Venedig
Ich hatte ganz vergessen, wie schön die Stadt eigentlich ist.
Beeindruckend verschieben sich der Dogenpalast, der Markusdom und der Turm vor meinen Augen, als sich die Fähre der Lagune nähert. Auf Millionen hölzernen Pfählen wurde sie eins von Geflüchteten aus dem Festland Venetien errichtet und sollte die Venezianer Angriffen von außen entziehen und in Sicherheit, somit aufs Wasser und zu den unzugänglichen Inseln bringen. Die Stadt steht auf mehr als hundert sandigen Inseln, und das schon seit Jahrhunderten.
Die Ursprünge der ersten Siedlungen gehen auf die Etrusker zurück. Die Flüchtlingswelle der Bewohner Oberitaliens kam im 5 Jahrhundert dazu. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten Italiens geht Venedig also nicht auf die Römer zurück.
Nicht ganz Venedig steht auf Baumstämmen. Tatsächlich sind es nur die dem Kanal zugewandten Bereiche. Hier will man ein Abrutschen der Häuser ins Wasser verhindern; zu diesem Zweck werden Pfähle eingesetzt. Die Kirchen und Paläste ruhen auf rund achtzig Zentimeter tiefen Fundamenten. Venedig liegt auf Schwemmland, doch dies ist nur halb so schlimm wie es sich im ersten Moment anhört, denn unter der Sandschicht befindet sich ein stabiler Lehmboden, der das Gewicht einer ganzen Stadt trägt.
Inzwischen sinken die Fundamente jedoch ab. Jedes Jahr sind es ein paar Millimeter. Was zunächst nach wenig klingt, summiert sich schnell und führt dazu, dass die winterlichen Überschwemmungen immer tiefer in die Gebäude dringen.
Venedig!
Nach zwei Tagen Ruhe endlich Venedig. Ich habe mich bereits auf eine verwaiste Stadt gefreut, doch bereits die vielen Ausflügler auf dem Vaporetto belehrten mich eines Besseren.
Die Tageskarten lassen sich im Zeitungskiosk direkt am Campingplatz erstehen. Eine 24 h Karte gilt für alle Vaporetti und jede einzelne Insel, sowie für den Bus nach Punta Sabioni und kostet 24 Euro pro Person. Bereits als wir uns am Morgen nach einem kargen Frühstück hier einfinden, hören wir ein entschlossenes: „Tickets!“ Man erkennt euch sofort, meint die sinnliche Verkäuferin mit den Lavaglühenden Augen, die hinter der Theke steht. Manche Italienerinnen haben einfach das gewisse etwas und belehren mich wieder einmal, dass es egal ist, wie alt man ist; Frau bleibt man sein Leben lang. Sie selbst wird die Vierzig weit überschritten haben.
Aber zurück zum eigentlichen Thema; zu Kasia und Stefan, die ein paar Minuten später kopfwackelnd im halb vollen Bus stehen und sich punktuell Richtung Fährhafen bewegen. In den Bussen wie auch auf den Vaporetti herrscht in Italien Maskenpflicht. Es wird penibel darauf geachtet und es gibt, im Gegensatz zu uns, keinen, der meint, sich weigern und diskutieren zu müssen. Auch wenn ich die Maske am offenen Deck der Fähre, wo der Wind sie einem fast aus dem Gesicht bläst, etwas witzbefreit finde: es macht niemand auch nur den Versuch, sie abzunehmen. Nicht wie bei uns, wo selbst im Hotel am Büffet so mancher meint, seinen Mundschutz mal „zu vergessen“ und anderen fröhlich ins Essen aerosoliert.
In einiger Entfernung von uns tauchen die ersten Inseln auf. Wir befinden uns bereits mitten in der Lagune und Venedig ist von Punto Sabioni bereits sichtbar. Trotz allem fahren wir nicht den geraden Weg, wir fahren erst einmal Lido an.
Bei der langgezogenen Insel kommt einem erst einmal Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ in den Sinn. Die Handlung dieses Buches spielte sich in erster Linie in dem inzwischen geschlossenen Grand Hotel des Bains ab. Ansonsten ist Lido als entspannter Badeort bekannt, weitab von Venedigs Touristenmassen. Hier auf der Insel sind auch Autos zugelassen. Badestrände ziehen sich auf der anderen, uns rückwärts gewandten Seite entlang.
Jedes Jahr werden auf Lido die Filmfestspiele ausgetragen, einst im Grand Hotel Excelsior. Es ist die Luxusadresse der Insel und Hollywoodstars sollen hier regelmäßig verkehren.
Mir fallen in erster Linie die verrosteten Industrieanlagen am Rande der Insel auf, sowie die etwas herunter gekommen wirkenden Häuser. Der Eindruck wird allerdings besser, je näher wir der Vaporetti-Station und somit dem Zentrum kommen. Doch sogesehen hat Lido nichts, was mich in der Vergangenheit als auch heute dazu angehalten hätte, hier Zeit zu verbringen. Und so lassen wir die Insel unberührt und fahren weiter.
Venedigs Inseln
Venedig besteht nicht nur aus der berühmten Stadt mit ihren Museen, ihrem Dogenpalast und den gestreiften Gondolieri, die der gemeine Besucher kennt. Was vielen nicht bewusst ist: Venedig, das sind auch die vielen Inseln außen herum wie die Glasinsel Murano, Torcello mit seinen byzantinischen Mosaiken, Burano mit gestickten und gewebten Stoffwaren und fröhlich bunten Häusern, der Klosterinsel San Giorgio Maggiore. Um nur einige zu nennen. Jeder einzelnen dieser Inseln wurde ein Verwendungszweck zugewiesen: auf der Friedhofsinsel Sankt Michele wurden die Toten von Venedig bestattet, auf der Gemüseinsel Sankt Erasmo wurden Nahrungsmittel für die Lagune angebaut. Es war ein sehr gut organisiertes Reich.
Als wir die Fähre verlassen, hantiere ich erst einmal mit meiner Kamera herum. Stefan hilft mir, so gut er kann. Meine Sony Alpha habe ich erst neu; ich hätte das Ding bereits zu Hause konfigurieren müssen. Learning by doing eben. Schließlich sind die Einstellungen drin und die ersten Bilder im Kasten.
Leicht enttäuscht bin ich trotzdem. Obwohl längst nicht so viel los ist wie in anderen Jahren um die Zeit, so sind doch ziemlich viele Leute unterwegs. Zerschlagen meine Hoffnung, ich könnte die Stadt einmal von einer anderen Seite sehen. Ihr geheimnisvolles Gesicht. Venedig menschenleer. Oder zumindest beinahe. Stefan zeigte mir noch zu Hause Webcam-Aufnahmen vom Markusplatz, auf dem kaum Menschen zu sehen waren. Doch das ist nicht mehr so, die Besucher werden mehr.
Sightseeing
Dabei wächst in mir der Wunsch, die Stadt mal von ihrer unschönen Seite zu betrachten, zu sehen, wie der Nebel von den Kanälen aufsteigt, wie es kalt ist und ungastlich. Wie die Gondeln eingemottet vor sich hin schaukeln und nichts mehr an Venedig, die herausgeputzte Dirne erinnert, die sich an Kreuzfahrtschiffsfahrer prostituiert. Doch dafür müssten wir zu einer ungastlichen Jahreszeit kommen, November oder Dezember zum Beispiel. Doch vielleicht jage ich nur nach einem Phantom, einer Wunschvorstellung einer morbiden Stadt, aus Romanen wie „Der Tod von Venedig“ von Thomas Mann entwachsen. Zu idealisiert das Bild in meinem Kopf, vielleicht werde ich das nie erreichen.
Der Markusdom ist beeindruckend. Im Grunde wie aus einem Märchen entnommen, denke ich und mache meine Bilder. Betrachte die bunten Glasmosaiken, die Verzierungen. Die meisten Mosaiken und Verzierungen stammen aus dem 13 Jahrhundert.
Beim Hochwasser in November 2019 wurde der Dom im Innern schwer beschädigt, die Restaurierungsarbeiten laufen noch bzw. wurden wegen Corona momentan ausgesetzt. Auch ist der Markusdom aktuell für Besucher geschlossen.
Dann versinken wir in den Seitengassen der Stadt. Halten bei einer netten Eisverkäuferin. Marschieren weiter mit dem besten Eis der Welt (in Italien kriegt man an jeder Ecke das beste Eis der Welt…). Betrachten die morschen Wände, dort, wo nicht immerzu restauriert wird. Das salzige Lagunenwasser frisst sich tief in die Eingeweide der Stadt und bringt alles zum korrodieren: Holz, Metall; es spült Mauern aus, unterspült alles. Still ist es in manchen Kanälen, nur das Plätschern des Wassers gegen die grün angelaufenen Wände ist zu hören. Venedig kann auch still sein.
Die Gassen sind verwinkelt, das weiß jeder, der einmal dort war. Am besten, man bringt viel Zeit mit und beginnt, sich dort zu verlaufen. Schauen, wohin sie einen führen. Was man da alles findet. Mehr zu sehen als nur den Markusplatz und die Rialtobrücke.
Was nicht heißt, dass wir das so machen. Nicht dieses Mal. Dieses „alleine durch dunkle Ecken streifen“ klappt besser, wenn ich alleine bin, denn mein Schatz lässt sich schnell von Dingen verführen, die eine gemütliche Sitzgelegenheit und einen Cappuccino versprechen.
Eine Gondelfahrt
Diesmal verführt uns ein Gondolieri. „Es ist ruhig im Moment, es ist Mittagszeit.“ Lockt er. „Alle sind beim Essen: jetzt ist der beste Moment für eine Fahrt mit der Gondel.“ Stefan, der bereits bei seinem Anblick stehen geblieben ist, lässt sich nicht lange überreden. Wir haben im Vorfeld darüber gesprochen, dass wir das einmal machen wollen. Der Gondolieri hat sympathische Augen, wir lassen uns breitschlagen.
Halbe Stunde mit der Gondel kostet achtzig Euro pro Fahrt, egal, wie viele Personen mitfahren.
Das Fahren der Besucher in Gondeln ist ein Traditionsgeschäft, erzählt uns der Mann. Das Gewerbe, sowie die Gondeln, werden von Vater auf den Sohn vererbt. Wobei – den Beruf erben kann man ohne eine offizielle Ausbildung und Prüfung auch nicht.
Das Steuern einer Gondel erfordert Sicherheit und Erfahrung. Nach circa anderthalb Jahren Ausbildung wird der Anwärter in die Genossenschaft der Gondolieri aufgenommen. In diesem Jahr war es ein schlechtes Geschäft für die Gondolieri.
Kaum eine andere Gondel kommt uns in den Kanälen entgegen. Manchmal überholt uns ein Motorboot. Motorboote machen alles hier in Venedig, es gibt Mühlboote, die etwas robusten Handwerkerboote, die edlen, mit Holz verkleideten Wassertaxis. Später werden wir noch ein quietschgelbes DHL-Postboot zu sehen bekommen.
Ansonsten sind wir alleine. Der Gondolieri macht uns auf Besonderheiten wie Paläste, Museen oder Wohnorte berühmter Persönlichkeiten aufmerksam. „In diesem Haus wohnte Thomas Mann.“ Sagt er und zeigt mit der Hand nach rechts. „Und hier“, erklärt er uns kurze Zeit später, „lebte der berühmte Giacomo Casanova.“ Casanova? Ich spitze die Ohren und hebe die Kamera. Der Lebemann, auf dessen Konto inoffiziell einige Tausend Frauen gingen, wenn man den Schätzungen glauben will. Hatte der Gute zwischendurch noch die Zeit, sich am Kopf zu kratzen?
Leise plätschert das Wasser, ein muffiger Geruch steigt von manchem Winkel auf. Man kann nicht erwarten, dass eine Stadt auf dem Wasser nicht hier und da ein bisschen riecht. Still gleiten wir unter Brücken hindurch und ziehen die Aufmerksamkeit von Touristen auf uns, die uns fotografieren. Der Mann steuert die Gondel geschickt übers Wasser; millimetergenau manövriert er das sperrig wirkende Boot um enge Stellen und Winkel herum und an parkenden Gondeln vorbei. Dabei wirkt das, was er tut, wie chirurgische Präzisionsarbeit, denn es sind buchstäblich Millimeter links vom anderen Boot und rechts von der Hausmauer entfernt. Zu keiner Zeit streift die Gondel das eine oder das andere und der Gondolieri wirkt dabei so mühelos, als würde er im Schatten eines Baumes eine Pfeife rauchen.
„Mal einen Cappuccino…“
Es war eine schöne Fahrt. Zu Fuß erreichen wir die Rialtobrücke und ich freue mich nun darauf, die Tiefen der Stadt zu Fuß zu erkunden, abseits der ausgelatschten Wege. Doch mein Liebster hat da andere Pläne, denn er steuert den nächsten Kaffeeladen an. „Mal einen Cappuccino trinken.“ Sagt er und schon kleben unsere Hintern auf den Stühlen.
Ich möchte meinen Kaffee schwarz und bestelle daher Cafe Crema. Ein Fehler, wie sich herausstellt. Schockiert betrachte ich das Getränk, welches dann vor mir steht, während Stefan vor Lachen fast vom Stuhl fällt. Es ist ein cremiger und äußerst leckerer Eiskaffee. Dabei wollte doch nur einen Kaffee ohne nix! Seufzend ergebe ich mich meinem Schicksal und löffle an der Köstlichkeit.
Später an den Vaporetti-Abfahrtsplänen. Wir sind verwirrt und während ich dafür plädiere, einfach einzusteigen, hält mir mein Liebster einen langen Vortrag darüber, warum wir genau das nicht tun sollten. Er steht da und studiert die Pläne, zerrt mich von einer Abfahrtsstelle zur nächsten und ich sehne mich nach ein wenig Spontanität und Abenteuer. Nachdem wir auch noch nach weiteren fünfzehn- bis zwanzig Minuten immer noch da stehen und überlegen, platzt mir schließlich der Kragen. Wir haben doch die 24 Stunden Tickets, wieso nicht mal etwas wagen und schauen, wo uns die Fähre hinbringt?
Irgendwann sitzen wir auf der Fähre nach „Hause“ zum Punta Sabioni. Das sonnige Wetter hat umgeschlagen und der kalte Wind bläst uns ins Gesicht, während wir uns Hassbekundungen und Tötungsabsichten an den Kopf werfen.
Wir schaffen es, anzukommen, ohne dass einer von uns beiden am Meeresgrund bei den Fischen liegt. Doch wir haben einen Plan. Wir wollen noch einmal hierher kommen, über Weihnachten. Wenn Venedig leer ist. Und ungastlich. Und die aufgebauten Holzstege auf dem Markusplatz dafür sorgen, dass das kalte Lagunenwasser nicht die Füße umspült. Dann werden wir uns direkt in einem der schicken Hotels im Zentrum der Altstadt einquartieren.
Und täglich grüßt die Dame aus Berlin…
Am Campingplatz ist es fast windstill. Ich hole mein angefressenes, eingewickeltes Stück der venezianischen Pizza Calzone raus und wir köpfen die Flasche Chianti, die wir im örtlichen Supermarkt gekauft haben. Ein romantischer Abend bahnt sich an. Die Sonne scheint wieder sanft und schüchtern zwischen den Wolken und den Pinienzweigen hindurch. Und noch immer haben wir uns gegenseitig nicht getötet.
Unser Abend zu zweit wird jäh von der alten Berliner Dame von nebenan unterbrochen, die mit ihrem Mann in unmittelbarer Nachbarschaft campiert. Fröhlich beseelt eilt sie auf uns zu und verwickelt mich in einen zweistündigen Plausch. Und wieder senkt sich die Sonne zwischen den Zweigen der Pinien, während mir die Berlinerin die Geschichten ihres Lebens erzählt.
Als sie wieder geht, ist es dunkel und kalt geworden und wir räumen unseren romantischen Tisch wieder zusammen. Stefan sieht enttäuscht aus.
Quellen: www.planet-wissen.de, wikipedia, süddeutsche zeitung