schulweg. Sobald es draußen trocken wurde und der stetige Herbst- oder Frühlingsregen aufhörte, sobald der Feldweg trocken und hart wurde, passierte ich ihn jeden Morgen mit meinem Fahrrad und sparte mir so mindestens zwei Kilometer. Ja, ich schrieb, dass sei Privatgrund. Aber ich schrieb auch, dass die Leute da trotzdem entlang gehen. Je nach Beschaffenheit und Zustand des Weges (trocken, matschig, Pfützen oder ganze Teiche aus Schlamm?) wurde gefahren oder das Rad vorsichtig um die Pfützen herum geschoben. Bis man auf der anderen Seite der Felder war und auf der asphaltierten Straße weiter fahren konnte. Nix da mit SUV vor die Schule.

Aber, wenn wir schon beim Thema SUV sind, kleiner Fun Fact am Rande: manchmal, wenn der Winter besonders kalt und frostig war und man mich nicht alleine gehen lassen wollte, da brachte mich mein Opa mit seinem Traktor in die Stadt. Ein Auto war damals nicht vorhanden, doch einen Traktor hatte fast jeder in seiner Scheune stehen. So fuhr ich weit oben neben meinem Opa auf dem Traktor und kam mir vor wie die Königin der Welt. Dieses Gefühl hielt genau bis zum Stadtrand, denn ganz vor die Schule wollte Opa damals nicht. Er hatte er seinen Traktorführerschein nie offiziell gemacht und hatte Sorge, dass jemand beginnen könnte, sich dafür zu interessieren. Also ging ich den letzten Kilometer zu Fuß weiter. Was vergleichsweise nur noch ein Katzensprung war.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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13 Kommentare

  1. Mit dem Traktor zur Schule. Wie cool! Ich bin überhaupt noch nie Traktor gefahren und gerade ein bisschen neidsch 🙂

    Liebe Grüße
    Feli

    1. Liebe Feli,
      ich hatte schon ein paar Mal das Vergnügen, es bleibt nicht aus, wenn man ein Dorfmädel ist 😉 Es ist ruckelig und langsam und man sitzt unheimlich hoch. Schon cool irgendwie 🙂

      Liebe Grüße
      Kasia

  2. Ich finde es total schön, dass du uns so anschaulich an deiner Reise in deine Kindheit und Vergangenheit teilhaben lässt. Ich finde es immer wieder erstaunlich, an was du dich alles noch erinnerst und wie genau du auch heute auf die Details schaust.

    1. Liebe Elke,
      schön, dass du digital mit dabei bist. Die Details fallen mir verstärkt ins Auge, wenn ich irgendwo an einem neuen (oder neu entdecktem) Ort bin. War ich hingegen irgendwo schon öfters, verfalle ich in eine Art „Betriebsblindheit“, wie wohl viele von uns 😉

      Ich hatte schon immer ein gutes Gedächtnis, was meine früheste Kindheit betrifft, meine Mutter ist heute noch am staunen, an was ich mich alles erinnern kann 🙂

  3. Die kindliche Fantasie macht irgendwelche Gegenstände zum schönsten Spielplatz der Welt. Ein kleiner Hinweis: In deinem Bericht sprichst du davon, dass Hunde in Swingern untergebracht sind. Google mal was Swinger ist.

    1. Ups…

      Hey, gönn doch den Hunden ihren Spaß… 😉

  4. Liebe Kasia, danke dass Du uns daran teilhaben lässt, wie Du Deine Vergangenheit neu erkundest. Und schon sind wir wieder bei Gerüchen. Ich kenne das aus meinen Griechenland-Urlauben. Die Inseln haben einen viel intensiveren Geruch, als ich das aus der großen Stadt kenne: eine Mischung aus Meer, würzigen Gräsern und wilden Kräutern, wie sie bei uns schon kaum noch wachsen. Eines hast Du mir voraus: ich wurde noch nie mit dem Traktor zur Schule gefahren…

    1. Ja, die Gerüche. Ich glaube, in die verliebt man sich sofort und man vergisst sie eigentlich nie wieder. Das mit dem Traktor war schon cool. Aber die meiste Zeit war ich mit dem Fahrrad unterwegs.

  5. Wenn ich das so lese….klingt einfach nach einer tollen Kindheit. Ich bin ein Stadtkind – wir haben zwischen Häusern und Strassen gespielt.

    1. Die kindliche Fantasie findet überall tolle Orte zum Spielen. Wir hatten damals auf der linken Seite vom Haus einen großen Garten, auf der rechten Seite eine Baustelle mit Geröll, einem Sandhaufen und einer ausgetrockneten Kalkkiste (die wahlweise als Auto, Panzer oder Schiff herhalten musste). Ach, was war das herrlich. Das war mein Lieblingsplatz 🙂

      1. Uh – stell dir die Mütter heute vor, die würden Amok laufen wenn die Kinder dort spielen würden. Unsere haben erst reagiert wenn Blut gelaufen ist.hahaha

        1. „Reagiert“ ist viel gesagt. Desinfizieren, Pflaster drauf, fertig ist der kleine Held 😉 Heute eigentlich unvorstellbar.

          1. sagt:

            Haha, ja genau so.😋
            Unvorstellbar heute😑

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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