Okay, das ist eine coole Frage und auf das Zwischenmenschliche habe ich mich bei den Aequitas et Veritas Momentaufnahmen Momentaufnahmen #11 schon sehr gefreut. „Sagst du lieber die Wahrheit oder warst du den Frieden?“
Wie es auch in der Politik so ist, so antworte ich heute: das kommt drauf an.
Worauf? Werdet ihr mich fragen.
Nun, auf so viele Faktoren. Grundsätzlich ist es so, dass ich immerzu versuche, soweit es möglich ist, die Wahrheit zu sagen. Nur sage ich sie sehr diplomatisch. Wer mich zum Beispiel nach meiner Ansicht zu seinem neuen Kleid (seinem neuen Hut…) fragt und ich finde das freudig neuerworbene Kleidungsstück, ähm… be(…)scheiden, dann sage ich so etwas wie: „Mein Fall ist es nicht, aber wenn es dir gefällt, ist ja alles okay.“
Ehrlich um jeden Preis?
Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass zwar alle Welt nach der Wahrheit schreit, aber kaum jemand sie wirklich hören will und wenn doch, so wird oft der Bote geköpft. Also denke ich mir oft bei Dingen, die mich nichts angehen: Hm. Es geht mich nichts an. Sollen die Betroffenen das (was auch immer „das“ in diesem Zusammenhang bedeutet) unter sich klären.
Explizit nach meiner Meinung gefragt, sage ich die Wahrheit. Immer im Hinterkopf behaltend, dass „die Wahrheit“ relativ ist. Und man sie auf vielerlei Arten ausdrücken kann. Ich vertrete die Ansicht, dass man jedem alles sagen kann, es kommt nur darauf an, wie. Der Ton macht die Musik. Und stimmt der Ton, kann man ehrlich sogar zu seinen Vorgesetzten sein (man stelle sich das nur vor). Schon so oft habe ich erlebt, wie mir „Freundinnen“ ungefragt ihre Ansicht vor den Latz knallten („dein Gesicht sieht heute sehr pickelig aus, du hast zugenommen usw.), gerne auch, wenn der Partner oder eine neuerworbene Flamme von mir dabei war. Sie erklärten dieses Verhalten mit einem entschuldigenden „ich bin halt ehrlich“. Wobei es einen großen Unterschied zwischen Ehrlichkeit und Taktlosigkeit gibt.
Ich schätze, ich soll beim Beantworten dieser Frage ehrlich sein. Ich bin ehrlich. Ich sage, was ich denke. Nur habe ich manchmal das Talent, dies so in Worte zu kleiden, dass sich der Betroffene nicht angegriffen fühlt.
Wenn ich allerdings mit Menschen zu tun habe, die absolut keine Kritik abkönnen, dann spare ich mir generell eine Aussage und entziehe mich. Denn hier gilt wiederum: jeder schreit nach Ehrlichkeit, aber keiner will die Wahrheit hören. Es passierte mir durchaus in der Vergangenheit, dass ich eine Freundin über das Fehlverhalten ihres Partners aufklärte. Sie war sehr dankbar und brach den Kontakt zu ihm ab. Nur leider auch zu mir und zu jedem, der irgendwie in ihrem „alten“ Umfeld lebte und nicht in die neue Welt passte, die sie sich später, um das Erlebte zu vergessen, aufgebaut hat. Hm, ob sich Ehrlichkeit in diesem Falle „lohnt“, muss jeder für sich entscheiden. Ist man altruistisch veranlagt, mag man vielleicht meinen, man hätte dem Mädel bei einem sauberen Abschluss geholfen. Ich hingegen dachte mir, nachdem die Freundin weg war: Tjaa… das war jawohl ein Schuss in den Ofen.
Ich sehe eine sogenannte „Ehrlichkeit“ heute viel differenzierter. Und ich glaube daran, dass eine Lüge auch vieles glätten und/oder kitten kann. Dass absolute Ehrlichkeit keinem hilft, sondern schaden kann. Und nicht zuletzt: dass man Ehrlichkeit auch als Waffe einsetzen kann.
Ehrlichkeit als Waffe?
Ja. Denn es ist nicht notwendig, dass die Menschen wirklich alles wissen. Du bist mit deiner besten Freundin aus und jemand spricht hinter ihrem Rücken schlecht über sie. Erzählst du ihr das? Ja? Wozu? Mag sein, dass es sie verletzt, aber hilft es ihr? Nützt ihr das? Oder im Gegenteil, untergraben die von dir weitergetragenen Gerüchte und Tratsch-Einheiten gar ihr Selbstbewusstsein? Man muss schon sehr darauf achten, was man mit wohlgemeinter (oder auch weniger wohlgemeinter) Ehrlichkeit anrichten kann.
Man kann mit einem Zuviel an Ehrlichkeit Hoffnungen zerstören und jemanden zerschmettern. Man kann Menschen ungefragt ihre Illusionen rauben. Und ob ein Mensch an seine Illusionen glauben will oder nicht, dass sollte man ihm doch bitte selbst überlassen. Oder würdet ihr einem Menschen, der kurz vor dem Sterben liegt und noch ein letztes Mal seine Heimat besuchen möchte, ins Gesicht sagen: „Du bist schon zu alt und zu krank. Du schaffst es da nicht mehr hin.“ Hm?
Eine kluge, interessante Person hat mir einmal zu diesem Thema folgendes gesagt: Das mit der Wahrheit, es kommt drauf an. Wie du es sagst, wann du es sagst, warum du es sagst. Ich habe sicher nicht alles Wort für Wort getroffen, doch so oder so ähnlich war der Kontext. Sie hatte so Recht.
Eine wunderbare Lüge
Als ich neulich über die Bahngleise ging, diesen einen Bahnübergang, der auf meinem Weg zur Schule lag, da fiel mir eine alte Geschichte aus meiner frühen Schulzeit ein. Ich war damals ein kleines, unsicheres Kind, das eher abseits stand als im Mittelpunkt und dessen Selbstbewusstsein, nicht zuletzt durch die dicke Hornbrille, welche meine Oma liebevoll für mich ausgesucht hatte, ziemlich angeknackst war. Ich empfand mich als hässlich und kein Junge der Welt würde mich je angucken (Oma fand die Hornbrille hinreißend).
Doch da war jemand, ein hübscher Junge aus einer Parallelklasse, der sich Gerüchten nach für mich interessierte. Gab es Anzeichen? Schwer zu sagen. Ich beobachtete sein Gesicht, doch darin konnte ich nichts lesen. Doch es muss welche gegeben haben, denn meine beste Freundin behauptete dies steif und fest. Er stünde mit ihr in Kontakt und sie sagte mir, dass es nur noch wenige Tage dauern würde, bis sich der Junge mit mir treffen wird.
Wie in einem Agentenfilm hielt sich meine Freundin an einem Ohr an der Mütze fest und sprach unverständliches hinein, während wir auf dem Weg von der Schule zum Bahnübergang waren. „Oh, er ist noch da geblieben und kämpft gerade um dich mit einem anderen Jungen. Oh, ich glaube, er ist verletzt. Nein, wir gehen jetzt nicht zurück, er soll ja nicht wissen, dass du davon weißt.“
Nun, mein Selbstbewusstsein purzelte ein Stück weit in die Höhe. Meine Freundin tat ihr Möglichstes, damit ich mich schön fühlte. Sie puderte mein achtjähriges Kleinmädchengesicht mit duftendem Talkum, das sie von zu Hause mitgebracht hatte, und nahm mir die Brille von der Nase. Gut, ich stolperte zwar halbwegs blind vor mich hin, aber mein Teint war perfekt.
Irgendwann kam der große Tag und der Junge offenbarte mir – natürlich über meine Freundin, denn als ich ihm in der Schule nachsah, gab es keinerlei Reaktion – dass er mich endlich treffen wolle, an jenem Bahnübergang, der auf dem Weg zur Schule liegt, nachts um Mitternacht. Ich solle alleine kommen (nein, keinen Koffer mit Geld in nicht durchnummerierten Scheinen mitbringen, das kam erst in der Teenager-Zeit…).
Wie oft blieb ich nachts noch wach, mit dem festen Entschluss, mich zu dem mitternächtlichen Bahnübergang auf den Weg zu machen. Drei Kilometer Weg durch Wiesen und Felder war für mich als Kind natürlich eine irrsinnig weite Strecke. Zudem hatte ich Angst vor der Dunkelheit da draußen und davor, was alles auf dem dunklen Weg passieren könnte. Also legte ich mich wieder in mein Bett, nur um meiner Freundin am nächsten Morgen zu berichten, dass nichts daraus geworden war.
Und darauf zählte diese natürlich, genauso wie auf meine Angst vor dem Dunkel. Denn diese ganze Geschichte war gelogen. Ein raffiniertes Konstrukt, welches ich niemals alleine entschlüsseln könnte, da ich mich im Leben nicht zu diesen Bahngleisen aufgemacht hätte. Und wenn ich ehrlich sein sollte, mir schwankte da was. Schon nach relativ kurzer Zeit waren die Erzählungen meiner Freundin immer abenteuerlicher, bis sie schließlich zugab, dass das alles so nicht stimmte. Nur den Jungen gab es wirklich, doch er wusste nichts von seinem Glück.
Wie auch immer die Story ausging, sie verfehlte ihr eigentliches Ziel nicht, denn einige Tage (Wochen?) lang tänzelte ich wie auf Wölkchen. Und eben dies war die Motivation meiner Freundin hinter der wilden Erzählung. Ich sollte mich hübsch fühlen und beliebt, mit dem Gefühl, dass der hübscheste Junge der Schule um mich kämpft. Es war eine Lüge, aber es war eine schöne Lüge und ich bin ihr bis heute dankbar.

Es kommt darauf an … genau .. immer die Situation abwägen und entscheiden … hast du wieder in schöne Geschichten gepackt 😉
Vielen Dank, liebe Traudl. Es muss halt passen mit der Wahrheit, und manchmal ist es nicht notwendig, alles zu sagen. Es kommt darauf an, was damit bewirkt werden soll. Die Anekdote kam mir einfach in den Sinn, weil ich gerade eh in der alten Heimat bin 🙂
Liebe Kasia,
da bin ich bei dir. Es gibt Menschen, bei denen weiß ich, ich kann ehrlich zu ihnen sein. Ich bin meistens ein sehr ehrlicher offener Mensch. Dann gibt es Situationen, in denen ich nicht grundlos ehrlich sein würde, z. B. wenn es die Person verletzt oder sehr traurig macht. Taktlosigkeit finde ich nicht o.k.
Ich habe gleich mit mehreren sehr narzisstischen Chefs/Chefinnen gearbeitet. Das waren Menschen, die wollten immer umgarnt und gelobt werden. Sie hielten sich für die besten! Eine andere Meinung ließen sie nicht gelten, wurden dann grob, laut oder beleidigend. Keiner hat es gewagt, etwas anderes zu sagen. In noch so kleinen Sachfragen galt ihre Meinung. Wir hatten bis zu 6-stündige Sitzungen, bei der mein Chef Monologe hielt. Jetzt bin ich aber auch nicht der Typ, der lügt und schleimt. Lieber sage ich dann gar nichts. Mir sieht man das im Gesicht an. Ich sitz dann da und denke, nur nicht mit den Augen rollen, nur nicht mit den Augen rollen.
Liebe Grüße
Renate
Liebe Renate,
„nur nicht mit den Augen rollen“ finde ich sehr süß. Bei solchen Sitzungen ist es oft so, besonders wenn sich der Redner gerne selbst reden hört und das ganze Überlänge bekommt.
Wenn ich mit Chefs rede (oder generell im Team einen Vorschlag mache), versuche ich das immer als Frage zu formulieren und gleich ein Argument hintenan zu schieben. In der Art: „Wie wäre es, wenn wir die Blumentöpfe in die Sonne schieben? Hätten die dann mehr Licht?“ Klar, nicht bei jedem klappt es. Und oft ist es so, dass narzisstische Persönlichkeiten in die Chefetagen drängen, weil sie sich dort besonders wohl fühlen.
Im Bekanntenkreis wird oft Taktlosigkeit oder das Aufdrängen seiner eigenen Ansichten als „Ehrlichkeit“ präsentiert, aber das sind wieder solche Fälle, wo es sich eher um die eigene Meinung als um die „Wahrheit“ handelt.
Es gibt Aussagen vor Gericht… da existiert kein Auslegungsspielraum.
Und dann gibt es Situationen, in denen man etwas mitkriegt, was einen eigentlich nichts anginge, man aber trotzdem hin und her gerissen ist, da man Geheimnisse anderer Leute plötzlich „bewahren“ muss. Solche Situationen sind schwierig. Da würde ich von Fall zu Fall entscheiden…
Liebe Grüße
Kasia
Hin und wieder kann eine kleine Lüge sehr hilfreich sein ….. wir nennen es „eine Lüge für guten Willen“
Das ist eine schöne und treffende Bezeichnung 🙂
Würden wir immer die Wahrheit sagen, dann wäre die Menschheit längst in ihrem Blut ersoffen! So hat die Lüge auch eine wichtige soziale Funktion.
Die Zahlen, wie oft wir täglich lügen, gehen auseinander. Irgend etwas zwischen 20 und 200 Mal und Männer offenbar häufiger, als Frauen. Wobei es sicherlich einen großen Unterschied gibt zwischen nennen wir es einmal diplomatischen Halb- und Unwahrheiten und der absichtlichen, faustdicken Lüge.
Das Lügen auch gnädig sein können, dass hast Du mit Deiner Geschichte wunderbar erklärt. Aber mehr noch: Schönheit liegt wohl nicht nur im Auge des Betrachters, sondern hängt auch vom Selbstbewusstsein ab. Oder anders gesagt: man ist immer so schön, wie man sich fühlt…
Das hast du schön gesagt. Wenn ich es mir so recht überlege, lüge ich eigentlich kaum, außer es ist was wichtiges oder ich mir denke, dass es die Person, die fragt, nichts angeht, ich es aber nicht ausdiskutieren will. Lügen, um absichtlich zu täuschen, ich weiß nicht, das muss nicht sein. Ansonsten bewegen wir uns wohl alle, so wie ich es hier herauslese, auf einer elegant-grazilen Klippenwanderung aus Harmonie und sozialer Kompetenz. Das ist eigentlich ganz nett, finde ich… 😉
Uff, die schöne Lüge war aber auch knapp. Sie hätte auch nach hinten los gehen können. Sie kennt dich sehr gut.
Ich sehe es wirklich genau wie du….Man kann die Wahrheit auch nett verpacken – sie braucht keinen Dampfhammer und auch nicht immer Zeugen.
Na ja, es hätte auch passieren können, dass ich den Jungen darauf anspreche…
Ach was! Das hätte ich nie im Leben getan… 😉
Jaaaa – ich auch nicht….für mich niemals….aber für meine Freundin hab ich damals öfter einen angesprochen….für mich viel zu schüchtern und ohne Selbstbewusstsein.
Es fällt viel leichter, wenn es nicht für einen selbst ist 🙂