Langsam lasse ich den Zigarrenrauch in die Abendluft entweichen. Das Hemd klebt mir nass auf dem Rücken. Jetzt im Ruhezustand wird es kühl. Noch einmal betrachte ich schweifenden Blickes die weite Landschaft vor mir, Burg Trifels mit seinem roten Backstein, die einzelnen Felsmonolithen zu seiner rechten, die sich wie Raumschiffe aus dem Wald erheben. Dazwischen im Tal helle, weißliche Flecken der blütenübersäten Bäume. Und dieser Parkplatz hier oben ist mein Start- und Endpunkt. Täusche ich mich, oder ist der Ausblick jetzt, nach dieser langen Wanderrunde von fünfzehn Kilometern noch viel schöner geworden?
Der Richard-Löwenherz-Rundweg – Prädikat „schwer“
Der Richard-Löwenherz-Wanderweg ist ein Rundweg. Er beginnt eigentlich in Annweiler am Rathaus, doch ich entscheide mich, vom Naturfriedhof Trifelsruhe zu starten – ein weitläufiger, kostenlose Parkplatz und ein wunderbarer Ausblick gleich zum anfixen sprechen dafür. Weitläufig erstrecken sich die Hügel, die Burg und das Tal vor mir, als ich mein Auto abstelle. Rund dreizehn Kilometer plus minus sollte der Weg lang sein. Am Ende werde ich fünfzehn gelaufen sein, aber ihr kennt mich – Kasia macht gerne mal Umwege. Vor allem, wenn sie was interessantes sieht. Und davon gibt es hier jede Menge, denn der Weg ist wunderschön.
Doch der Weg ist auch mit dem Prädikat „schwer“ ausgezeichnet, und das will er mir gleich zeigen. Es geht über schmale Wege sofort fast senkrecht hinauf – gut, dass sich die meisten Aufstiege gleich im ersten Teil der Wanderung befinden. Der erste Teil der Strecke verläuft über den Friedhof Trifelsruhe. Hier sehe ich keine Gräber oder Grabsteine, auch keine Namen. Die Toten bekommen eine kleine Metallplakette, die an einem Baumstamm oder einem aufragendem Stumpf befestigt ist und eine Nummer trägt. Vermutlich wird hier entweder Asche gestreut (darf man das…?) oder Urnen vergraben. Es wirkt alles sehr friedlich, nicht das Grab selbst scheint der Ort zum trauern zu sein, sondern die Bäume, der Himmel, das Grün.
Ich möchte nicht auf diese Art bestattet werden. Es wirkt sehr anonym. Wenn nicht einmal der Name bleibt, was bleibt dann? Pilgern meine Angehörigen nach meinem Tod zu einer Nummer? Wie anders wirken da die „sprechenden“ Grabsteine an manchen Nordseeinseln wie zum Beispiel Föhr, wo auf dem Grabstein nicht nur der Name des Verstorbenen prangt, sondern auch sein Berufsstand, sein Familienstand und die kurz gefasste Geschichte seines Lebens. „Hier ruht Hans Musterknabe, geliebt und vermisst von seinen beiden Töchtern…“ Da wird der Tote wieder zum Mensch, fernab jeder Statistik.
Gleich zu Anfang habe ich die Möglichkeit, meine Wasserflasche aufzufüllen. „Reines, schmackhaftes Quellwasser – aber aus gesetzlichen Vorschriften kein Trinkwasser.“ Erklärt ein Schild. Endlich mal ein Brunnen, der Klartext mit mir spricht – wobei ich das Quellwasser auf meinen Wanderungen immer getrunken habe. Und noch nicht gestorben bin (am passenden Ort dafür wäre ich hier bereits…)
Ein Stückchen weiter oben führt mich der Pfad zu einer Hütte. Wieder ein traumhafter Ausblick über die Landschaft. Ich könnte hier verbleiben, dabei bin ich erst eben losgelaufen. Doch der Rundweg soll noch viele solch schönen Ausblicke für mich bereit halten. Und er gibt mir gleich saures, denn es geht steil hinauf.
Hinter der Hütte komme ich auf ebenen Boden. Die Waden beruhigen sich ein wenig. Nach einigen Metern – eine bequeme Bank mit Blick über den Pfälzer Wald. Verflixt und zugenäht. Da muss ich mich kurz hinsetzen. Ich schaue auf die App, wieviel ich denn bisher schon gelaufen bin. Es sind noch keine anderthalb Kilometer. Doch wie soll man denn vorwärts kommen, wenn an jeder Ecke so eine Aussicht lockt?
Abenteuer Beobachtungsposten
Der Waldboden riecht nach Holz, nach Sonne, nach warmen Laub. Nach Sonnenstrahlen. Nicht modrig, nein, sondern trocken, würzig, aromatisch. Die braunen Blätter vom Vorjahr rascheln unter meinen Füßen. Ich komme an einem Hochsitz vorbei. Noch nie saß ich in so einem Ding drin, denke ich mir sehnsüchtig, während ich den Kopf in den Nacken lege. Denn meist, wenn ich nachschaue, sind sie abgeschlossen. Doch dieser hier nicht. Sofort klettere ich flink wie ein Affe… gut, ich ziehe mich schwerfällig wie ein Grizzly die fragil wirkende Leiter hinauf. Der ganze Hochsitz wackelt und vor meinem inneren Auge entstehen Bilder. Bilder davon, wie die ganze hölzerne Konstruktion ausgerechnet in diesem Moment beschließt, gaanz langsam und knirschend zur Seite zu fallen und in die benachbarten Bäume zu krachen. Kapazität überlastet. Doch nichts derartiges geschieht. Und schon bin ich oben und schaue sehr zufrieden in der Landschaft umher.
Nach der anfänglichen Euphorie schaue ich genauer hin. Der ganze Hochsitz ist auf eine kleine, künstlich erschaffene Lichtung ausgerichtet. Ich bin kein Jagdexperte, doch vielleicht ist das Gerüst auch nur da, die Tiere zu beobachten. Denn was ich auf der Lichtung sehe, scheint eine Futterstelle zu sein. Natürlich steige ich wieder ab und schaue mir das Ganze näher an. Bei der Gelegenheit werfe ich einen Blick umher auf der Suche nach der Kamera, die bei Bewegung auslöst. Forscher setzen so etwas manchmal ein, um seltene Tiere abzulichten. Und im Pfälzer Wald leben noch Wildkatzen wie der Luchs oder die Europäische Wildkatze.
Schließlich geht es für mich weiter; vielleicht komme ich heute noch ein paar Meter vorwärts. Wenn nicht wieder etwas neues meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. So wie dieser Felsmonolith, der hier wie verloren mitten im Wald steht. Diese einsamen Felsbrocken sind sehr häufig in diesem Ecke des Pfälzer Waldes, sie wirken deplatziert wie ein gelandetes Raumschiff, mit eingeritzten Jahreszahlen und Buchstaben, die ich nicht entziffern kann. Lang genug stehen sie bereits da, auf dass sich ganze Generationen auf ihnen verewigen mögen.
Der ewige Spieltrieb
Monolithen, wie hingeworfen in die Landschaft. Riesig ragen sie empor. Wie der Asselstein, wo an der West- Nordost- und Südwand die Vereinigung der Pfälzer Kletterer Sicherungshacken befestigt hat. Hinweistafeln geben Tipps zum sicheren Klettern.
Doch der Asselstein in der Urlaubsregion Trifelsland dient nicht nur den Kletterern für ihre Abenteuer; er ist auch ein Brutfelsen für Wanderfalken. Seit der Wiederansiedlung in den achtziger Jahren wird er jedes Jahr in Frühjahr angeflogen und aufgrund seiner hohen Lage als optimaler Ort zur Aufzucht der Jungen genutzt. Deshalb sind die Südseite und der Gipfel des Asselsteines für Kletterer jedes Jahr von Februar bis spätestens Juli gesperrt. Schilder weisen ausdrücklich darauf hin. Die Wanderfalken haben ihren Horst meist auf der Südseite des Felses. Die Nordseite kann weiterhin bestiegen werden.
Gleich dahinter treffe ich auf ein Lokal. Es ist die Klettererhütte. Die Läden dicht verschlossen, das ganze Gelände mit flatternden Bändern umwickelt, als wäre es ein Weihnachtsgeschenk – oder wie ein Tatort.
Und so gesehen ist es auch ein Tatort. Hier hat Corona ihren Handabdruck hinterlassen, hat die Besitzer zum ungewollten Stillstand gezwungen. Tische und Stühle zusammengerückt. Hier darf niemand mehr ruhen, hier ist nichts mehr los.
Hinter dem Lokal – ein Spielplatz. Bei der Schaukel kann ich nicht widerstehen. Im Grunde bin ich noch ein Kind. Drei, zwei, eins… schon bin ich über dem Boden und man hört mein Lachen durch den Wald schallen. Glücklicherweise bin ich alleine.
„Eltern haften für ihre Kinder.“ Wer sagt denn, dass schaukeln nicht auch Erwachsenen Spaß machen kann? Auffallend, dass der Spieltrieb des Menschen in den meisten Kulturen mit dem Einsetzen der Pubertät erfolgreich unterdrückt wird. Wie oft sehe ich Erwachsene, die gerne mit ihren Kindern auf der Wippe sitzen oder auf einem Trampolin springen würden, doch im öffentlichen Raum will man sich nicht „blamieren“. Lautes Lachen, offensichtlich kindliche Freude und Ausgelassenheit werden kritisch beäugt. Schade eigentlich.
Nun, das gilt auch für mich. Kaum bin ich irgendwo auf einem Spielplatz, muss ich aufpassen, dass ich den Kindern die Schaukel nicht klaue. Oder dass mich am besten gleich niemand schaukeln sieht. Denn es gibt nichts angriffslustigeres als eine wütende Mutter, die ihren Nachwuchs beschützen will, sei es in der freien Natur oder auf den Spielplätzen der Nation. Leute, kommt niemals einer wütenden Mutter in die Quere…
Die signierte Felsnische
Ich überquere einen Parkplatz, eine befahrene Straße und tauche wieder in den Wald ein. Etwas zieht mein Auge auf sich, ein Detail, welches mir bei einem schnellen Marsch wohl nicht aufgefallen wäre. Doch bergauf lässt es sich eh nicht schnell marschieren…
Eine kleine Nische auf meinem Weg, gerade mal groß genug, dass sich bis zu drei Personen darunter zusammenkauern können. Der Felsvorsprung schützt vor Regen und Wind und angewehtes, trocken braunes Laub vom letzten Herbst raschelt, als ich mich setze. Darunter ist weicher Sand. Ich kann mir gut vorstellen, hier in einem Schlafsack die Nacht zu verbringen. Hier kann man wohl auch kältere Nächte gut überstehen. Wenn die Stelle nur nicht so exponiert wäre. Die Unterhöhlung liegt mitten am Wanderweg.
Doch es ist nicht die Lage, die mich angezogen hat. Es war das Datum, eingeritzt in den roten Sandsteinfels. JMR 1910. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, außer das Wyk auf Föhr zu der Zeit die Stadtrechte erhalten hat. Der Erste Weltkrieg wurde erst vier Jahre später losgetreten.
Also lasse ich mangels verwertbarer Fakten die Fantasie spielen. Das Laub riecht trocken und ein Eichelhäher ruft laut irgendwo im Wald. Ich sitze da und lausche den Geräuschen. Den fernen Rufen der Vögel. Dem sanften Wind, der die junggeborenen, hellgrünen Blätter streichelt. Und versuche, den Menschen, die hier einst Schutz gesucht haben, nahe zu sein. Wer waren sie? Deutsche, Belgier, Franzosen? Oder gehen meine Gedanken da geschichtlich in eine völlig falsche Richtung? Diente das hier als Unterschlupf? Wenn ja, wieso und wem?
(Auch nach einer späteren Recherche habe ich keine Ahnung, was die vielerorts vorhandenen Daten und Kürzel bedeuten, die im Pfälzer Wald in einigen Sandsteinblöcken zu finden sind. Wenn also jemand etwas darüber weiß…)
Da ich Stimmen anderer Wanderer höre, springe ich schnell auf und gehe weiter. Ich will diesen Ort mit niemandem teilen. Ich will auch nicht, dass mich hier jemand sitzen sieht. Es sind diese ruhigen, kleinen Momente, in welchen ein Geheimnis steckt. Und in diesem Moment ist dieses Geheimnis nur für mich.
Menschen ritzen ihre Namen hinein, um nicht vergessen zu werden. Einen anderen Zweck kann ich mir nicht vorstellen. Die Menschen wollen sich verewigen, auf irgend eine Art. Ihr Name im Fels. Manchmal das Datum, manchmal der Ort, so wie „Landau“ am Kalmiter Felsenmeer. Sie wollen, dass etwas von ihnen übrig bleibt, aus dieser Zeit, aus diesem Augenblick. Sie wollten, dass jemand stehen bleibt, die Zeichen sieht und sich Gedanken macht. Und es hat funktioniert. Ich bin diejenige, die stehen geblieben ist.
Tun wir das nicht auch heute? Zieren denn nicht jede Wander-und Schutzhütte unzählige Signaturen? „Ich war hier.“ Der Beginn der Graffitikunst, wenn man so will. Aber das ist ein anderes Thema…
Ein Fels zum Erklimmen
Langsam gehen meine Energiereserven zuneige, ich spüre es in den Knochen. Trotz des reichhaltigen Frühstücks (es gab Pasta…) wird es Zeit für eine kurze Rast. Doch es ist wie verhext, denn gerade jetzt, auf dieser Etappe, will sich kein schönes Plätzchen mit Ausblick mehr zeigen. Doch immer mal wieder, fast auf der gesamten Streckenlänge, ist die Trifels-Burg durch die Bäume zu sehen. Immerzu blitzen die roten Mauern hindurch, mal näher, mal etwas weiter weg. Der Rundweg führt an der Burg vorbei und zurück nach Annweiler. Doch leider Gottes komme ich nicht mehr an einem echten Aussichtspunkt vorbei. Der aktuelle Streckenabschnitt wird immer eintöniger und führt zudem bergauf. Wenn ich nicht bald was zu essen bekomme…
Da, ein Rastplatz! Schon von Weitem sehe ich dieses ältere Pärchen, welches dort gemütlich seine Lunchpakete auspackt. Also stampfe ich weiter, nicht ohne mich vorher kurz ins Sichtfeld der beiden gestellt und den tollen Blick auf den Pfälzer Wald fotografiert zu haben. So ein Pärchen kam mir doch zur Anfang mal im Wald entgegen, waren das dieselben Leutchen? Hm…
Ich habe Hunger. Doch ich will mich nicht einfach hinsetzen und essen. Wonach ich suche, ist ein schönes Plätzchen, vorzugsweise irgendwo weit oben, am liebsten so, dass ich mir die ganze Gegend von dort aus anschauen kann. Als Höhepunkt des Tages sozusagen. Und weil das Schicksal mich erhört hat (und nicht will, dass ich verhungere…), wirft es mir einmal mehr einen dieser riesenhaften Sandsteinmonolithen in den Weg. Ich schaue kurz hin und wäge ab, während sich der Staub auf dem Schicksals-Monolithen legt. Er liegt etwas abseits und ein kleiner Pfad führt herauf. Das wird eine Kletterpartie aber was dabei winken könnte, wäre eine grandiose Aussicht. Und ich brauche mal wieder eine Herausforderung. Nach kurzem Überlegen weiche ich von der Strecke ab und spurte den Weg nach oben.
Es beginnt der Aufstieg und wie ein Wildschwein auf Speed stürme ich durch die Büsche. Nur die ersten Meter, versteht sich; danach verwandelt sich mein Stürmen in das Hinken eines angehenden Pflegefalls. Meine Füße rutschen auf dem sandigen Boden ab. Braune, kleine Eidechsen spritzen aus der Sonne und verbergen sich im Schatten der trocken raschelnden Blätter. Der ganze Waldboden ist voller Eidechsen. Oben winkt der Monolith und mir schwebt es vor, dort in aller Einsamkeit mein Rastplatz aufzuschlagen. Gar nicht schwebend hingegen quäle ich mich den steilen Aufstieg hoch. Der Felsen scheint immer weiter weg zu rücken.
Oben angekommen (die Einzelheiten des Überlebenskampfes erspare ich euch…) merke ich, dass ich nicht alleine bin. Der Felsbrocken ist ein beliebter Aussichtspunkt und anscheinend gibt es einen leichteren Weg hinauf. Ein Radfahrer hält und grüßt mich und über meinem Kopf erklingt das Geschnatter dreier fröhlicher Freundinnen, die einen Platz an der Sonne gefunden haben. Anscheinend hatte es hierauf einen einfacheren Weg gegeben. Aber ich wollte es ja mal wieder schwer haben. Ich zucke mit den Schultern und betrachte die Felszeichnungen. Nein, keine Zeichnungen in eigentlichen Sinne. Hier hatte sich wieder einmal jemand verewigt, in Frakturschrift. Ich bin leider nicht wirklich gut darin, Frakturschrift zu lesen…
Erwartet hatte ich Einsamkeit, doch oben warten ein Aussichtsturm und zwei gut ausgebaute Rastplätze mit Holzbank und Tisch auf mich. Einen davon belegen bereits die Frauen und haben scheinbar viel Spaß. Das bringt mich auf den Gedanken, mal wieder in Begleitung meiner Mädels auf Wanderschaft zu gehen.
Die Mahlzeit und die Rast füllen meinen Körper mit neuer Wanderlust. Hier, von meiner Bank aus, habe ich die Burg Trifels im Blick. Die Mädels auf der anderen Seite schauen hinunter zur sonnendurchfluteten Ebene hin. Ich rücke auf der Bank dorthin, wo noch ein Fleckchen Sonne verblieben ist. Nach der Anstrengung des Aufstiegs friere ich.
Der weitere Verlauf der Strecke führt glücklicherweise abwärts. Ich komme nicht umhin, zu bewundern, wie gut ausgeschildert der Rundweg doch ist, denn es gibt die Markierungen in blau, die in meine Richtung zeigen, und in rot, wenn sie entgegengesetzt zurück führen. Nur an der Rehbergquelle komme ich kurz ins schwanken.
Ein perfekter Ort
Gerade lang genug, um meinen Rucksack abzustellen und einen Schluck Wasser zu trinken. Ein Mann mit seinem Malkästchen ist damit beschäftigt, in akribischer Handarbeit mit langsamen Pinselstrichen die Schriftzeichen in der Mauer, die einen Teil des Brunnens umgibt, zu erneuern. Er schaut nur kurz auf, während ich seiner Arbeit von weitem zusehe. Hier führt die gleichfarbige Markierung in zwei entgegengesetzte Richtungen; ich entscheide mich für die Richtung, die mir einen schnellen Weg hinunter vom Berg und in den Ort verspricht. Die Sonne steht immer tiefer und Annweiler wartet auf mich. Zu lange darf ich hier nicht verweilen, schließlich haben wir zu dieser Zeit noch immer Ausgangssperre in Mannheim und dürfen abends um neun brav in unseren Bettchen liegen.
Der Weg führt langsam, aber stetig hinunter. Mein nächster Halt ist eine Bank, platziert am Abhang mit wunderbarem Blick über die pfälzische Ebene. Ein perfekter Platz für ein Päuschen. Beim Auspacken bemerke ich, dass ich meine Handschuhe am Brunnen vergessen habe. Puh, es hilft alles nichts, der Weg zurück muss sein.
Handschuhe? Ja, denn gegen Abend wird die Luft zunehmend kälter. Und interessanterweise friere ich zuallererst an den Extremitäten, weshalb Mütze und dünne, winddichte Handschuhe einen festen Platz in meiner Wanderausrüstung haben.
Am Brunnen – lautes Gequatsche. Die Freundinnen, die ich oben am Monolith gesehen habe, haben mich fast eingeholt. Jetzt aber schnell weiter, sonst habe ich das Geschnatter der dreien den ganzen Weg im Rücken. Ich schnappe mir die Handschuhe und eile zurück zu meiner Bank mit Ausblick. Das Geschnatter ist nicht mehr zu hören.
Das ist der bisher schönste Platz des Trips. Ist es eine gute Idee, hier eine Zigarre zu rauchen? Ach, das werde ich schon noch merken. Die Luft flimmert ganz leicht über dem Boden. Neblige, blaue Berge ganz weit in der Ferne. Ein langgezogener Ruf eines Raubvogels. Ist das ein Adler? Gibt es hier Adler? (Ja, laut einer späteren Recherche finde ich heraus, dass im Pfälzer Wald der Schlangenadler zu Hause ist)
Der Ruf wiederholt sich. Mehrmals. Die Blätter rauschen. Motorräder sind zu hören; ein leises Summen unten im Tal wie ein Schwarm wütender Bienen. Die Saison hat längst begonnen.
Die Dächer der Häuser, die Autos; alles glitzert weit unten im Tal in der Sonne wie verstreute Diamanten. Die letzten, abendlichen Strahlen erreichen die Bank, auf der ich sitze, hier oben, so weit über allem. Ein sehr ruhiger Augenblick.
Ein Augenblick, der irgendwann endet. Ich schnüre den Rucksack und es geht weiter. Auch hier sind rote Felsbrocken aus Sandstein gesät. Noch rächt sich die Zigarre nicht, denn bei warmen Sonnenschein und einem leichten, aufkommendem Wind geht es über schmale Pfade abwärts, nur abwärts, runter vom Berg, und wenn ich Glück habe, direkt nach Annweiler. Das wird auch langsam Zeit; ich müsste längst über die Halbzeit meiner Wanderroute hinaus sein.
Zartes, leuchtend grünes Laub der Hasel in der Sonne. Es sind diese kleinen Dinge, die mich dazu bringen, kurz – nur ganz kurz – stehen zu bleiben. Riesenhafte Felsen. Der Adler ruft weiter, zieht weiter seine Kreise. Gesehen habe ich ihn bisher noch nicht.
Die Burg Trifels, welche ich mir während der ganzen Strecke aus verschiedenen Perspektiven anschauen durfte, ist inzwischen ein ganzes Stück näher gerückt. Sie ist so gut zu sehen, dass man all die baulichen Backstein-Spielereien mit bloßem Auge gut erkennen kann.
Der Rest ist schnell erzählt…
Der Rest der Wanderung ist schnell erzählt (unter anderem deshalb, weil der Beitrag bereits an dieser Stelle rund dreitausend Wörter hat und ich euch nicht langweilen möchte…). Es geht über schmale Wege (ich liebe solch schmalen Waldpfade) hinunter zu einem Park, vorbei an einer sonnenbeschienenen Sitzbank, auf der ein älteres Wanderpärchen sitzt. Ist das dasselbe Pärchen, welches ich oben im Wald bereits glaubte, mehrmals gesehen zu haben? Die ältere Dame hatte etwas blaues an. Aber wie können die beiden schon jetzt im Tal sein und ihre Glieder in der Sonne wärmen, während ich erst ankomme? Vielleicht sehen diese älteren Wanderpärchen einfach nur alle gleich aus. Oder es handelt sich hierbei um ein Geisterpaar, welches an verschiedenen Stellen des Waldes auftaucht und plötzlich wieder verschwindet, wenn man näher kommen möchte, ähnlich der weißen Dame, die in so vielen Burgen spukt? Wer weiß, wer weiß..?
Annweiler ist ein kleiner, netter Ort, welcher mich nicht aus den Socken haut. Nicht so wie Sankt Martin bei Maikammer in der Pfalz. Annweiler ist nett. Schön. Freundlich. Und irgendwie verschlafen. Doch verschlafen sind die Ortschaften abends unter der Woche wohl alle. Ich hole mir Eis, in der Hoffnung auf Geschmack und Kalorien. Was ich bekomme, sind Kalorien… entweder ist der Geschmack tatsächlich so enttäuschend, oder ich bin mit unserer Eis-Manufaktur hier in Mannheim vor unserer Eistür… ähm, Verzeihung: Haustür… einfach besseres gewohnt. Ja, die verwöhnten Gaumen der Stadtmenschen 😉
Mit erreichen der Stadt Annweiler bin ich noch lange nicht am Ziel meiner Tour angekommen, denn ich muss wieder hinauf und den Richard Löwenherz-Pfeilen folgend den Waldfriedhof finden, wo mein Auto auf mich wartet. Wieder ein schweißtreibender Aufstieg. Keuchen in den letzten Strahlen der Sonne Jetzt rächt sich die Zigarre. Weite Wiesen, rauschende Gräser. Noch ein Blick auf die Burg. Ein Traktor zieht einsam seine Kreise, in der Ferne die schwarzgrünen Berge des Pfälzer Waldes (da komme ich gerade her…). Ein Mann sitzt auf der Wiese unter einem Apfelbaum und sieht verloren aus. Ein letztes Päuschen in der Sonne und dann schließlich, nach einem weiteren Aufstieg (hört das denn nie auf?) finde ich mich am Parkplatz wieder. Hier, von wo ich heute Mittag den Ausblick bewundert habe. Endlich da.
Täusche ich, oder ist der Ausblick nach fünfzehn Kilometern Rundweg noch viel schöner als am Anfang, als ich heute Mittag genau an diesem Punkt ankam? Doch der schönste Anblick nach einer Wanderung ist sowieso der des eigenen Autos.
Hannibal Lecter?
„Das solltest du nicht machen! Das ist gefährlich…!“ Ruft meine Mutter aus, als ich ihr auf der Heimfahrt von meiner Wanderung erzähle. Gefährlich? Wieso denn? Ich bin ehrlich erstaunt. „Na, da laufen doch so viele kranke Typen herum. Es könnte dich einer allein im Wald überfallen.“ In meinem Kopf schwirren Fragezeichen und ich fange an, zu kalkulieren. Wie hoch ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass mich Hannibal Lecter im Pfälzer Wald aufstöbert…?
Hallo Kasia,
als ich den Titel deines heutigen Beitrages gelesen habe, habe ich mich sehr gefreut. Ich bin diesen Weg auch schon mal gegangen und habe seine Schönheit genossen. Es bieten sich viele schöne Aussichten. Vor dem Erfolg wurde bekanntermaßen der Schweiß gesetzt. Aber der hat sich gelohnt.
Die Kletterer Hütte ist ein beliebtes Ausflugsziel wo man schön einkehren kann und draußen eine schöne Aussicht auf Annweiler haben kann.
Als du schriebst, dass du am Friedhof begonnen hast zu laufen habe ich mir gedacht, dass das ein Fehler war. Aber du hattest genug Energie nochmals den steilen Aufstieg zu deinem Auto zurückzulegen.
Wir haben damals im Städtchen das Auto abgestellt und sind dann von ganz unten losgelaufen. Natürlich haben wir auch den Rehberg erklommen und ab da gings dann bergab. Wir sind bei den Kuranlagen angekommen.
Ich hoffe, dass die Nachwehen der Wanderung nicht ganz so schlimm waren.
Wir wollen am Wochenende zur Hexenklamm bei Pirmasens wandern. Hoffentlich hält das Wetter.
Liebe Grüße und einen schönen Abend
Harald
Lieber Harald,
was, ihr habt schönes Wetter? Hier bei uns hat es heute nur einmal geregnet (den ganzen Tag…).
So schlimm waren die Nachwehen diesmal nicht, es hat gereicht, tags darauf nochmal wandern zu gehen. Danach war eine Pause angesagt 🙂
Ich wollte ja in der Stadt stehen bleiben, habe dort aber auf die Schnelle keinen Parkplatz gefunden, den ich hätte länger belegen können. Das passte schon, ich habe mich ja unten im Ort mit Eis „angefüttert“ 😉 War alles in allem eine richtig schöne Wanderung.
Liebe Grüße
Kasia
Nein, schönes Wetter haben wir nicht. Heute hätte ich Tropfenbilder ohne Ende machen können. Ich bin mal gespannt, wo du am nächsten Tag warst.
Oh je, ich hoffe, ich schaffe es, das alles auch chronologisch zu verbloggen… Ich war bei Kloster Frauenalb hinter Karlsruhe und bin nach Herrenalb und zurück gewandert. Und unterwegs gleich einen riesigen Monolithen „mitgenommen“… 🙂
In Bad Herrenalb kann man auch schön wandern. Da kann man eine Wanderung ringsum machen und unterwegs beim Spätzle…(der Name des Lokals fällt mir im Moment nicht ein) einkehren. Natürlich wenn offen ist.
Zurück habe ich denselben Weg genommen. Es war schon spät, die Ausgangssperre winkte und ich wollte keine Experimente wagen… Allerdings ist es eine tolle Gegend. Man kann wandernd so viel erkunden. Mir gehen die Ideen momentan nicht aus…
Annweiler am Trifels. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich glaube, dass ich da während meiner Kindheit oder Jugend, also vor sehr geraumer Zeit, schon mal dort war. Aber ich habe keine konkreten Erinnerungen mehr daran. Danke, dass du die Wandertour dort gemacht hast! Dann habe ich jetzt konkrete Bilder zu der Gegend.
So viele Details hast du entdeckt! Ja, es ist schon spannend, was sich so alles in vermeintliche Nebensächlichkeiten hinein interpretieren lässt. Mein Favorit: die Stromkreise. Und schön, dass du den Hochsitz überlebt hast 😎. Bei der Schaukel wäre ich übrigens auch schwach geworden. Eine tolle Tour hast du da mal wieder gemacht. Und so schön beschrieben, dass ich den Eindruck hatte, dabei gewesen zu sein – wenn auch gemütlich auf dem Sessel zuhause, während du die Hügel hinauf gekeucht bist 😄.
Mit dem Schrifträtsel (JMR 1910) hast du meinen Ehrgeiz entfacht! Eine mögliche Erklärung: Die Buchstaben stehen für die drei Vornamen eines Schriftstellers, dessen gesammelte Schriften um 1910 herum herausgegeben wurden. Vielleicht gibt es eine Verbindung zwischen ihm und der Trifels-Region. Sein Name: Jakob Michael Reinhold Lenz. Aber sicher bin ich mir natürlich nicht! Habe nur ein wenig herum gegoogelt.
Liebe Elke,
du warst auch indirekt mit dabei; das war nämlich da gewesen, als du mich fragtest, ob ich tags darauf wieder auf Pflegefall mache 😉 Eine schöne, rätselhafte Gegend, der Pfälzer Wald. Ich war nicht zum letzten Mal dort…
Den Schriftsteller habe ich tatsächlich auch entdeckt 🙂 das schien mir aber doch weit hergeholt zu sein, also habe ich den Gedanken wieder verworfen. Aber wer weiß…
Man sieht im Wald so vieles. Im Feld sind es die Ausblicke, doch im Wald sind es die kleinen Details. Es freut mich, dass dir die Tour gefallen hat. Und nein, am nächsten Morgen war ich nicht klinisch tot 😉 Ich war auf der, zugegeben, leichteren, Frauenalb-Klostertour Richtung Stuttgart…
Ich hoffe, das Wetter wird bald besser. Ich sitze momentan auf der Couch und setze Moos an. Mal wieder wandern wäre schön…
(Kann das denn abhängig machen? Hm…)
Wieder ein schöner Bericht. MIch würde allerdings der Weg, der direkt zur Burg führt, interessieren. Der Trifels fehlt mit noch in meiner Sammlung.
An Schaukeln kann ich auch nicht vorbeigehen. 🙂
Vielen Dank! 🙂 Schaukeln ist eines der besten Dinge aus der Kindheit, die wir auch heute noch machen können 🙂 Es gibt sicher auch einen direkten Weg zur Burg, für mich war das Panorama wichtig, ich wollte die Burg mit den umliegenden Hügeln fotografisch festhalten. Die Trifelsburg macht sich bestimmt super in deiner Sammlung, und die Gegend ist wunderschön. Also wenn du mal Zeit hast… 😉
Wunderbar beschrieben und in den Pfälzer Wald habe ich letztes Jahr auch eine Radtour gemacht. Begeistert haben mich da auch die vielen verschiedenen Felsen
LG Andrea
Liebe Andrea, vielen Dank! Eine tolle Gegend, auch zum radeln. Ich habe beim Wandern viele Radfahrer dort gesehen. Die waren unglaublich schnell unterwegs 😉
Wahrscheinlich waren die meisten mit dem Ebike unterwegs 😉
Nee, das waren diese Supersportler 😉
Was für eine schöne Wanderung 🤩Und ja ich glaube auch dass man des Ausblick als deutlich spektakulärer empfindet wenn man ihn sich hart erarbeiten musste😄
Vielen Dank, liebe Annemarie 🙂 Zum einem das, zum anderen war es der Sonnenuntergang, der die Szenerie noch viel schöner gemacht hat. Und die Erschöpfung. Ja, es macht schon einen Unterschied, wie man die Dinge empfindet, je nachdem ob sie „erkämpft“ worden sind oder nicht…
Affe auf Speed ………..D. Wie immer toll geschrieben. Kannst gerne öfters wandern, aber ohne mich 🙂
Vielen Dank, liebster Stefan! Bist du sicher, dass du dich um das Vergnügen bringen möchtest? 😉
Ohja 😀
Schöner Wanderbericht 😊 ja, manchmal ist es schon wie verhext mit diesen Rastmöglichkeiten.
Liebe Grüße
Sabine vom 🕷 🕸
Vielen Dank! Ja, manchmal kommen sie zuhauf dann, wenn man eigentlich gerne laufen möchte, und sobald man aus dem letzten Loch pfeift, ist weit und breit nix zu sehen *lach*
Würden einem rund um Annweiler nicht von Zeit zu Zeit die Löwenherz-Gesellen begegnen? Robin Hood lässt grüßen? 😁 Schöner Wanderbericht!
Vielen Dank! Ja, das könnte man meinen, aber entgegen allen Erwartungen war es ziemlich einsam draußen im Wald… 🙂
Dann warst Du vermutlich nicht am Wochenende unterwegs?
Nein, unter der Woche. Laufen da wirklich welche rum?? Ich hatte das eben für einen Joke gehalten…
Das war auch einer. 😘
Oh 🙂 Ach, da ist die Leitung, auf der ich grad stehe… *hüstel*
😘
Was für ein schöner Bericht über diesen Spaziergang. Ich war fasziniert, als ich Ihre Texte las. Es schien, als wäre ich mit dir gegangen, teilweise wegen der vielen Fotos, die die Geschichte veranschaulichen. Ich habe diesen Bereich bereits in mehreren Blogs kennengelernt und er spricht mich immer mehr an. Es scheint eine wunderschöne Gegend zu sein, teilweise wegen der vielen Felsformationen und natürlich der Burgen. Das Besteigen des Hochsitzes war aufregend, nicht wahr … und das Eis am Ende des Spaziergangs war mehr als verdient 🙂
Vielen Dank. Ich freue mich, dass Ihnen die Geschichte so gut gefallen hat. Der Pfälzer Wald ist wirklich toll zum wandern und der Hochsitz war superspannend 🙂 An und für sich eine meiner schönsten Wanderungen.
Danke, dass Du uns auf diese schöne Wanderung mitgenommen hast! Zu Hannibal Lecter kann ich noch was beitragen:
Nimmt ein Mann nachts ein Taxi. Währende der Fahrt beginnt er eine Unterhaltung.
„Sie haben aber eine gefährlichen Job“, meint er zu seinem Fahrer.
„Wie meinen Sie das?“, will der daraufhin wissen.
„Naja“, sagt der Fahrgast weiter, „Sie wissen doch nie wer nachts bei Ihnen ins Taxi einsteigt. Ich zum Beispiel könnte ja auch eine perverser Serienmörder sein.“
„Das glaube ich kaum“, meint da der Taxifahrer. „Die Wahrscheinlichkeit, dass sich zufällig zwei perverse Serienmörder in einem Taxi treffen, geht statistisch gesehen gegen null!“
Lach… danke für den gelungenen Taxifahrer-Witz, ich habe eben herzlich lachen müssen. Das ist ja die Sache mit Wahrscheinlichkeiten. Hannibal Lecter im Wald, kann passieren, aber vielleicht hat der ja schon Feierabend und will dort bloß ausspannen? 😉
Die Wanderstrecke war richtig schön, ich mag den Pfälzer Wald immer mehr… 😉
Der Taxifahrer war aber schlagfertig.