Kleiner Stern
Im Dunkel scheint dein Licht.
Woher, ich weiß es nicht.
Es scheint so nah und doch so fern.
Ich weiß nicht, wie Du heißt.
Was Du auch immer seist:
Schimmere, schimmere,
kleiner Stern!
Irisches Kinderlied
Der Traum
Eine Unterführung, dunkel und kalt. Auf der anderen Seite ist ein langer, einsamer Feldweg zu sehen, der sich zwischen hohen Bäumen windet. Nie will ich diese Unterführung überqueren und wenn ich es tue, dann nur zögerlich, um dann so schnell wie möglich auf die andere Seite zu kommen. Dort gibt es zwar nichts, was auf mich wartet. Nichts Greifbares. Die Unterführung und ihre Dunkelheit ist wie die Angst selbst.
Doch auch die andere Seite ist nicht verlockend. Einsam und lang windet sich der Weg. Direkt dahinter kommt ein kleiner Hügel. Die Blätter der Bäume rauschen im Wind. Es ist niemand da außer mir. Der weiße Lieferwagen taucht auf. Doch umdrehen ist auch keine Option, ich weiß, ich muss da durch und weiter. Ich muss mein Zuhause erreichen. Es ist mein Weg von der Schule.
Ein Riss in der Realität. Neue Szenerie. Ein großer Hof mit roten Dächern. Der Silo überragt alle restlichen Gebäude. Im hinteren Teil der Anlage befindet sich ein grüner, undurchsichtiger Teich, von Bäumen umringt, von außen nicht einsehbar. Das stehende Wasser ist grün, muffig und trüb. Um diesen Teich streife ich umher. Unerkannt. Unbemerkt. Niemand soll mich sehen, denn ich sollte nicht mehr hier sein. Es ist nicht mehr „mein“ Ort, es ist nicht meine Zeit. Es ist die Vergangenheit und ich bin nur ein Geist darin.
Und dann sehe ich sie. Große Frösche, die mitten auf meinen Weg stehen. Sie sitzen seitlich des Weges. Sie sind unnatürlich riesig und rufen einen Ekel in mir hervor. Ich laufe weg.
Ich streife im Hain umher. Apfelbäume wachsen hier und hohe Gräser. Eine ruhige, schöne Umgebung, doch auf mich wirkt alles wie vergiftet. Es ist Abend und auch jetzt bin ich bemüht, unsichbar zu bleiben, wohl wissend, dass ich hier nichts mehr zu suchen habe. Nicht eingeladen, nicht gefragt und auch nicht gewollt. Und trotzdem wieder da. Obwohl ich alldem eigentlich entwachsen sein müsste.
Ich selber weiß nicht, warum sich mein Geist immer wieder hierher verirrt, zurück an diesen Ort. Wie ein Echo. Es ist alles so lange her.
Ob sie mich nachts als Gespenst dort umherstreifen sehen? Während ich, Jahrzehnte später, zufrieden in meinem eigenen Bett vor mich hin schlummere?
Von weitem sehe ich Menschen, gehe ihnen aus dem Weg. Und immer, wenn die Szene wechselt, ist es, als durchzöge ein Riss die Realität, als würde sie einreißen wie Foto auf Papier. Ich bin in einer Wohnung.
Es ist nicht irgend eine Wohnung, es ist der Ort, an dem ich so viele Jahre meiner frühpubertären Kindheit verbrachte. Diese Wohnung ist ein Ort, von schlechter Energie durchzogen, ein Ort, an dem ich nie wieder zurückkehren wollte. Doch was mache ich dann hier? Tagsüber, wenn alle anderen auf der Arbeit sind, drücke ich mich in diesen Zimmern herum. Ich bin so leise wie ich kann, hoffe darauf, nicht entdeckt zu werden. Verlasse die Räume sofort, sobald ich Schritte draußen höre. Damit mich niemand mehr zwingt, für immer hier zu bleiben.
Diesen Ort gibt es wirklich
Diesen Ort, diesen Hof gibt es wirklich. Es war der erste Ort, an den ich nach Verlassen meines Heimatlandes kam. Die Gegend war die erste, die ich kennenlernte und die ich für mich als „Deutschland“ definierte. Die weiten Felder und Hügel in der Ferne. Auf dem charakteristischen, gleichmäßigen Berg die Starkenburg, die sich über Heppenheim und der Bergstraße erhebt. Eine Landschaft, so akkurat und gerade, so korrekt wie sie nur die deutschen Eigenheiten spiegeln kann. „Als hätte sie jemand am Lineal abgemessen.“ Dachte ich mir damals.
Als wäre ich wieder in meinem Traum gefangen. Zum wiederholtem Male in diesem Traum gefangen.
Ich war das seltsame Kind vom Bauernhof. In Heppenheim mit seiner Burg bin ich zum ersten Mal eingeschult worden.
Ob ich angekommen bin?
Im Vergleich zu damals, als ich ein schüchterner, unfertiger, unsicherer Teenager war, ein Kind, herausgerissen aus der vertrauten Umgebung, bin ich eine selbstbewusste Frau geworden.
Und doch streift mein Geist noch immer in meiner Kindheit umher.
All das, was mich umgibt, jeder Ort ist wie ein Mosaikstein meines Lebens. Ich werde mit den Bruchstücken meiner Vergangenheit konfrontiert, immer und immer wieder. Wenn ich unterwegs bin. Meine Arbeit bringt mich immer wieder an diese Orte, an denen ich jeweils einen Teil meines Lebens verbrachte. Weil ich beruflich in dieser Gegend zu tun habe. All meine Kindheit und Jugend hat sich um die Bergstraße herum abgespielt, dann schließlich nach Mannheim verlagert. Doch weiter weg ging ich nie.
Doch nun ist es das Gebiet, welches ich bereise und immer wieder berühre ich die Mosaiksteine meines Lebens. Und jedes von ihnen, jeder Ort, versetzt mich schlagartig in eine andere Zeit. Jeder Ort ist wie ein geschlossenes Universum für sich. Jeder Ort erinnert an etwas.
Ist „erinnern“ der richtige Ausdruck?
Jeder dieser Orte ist eine geschlossene Zeitkapsel. Katapultiert mich zurück. „Erinnern“ ist zu wenig. Es definiert nicht das, was es mit mir macht.
Ob ich angekommen bin?
Ich denke schon. Hier hat alles begonnen. Und hier hat mir meine erste deutsche Klassenlehrerin, Frau Schreck, zum Schulbeginn ein Gedicht in die Hand gedrückt und ein paar warme Worte gesagt. Dieses Gedicht habe ich zu Anfang nicht verstanden, genauso wenig wie das, was sie sagte. Doch das Gedicht habe ich immer noch, geschrieben auf grauem Papier, mit einem kleinen, golden glänzenden Sternchen in der Ecke des Blattes.
Im Dunkeln scheint dein Licht…
Es waren die ersten Worte, mit denen man mich hier willkommen hieß.
Und jetzt bin ich da.