Es ist dieses Geräusch. Dieses eine Geräusch, welches mich sofort in die Zeiten meiner Kindheit hinein katapultiert. So unverkennbar und markant, dass ich sogar stehen bleibe. Das Quietschen einer Tür.
Es gibt sie, die Orte, die viele Emotionen wecken; die Geister vergangener Zeiten in sich tragen. Wie den speziellen Geruch, den jeder Ort, jedes Haus in sich trägt. Orte, an denen Schatten dessen, was war, noch in den Wänden kauern. Dies ist so ein Ort.
Bereits um halb fünf, als es draußen hell wird, bin ich zum ersten Mal wach. Ein blasser, rötliche Streifen bedeckt den Horizont. Ein wenig später steht die Sonne hoch am Himmel und lacht mir ins Gesicht. Um sieben bin ich richtig wach. Um acht stehe ich auf.
Die piepsigen Geräusche im Dachstuhl hatten sich als ein Vogelnest entpuppt. Es zwitschert aufgeregt, sobald Mama oder Papa Vogel das Nest betritt. Das zu wissen beruhigt ungemein; mit einem Mäusenest hätte ich so meine Probleme.
Mit einem Kaffee in der Hand streife ich durch die Wohnung. Was gibt es im Kühlschrank; woraus kann ich mir ein Frühstück machen? Wieso geht der Induktionsherd nicht? Muss ich mich erst davor stellen und einen Tanz aufführen? Mein Onkel wird mich sicher später auslachen.
Mein Onkel ist längst auf Arbeit, ich bin alleine. Nicht einmal der Handwerker, der gestern in der Wohnung unten war, lässt heute von sich hören. Nach dem Frühstück ziehe ich mich an und gehe auf Erkundungstour über den Hof.
Das große Grundstück mit Feld haben meine Großeltern gekauft, als meine Mutter ein kleines Mädchen war. Nach und nach wurden alle Gebäude hier errichtet, Kraft der eigener Hände Arbeit. Sie kamen mit nichts aus dem Osten, lediglich etwas Erspartes ermöglichte es, das erste Stück Land zu erwerben. Land und Hof waren das wichtigste in der damaligen Zeit.
Inzwischen gilt das alles hier als alt. In den ehemaligen Scheunen war schon lange niemand mehr; Pflanzen wachsen vor dem Eingang. Als ich versuche, die dunkle Holztüre zu öffnen, gibt sie dieses einmalige Quietschgeräusch von sich. Ich bleibe stehen.
Bilder tauchen auf. Bilder davon, wie mein Großvater immer am Abend seinen Rundgang durch den Hof machte und die Scheunentüren schloss. Sie wurde mit einem Riegel von innen verriegelt und machte dabei dieses eine, kurze Geräusch, Abend für Abend, viele Jahre, viele Jahrzehnte lang. Es musste alles bis ins kleinste zugesperrt werden. Wer nicht auf sein Hab und Gut aufpasste, war selbst schuld, wenn irgendwann einmal etwas weg war. Das Glück war mit denen, die selbst auf ihr Glück Acht gaben. Das Leben verzeihte keine Nachlässigkeit. Nachdem mein Großvater mit seinem Rundgang fertig war, war der Hof verbarrikadiert wie eine Festung. So viele Schlösser – und für jedes ein anderer Schlüssel. Ein großer Schlüsselbund.
Der zweite Eingang zur Scheune ist offen. Ein neues Schloss hängt unversperrt an der kleinen Tür. Ich stoße sie auf.
Durch die Ritzen der großen Scheunentür fällt Sonnenlicht. Schemen erscheinen mir in diesem Licht, Umrisse der alten Dinge, die hier ihren Dämmerschlaf ableisten. Nichts davon wird je genutzt, alles erzählt von der Vergangenheit. Jedes Detail, jeder Gegenstand hat eine Geschichte, doch will niemand mehr diese Geschichten hören. Nutzlos gewordene, alte Dinge voller Erinnerung. Und so dämmern sie vor sich hin, von besseren Tagen träumend.
Ich träume von dieser Scheune. Ich träumte von diesem Ort. Immer und immer wieder. Nun stehen all meine seltsamen Träume wieder leibhaftig vor mir, ich gehe jeder Traumerscheinung nach. Für mich war dies hier in all der Zeit, als ich in Deutschland lebte, ein über lange Jahrzehnte nicht greifbarer Geisterort. Da ich ihn jetzt in Natura sehe, hören die Träume vielleicht auf. Ich spüre schon, wie sie vor meinen Augen auftauchen und sich einer nach dem anderen wieder auflösen. Schau mal, hier oben kletterte ich mit den Kindern rauf, als unten überfallen und wir gejagt wurden. Und auf der anderen Seite im Heu habe ich mich versteckt. Alles in meiner Traumwelt, nichts davon war je so passiert.
Ich hätte große Lust, die lange Holzleiter nach oben zu klettern, einen Blick auf den Heuboden zu werfen. Doch die Leiter hat einen Riss und gibt nach, wer weiß, ob sie mich noch trägt. Ein gebrochenes Bein ist die Jagd nach Gespenstern der Kindheit nicht wert.
Weiter geht es in den Bereich, wo früher Tiere gehalten wurden. Dicke, meterlange Spinnweben ziehen sich von Ecke zu Ecke. Die kleinen Fenster lassen spärliches Licht hinein. Die Steintröge aus der Zeit, als hier noch zwei Schweinchen in ihrem Gehege lebten, sind noch da. Doch meine Großeltern hatten schon lange keine Tiere mehr. Am ende rentierten sich nicht einmal die Hühner.
Der Kompost im Bereich, wo früher die Hühner nächtigten, liegt blass und sehr alt auf dem Scheunenboden. Was darunter lebt, will ich gar nicht so genau wissen. Zehn, fünfzehn Jahre wird das trockene Zeug alt sein, oder gar noch länger. Es liegt hier seit der Zeit, als meine Oma starb.
Ich öffne die rückwärtige Tür der Scheune, die hinten aufs Feld führt. Dafür muss ich ein großes Spinnennetz zerstören. Frische Luft strömt herein, auf die verkratzte, splitternde Farbe fällt Sonnenlicht. Hier hinten sind die Felder bestellt. Mein Onkel hat diese vor langer Zeit schon einem Freund verpachtet. Das kleine Stück, wo sie noch Gemüse anbauten, gleich an der Scheunenwand, ist komplett verwildert. Hohes Grass wächst hier. Auf der anderen Seite des Feldes ist das Elternhaus meines Kindheitsfreundes zu sehen. Eine Frau geht eilig über den Hof ins Haus, in den Händen eine Schüssel. Als kleine Göre bin ich immer übers Feld zu den Nachbarskindern gehuscht. Und auch jetzt möchte ich am liebsten rufen: „Krzysiek… wollen wir spielen?“
Hier hinten zieht es. Der sonnige Tag wird von einem kalten Wind begleitet. Das Plumpsklo ist dabei, einzustürzen. Die Bretter hängen in gefährlicher Schräglage und innen haben sich Himbeerbüsche eingenistet.
Hier im Dorf muss endlich auch die Zivilisation Einzug erhalten haben, denn ein Bus fährt vorbei und der Müll wird getrennt. Es gibt seit einigen Jahren schon eine durchgehende Infrastruktur. Wer hätte das gedacht. Als mein Opa damals erzählte, sie wollten in einiger Entfernung hier eine Autobahn bauen, da habe ich ihm nicht geglaubt. Niemand baut eine Autobahn mitten im Nichts. Die Autobahn ist jetzt da. Sie kam, als Polen Mitglied der Union wurde. Über eben jene Autobahn bin ich gestern hierher gekommen.
Draußen im Garten verfliegt die Wehmut. Die Sonne lässt sie nicht zu. Kurz stehe ich unter der großen Linde, die bei uns die Einfahrt markiert. Ihre Äste wirken wie ein Ballsaal, unter ihren riesigen Pranken, die bis zur Erde reichen, kann ich abtauchen und mich vor der Welt verstecken. Ihre Krone erstreckt sich bin in den Himmel. Hoch ist sie, und sehr alt. Die Linden an unserem Haus sind an die zweihundert Jahre alt. Im strahlendem, frischem grünem Kleid.
Bei mir ist ein Geruch den ich immer noch aus damaliger Zeit in der Nase die von Intershops in der DDR. Das waren Läden wo man für Westgeld Westwaren kaufen konnte. Das war da immer ein bestimmter Seifen und Kaugummiduft.
Bist du diesem Geruch hier im Westen je wieder begegnet? 🙂
Einmal irgendwann und irgendwo in einem Supermarkt
Ich tauche sehr gerne in deine nachdenklichen Erzählungen ein. Du hast so ein schönes Gespür für Sprache!
Vielen Dank, liebe Elke. Leider gilt das nur für die deutsche Sprache. Das Polnische geht mir nicht mehr ganz so elastisch von der Zunge. Es ist alles eine Frage der Übung 😉
Da biste einfach schon zu lange weg!
Hm, das stimmt. Und über die Jahre hat die Übung gefehlt. Macht aber nichts, das ist meckern auf hohem Niveau. Im Grunde sind meine Sprachkenntnisse noch ziemlich in Ordnung 😉
Solange kein Dolmetscher daneben sitzen muss, geht es ja noch 😃
Nein, soweit ist es noch lange nicht 😉
Mach dir keinen Kopf. Ich kann auch kein polnisch. 🙂
😉
Ein Geräusch, ein Geruch wirft uns Jahrzehnte zurück. Ich habe solche starken Erinnerungen oft bei Gerüchen. Ein Treppenhaus, ein Kuchen Omas Kaffee, alles hat seinen speziellen Geruch…
Die Gerüche kommen auch noch dazu. Wenn ich einen der „alten“ Räume betrete, bleibe ich erstmal kurz stehen, weil das wie ein Verstärker wirkt…
Genau das meine ich.
Ein Moment für Sie selbst, in dem die Bilder Ihrer Jugend nach und nach in die Augen zurückkehren …. Die Vergangenheit in der Gegenwart Revue passieren lassen.
Sehr schön gesagt. Genauso ist es gewesen. Noch ein letztes Mal schauen, bevor sich alles verändert.